Dramatisch sind nicht nur die Krisen, die wir erleben. Dramatisch im Wortsinne sind auch die Krisendiskurse, die eine tödliche Bedrohung des eigenen Lebens, des eigenen Planeten, des eigenen Volkes beschwören – und „entschiedenes“ Handeln jenseits des Rechtsstaates, ja jenseits der Politik fordern.

Der menschen­ge­machte Klima­wandel ist nicht zu bestreiten. Wer hätte noch vor 20 Jahren gedacht, dass solche Extreme möglich sind? Dass es sich so aufheizen könnte. Dass das Eis so wegbricht. Dass die Grund­lagen unserer Exis­tenz gefährdet sind. Dass wir ums nackte Über­leben kämpfen müssen. Dass die Fluten immer größer werden und uns das Wasser bald bis zum Hals steht. Dass die Krise zum Dauer­zu­stand wird. Dass wir uns auf die poli­ti­schen Insti­tu­tionen nicht mehr verlassen können. Dass wir alle selber Verant­wor­tung tragen und handeln müssen. Dass nur eine globale Anstren­gung uns noch helfen kann. Dass wir zu radi­kalen Schritten bereit sein müssen. Dass wir uns Stan­dards nicht mehr leisten können. Dass wir im prä-apokalyptischen Ausnah­me­zu­stand leben. Dass die Gefahr immer größer wird. Dass wir uns zu sichern, zu schützen und zu wappnen haben. Dass wir harte Entschei­dungen treffen müssen. Und dass wir dabei womög­lich auf vieles von dem verzichten müssen, was wir die Errun­gen­schaften der Moderne nennen.

Das Drama­ti­sche dieser Aussagen liegt nicht in der Krise, die sie zu bezeichnen vorgeben, sondern im Konsens, den sie stiften. Ihre Rhetorik ist so omni­prä­sent wie flexibel: Erder­wär­mung, Terror, „Über­frem­dung“ – jede der heutigen ‚Krisen‘ kann in dieser Weise ange­spro­chen und beschrieben werden. Der Konsens besteht in der Erwar­tung einer exis­ten­zi­ellen Bedro­hung und in der Auffor­de­rung zur finalen Rettung. Und seine Logik wird umso plau­si­bler, je mehr die Krisen in Konkur­renz zu einander stehen.

Die Struk­tur­äqui­va­lenz der Krisendiskurse

Nehmen wir die beiden Krisen, die gegen­wärtig wohl den schärfsten Gegen­satz bilden, während sie zugleich von immer mehr Menschen als die jeweils ulti­ma­tive Gefahr betrachtet werden: die Erder­wär­mung und die „Über­frem­dung.“ In Deutsch­land werden diese Krisen je für sich von genau den beiden Parteien ins Zentrum ihrer Politik gestellt, die in den letzten fünf Jahren als einzige in der Lage waren, sowohl ihre Wähler­stimmen als auch ihre Mitglie­der­zahlen zu verviel­fa­chen: von den Grünen und von der AfD. Deren jewei­ligen Grund­werte und Posi­tionen könnten frei­lich nicht weiter ausein­an­der­liegen: Kosmo­po­li­tismus, Soli­da­rität, globale Verant­wor­tung und ein Rest­be­stand linker Gerech­tig­keits­kultur auf der einen Seite, Parti­ku­la­rismus, Natio­na­lismus, Chau­vi­nismus und ein anti-globales ‚Zurück zu den Wurzeln‘ auf der anderen. Zudem pflegen die Grünen von allen Parteien immer noch am deut­lichsten eine anti­ras­sis­ti­sche Grund­hal­tung, während umge­kehrt die AfD von allen Parteien die einzige ist, die noch hart­nä­ckig den Klima­wandel leugnet. Es geht hier also keines­wegs um die Behaup­tung irgend­wel­cher inhalt­li­cher Wahl­ver­wandt­schaften oder auch nur Ähnlich­keiten. – Aber es geht um die Struk­tur­äqui­va­lenz von Krisendiskursen.

Retten, schützen, sichern, bewahren, vertei­digen – das Klima, die Natur, die Heimat, das Volk – uns! Krise und ‚Gefähr­dung‘ sind derzeit wohl die erfolg­reichsten Motive poli­ti­scher Rhetorik wie auch poli­ti­schen Enga­ge­ments. Doch nur in Rand­be­rei­chen des poli­ti­schen Spek­trums, im rechts-identitären Lager oder im radikal-veganen Milieu, korre­spon­diert ‚Gefähr­dung‘ noch klas­sisch mit der Vorstel­lung von ‚Verun­rei­ni­gung‘. Vorherr­schend ist viel­mehr ihre Verknüp­fung mit dem Motiv der ‚Rettung‘. In der echten Krise ist die Gefahr nicht mehr schlei­chend, sondern ulti­mativ. Was droht, ist der tatsäch­liche Unter­gang des Eigenen – des eigenen Lebens, des eigenen Planeten, der eigenen Heimat, des eigenen Volkes, der eigenen Werte, der eigenen Kultur. Und eben das erfor­dert ein radi­kales Handeln, ein Handeln, das Neues wagt, sich von vergan­genen Erfah­rungen befreit und endlich dras­tisch eingreift – denn es geht ums Überleben.

Der Konsens hinter den heutigen, in jeder anderen Hinsicht konkur­rie­renden, ja sich gegen­seitig ausschlie­ßenden Krisen­dis­kursen ist die Über­zeu­gung vom aktu­ellen Ausnah­me­zu­stand: eine Bedro­hung, die so exis­ten­ziell ist, dass die herkömm­li­chen Mittel und Wege der Krisen­be­kämp­fung, der Konflikt­lö­sung und des kommu­ni­ka­tiven Handelns von vorn­herein hilflos und inef­fektiv erscheinen. Damit fällt die Verant­wor­tung von den legi­timen Insti­tu­tionen zurück an die legi­ti­mie­rende Gesell­schaft. Alle Macht geht vom Volke aus. Das primäre Instru­ment der Krisen­be­wäl­ti­gung ist die Selbst­er­mäch­ti­gung. Demo­kratie und Gesell­schaft müssen in ihren vor-institutionellen Rohzu­stand zurück­kehren, um aus ihm die Kraft zur Bewäl­ti­gung der Krise zu finden. Das sekun­däre Instru­ment dieser Bewäl­ti­gung ist dann die direkte Aktion: Ein unmit­telbar die Bedro­hung betref­fendes Handeln, das, befreit von den herge­brachten Struk­turen, Regeln und Normen, notwendig effektiv sein muss. Die Welt ist machbar, Herr Nachbar.

Die Logik der Selbstermächtigung

Die Logik von ulti­ma­tiver Bedro­hung, Ausnah­me­zu­stand, Selbst­er­mäch­ti­gung und Welt­neu­schöp­fung ist so alt wie das 20. Jahr­hun­dert. Doch war sie in dieser Epoche noch an über­grei­fende Ideo­lo­gien, Systeme und Visionen der Welt­herr­schaft gebunden. Heute kehrt sie als Mode des poli­ti­schen Denkens selber wieder – losge­löst von Zukunfts­vi­sionen und allein auf die Abwehr der jewei­ligen Bedro­hung fokus­siert. Sicher gab es Vorläufer und Über­gangs­phä­no­mene: vom ameri­ka­ni­schen Anti­kom­mu­nismus über die bundes­re­pu­bli­ka­ni­sche Sicher­heits­ob­ses­sion bis zu den ersten Diagnosen des Club of Rome. Doch im alltags­po­li­ti­schen Diskurs jenseits partei­po­li­ti­scher Grund­sätze hat sich die Logik der exzep­tio­nellen Bedro­hung wohl erst im Gefolge des 11. September 2001 festgesetzt.

Es war der regel­mäßig „gegen die gesamte freie Welt“ gerich­tete Terror, der uns ernst­haft über Flug­zeug­ab­schüsse, Präven­tiv­haft, Komplett­über­wa­chung und Folter als legi­time, weil notwen­dige Maßnahmen disku­tieren ließ. Seitdem reden wir immer wieder von den Grenzen, an die unser Rechts­staat stoße. Von Heraus­for­de­rungen, die er nicht mehr bewäl­tigen könne: Terror, Flücht­linge, orga­ni­sierte Krimi­na­lität, Paral­lel­ge­sell­schaften – aber auch: Klima, CO₂, Fein­staub. Rettung, so die Impli­ka­tion, ist nur im Rück­gang auf die vorpo­li­ti­schen Grund­lagen des Poli­ti­schen möglich: auf die Gesell­schaft, die Bevöl­ke­rung, den Einzelnen.

Hinzu kommt, dass eben dieser vorpo­li­ti­sche Raum in den digi­talen Medien eine neue Form des massen­haften Ausdrucks gefunden hat. Was zur Folge hat, dass die eigent­lich politisch-öffentlich zu disku­tie­renden und zu lösenden Probleme in diesen halb-privaten Raum vorpo­li­ti­scher Meinungs­bil­dung und laufender Skan­da­li­sie­rungs­schleifen hinein­ge­sogen werden. Und die Haupt­bot­schaft dieser ‚medialen Dauer­er­re­gung‘ lautet: Es geht um uns! Wir sind bedroht und nur wir können die Gefahr abwenden; nicht der Staat, nicht seine Insti­tu­tionen und erst recht nicht die Poli­tiker – nur wir, die wir jetzt endlich mal ‚gehört‘ werden müssen. Das ist die base-line der poli­ti­schen online-Kommentare, Chats und Foren. Sie erzeugt nicht nur Aggres­sion und Ressen­ti­ment, sondern auch jene struk­tu­relle Blind­heit gegen­über einer Wirk­lich­keit jenseits der eigenen Überzeugung.

In diesem vorpo­li­ti­schen Raum geraten Fakt, fake und Fiktion heillos durch­ein­ander, werden Gegen­sätze abge­schliffen, Unter­schei­dungen hinfällig und Einsichten frei verfügbar für jede Art ihrer Entstel­lung. Wenn sich Apoka­lyp­tiker wie Leugner des menschen­ge­machten Klima­wan­dels hier in einmü­tiger Wissen­schafts­gläu­big­keit auf allerlei Studien und ‚objek­tive Erkennt­nisse‘ berufen oder wenn man sich im erbit­terten online-Streit über Flücht­linge, Rassismus und Huma­nität schließ­lich darauf einigt, dass die Poli­tiker alles falsch machen, weil sie die ‚Ursa­chen der Flucht‘ nicht bekämpfen – dann hat das bei aller Keilerei vor allem einen Effekt: Die Krise wird Konsens.

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Es ist viel­leicht nicht zuletzt dieser, alle wirk­li­chen Diffe­renzen abschlei­fende und damit konsens­för­dernde Dauer­streit, der zum publi­zis­ti­schen Erfolg des rassis­ti­schen Mythos von der ‚Selb­st­ab­schaf­fung Deutsch­lands‘ führte oder auch erklärt, warum die AfD in Bran­den­burg derzeit unver­blümt mit Willy Brandt Werbung machen kann: „Mehr Demo­kratie wagen!“ Jeden­falls ist es nur ein kurzer Weg von dieser freien Verfüg­bar­keit von Sprache und Geschichte zum fiktio­nalen Dauer­get­witter eines Trump oder Salvini. Doch die Über­zeu­gung, schlicht im Besitz der Wahr­heit zu sein und deshalb ein sofor­tiges Handeln jenseits poli­ti­scher Entschei­dungs­ver­fahren fordern zu können – eben das teilt der Rechts­po­pu­lismus mit ganz anderen Bewe­gungen: Die Leit­for­meln der Extinc­tion Rebel­lion, der etwas radi­ka­leren Vari­ante von Fridays-for-Future, lauten: „Tell the truth! – Act now! – Beyond Politics!“

Die Dele­gi­ti­mie­rung des Rechtsstaates

Man kann es kaum bestreiten: Neben dem ökolo­gi­schen findet seit fast zwanzig Jahren noch ein ganz anderer Klima­wandel statt, ein Prozess der gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Dele­gi­ti­mie­rung moderner Recht­staat­lich­keit und moderner Problem­lö­sungs­ver­fahren zugunsten eines immer enthemm­teren vorpo­li­ti­schen Aktio­nismus. Die heutigen Krisen, allen voran Terror, Klima und „Über­frem­dung“, erzeugen eine immer aggres­siver sich arti­ku­lie­rende Skepsis gegen­über eben jenem poli­ti­schen System, dessen globaler Sieg nach dem Mauer­fall – viel­leicht naiv – noch gefeiert wurde. Und diese Skepsis wird, bei aller gesell­schaft­li­chen Spal­tung, allmäh­lich Konsens – abzu­lesen unter anderem auch an den häufiger zu lesenden Versu­chen, alle Krisen zu einer zu machen und etwa den Klima­wandel zur Haupt­ur­sache der Migra­tion zu erklären.

Was aber, so ließe sich einwenden, wenn manche dieser Krisen, alle zusammen oder womög­lich noch andere, kommende (Stich­wort: Wasser­ver­sor­gung), in der Tat eine Qualität besitzen, welche die Problem­lö­sungs­ka­pa­zi­täten der gege­benen poli­ti­schen und insti­tu­tio­nellen Ordnung sprengt und den modernen ‚Rechts­staat über­for­dert‘, wie es beim Fein­staub ebenso hieß wie nach der Kölner Silves­ter­nacht? Wäre dann nicht ernst­haft eine Neuerfin­dung oder zumin­dest Neuaus­rich­tung der demo­kra­ti­schen Staats­ord­nung nötig? Hier kommt es darauf an, welche Rich­tung eine solche Anpas­sung der demo­kra­ti­schen Ordnung an neue Verhält­nisse einschlägt. Popu­lis­ti­sche und andere Visionen der poli­ti­schen Selbst­er­mäch­ti­gung jenseits der gege­benen poli­ti­schen Struk­turen sehen in ihrem anti-institutionellen Affekt meist selber schon das notwen­dige und ausrei­chende Moment von Befreiung, Verän­der­bar­keit und Mach­bar­keit. Doch gerade die ‚Krisen‘ und Phäno­mene, die uns wohl noch eine Weile begleiten werden, wie der Klima­wandel oder die Migra­tion, sind eben nicht im pseudo-revolutionären Hauruck­ver­fahren zu hand­haben. Sie bedürfen einer lang­fris­tigen und das heißt vor allem: einer verfassten Rege­lung, auf die man sich berufen kann. Das wiederum erfor­dert echten Streit und echte Debatten über diese Regeln – und nicht vorpo­li­ti­sche Dauererregung.

Wird demge­gen­über eine Krise für so exis­ten­ziell erklärt, dass alle verfassten Regeln zur Dispo­si­tion stehen und eine Lösung eigent­lich nur jenseits dieser Regeln denkbar erscheint, tendiert das fast auto­ma­tisch zur Ideo­logie und zum auto­ri­tären Phan­tasma der Neuschöp­fung einer ganz anderen, echten Ordnung. Was etwa wäre, wenn der Rechts­po­pu­lismus, entgegen seiner bishe­riger Leug­nung, sich des Klimathemas annehmen, in alter völki­scher Tradi­tion die Rettung der Heimat mit der Rettung der Natur und beides mit dem Anspruch verbinden würde, jetzt endlich mal aufs Volk zu hören? Man mag sich die Entwick­lung der Zustim­mungs­werte gar nicht ausmalen. Diese hinter­grün­dige ‚Gefahr‘ sollte man nicht vergessen: Wenn die exis­ten­zi­elle Krise zum Konsens wird, ist fast schon erreicht, was Ortega y Gassett einmal den struk­tu­rellen Beginn der Barbarei nannte: „Die Abwe­sen­heit von Berufungsinstanzen“.