Er sagt mir, was ich wählen soll, der „Wahl-O-Mat“. Dieses „interaktive Wahltool“ stellt die der politischen Aufklärung und Bildung verpflichtete und von der deutschen Bundesregierung geförderte „Bundeszentrale für politische Bildung“ (bpb) den Bürgerinnen und Bürgern zur politischen Meinungsbildung zur Verfügung. Bei der letzten deutschen Bundestagswahl haben über 13 Millionen Wählerinnen und Wähler den Wahl-O-Mat als Entscheidungshilfe genutzt. In diesem Jahr wird damit gerechnet, dass möglicherweise bis zur Hälfte aller Wahlberechtigten auf die voting advice app zugreifen könnte, die seit dem 30. August freigeschaltet ist.
Das Prinzip ist denkbar simpel: 38 strittige Themen werden auf 38 Kurzaussagen reduziert, die zunächst den Parteien vorgelegt werden. Diese machen dann genau das, was auch die Nutzer später tun werden. Sie stimmen den Aussagen zu, sie stimmen ihnen nicht zu oder erklären sich für neutral. Daraus entsteht ein Datensatz, der mit den Angaben der einzelnen Wählerinnen und Wähler verglichen wird. Diesen Abgleich kann man mit bis zu acht der 32 antretenden Parteien variabel durchführen. Der Wahl-O-Mat errechnet dann in Prozentsätzen das jeweilige Maß an Übereinstimmung mit den ausgewählten Parteien.
Klick-Demokratie oder Klick-Populismus?
Die Bundeszentrale bewirbt den Wahl-O-Mat als ein Instrument der politischen Bildung, das anti-populistisch funktioniere, da es nicht um Politikerpersönlichkeiten und Slogans, sondern nur um politische Inhalte gehe. Nun, schauen wir uns vier kurze Beispiele mit den jeweiligen Positionen der sechs Parteien an, die voraussichtlich in den deutschen Bundestag einziehen werden. 1. Aussage: „Anerkannten Flüchtlingen, die sich Integrationsmaßnahmen verweigern, sollen die Leistungen gekürzt werden“ – Zustimmung bei CDU, SPD, FDP und AfD. Nur die Linke ist dagegen und die Grünen geben sich neutral. 2. Aussage: „In Deutschland soll auch künftig Braunkohle abgebaut werden“ – nur SPD und FDP stimmen zu, die CDU gibt sich neutral, während Linke, Grüne und AfD nicht zustimmen. 3. Aussage: „Die Gesamtzahl der Nutztiere in den landwirtschaftlichen Betrieben einer Gemeinde soll begrenzt werden können.“ Die CDU gibt sich neutral, die FDP lehnt ab, alle anderen sind dafür. 4. Aussage: „Der Völkermord an den europäischen Juden soll weiterhin zentraler Bestandteil der deutschen Erinnerungskultur sein.“ – Alle sechs Parteien stimmen zu.
Wer also ‚integrationsunwilligen’ Flüchtlingen die Leistungen kürzen, weiter Braunkohle fördern, die Zahl von Nutztieren beschränken und an den Holocaust ‚weiterhin’ erinnern will – sollte die SPD wählen. Denn sie ist die einzige der sechs kommenden Bundestagsparteien, die allen diesen Aussagen zustimmt. Wer jetzt sagt, dass eine solche Auswahl von nur vier Thesen die jeweilige Sache unzulässig verkürzt, dem lässt sich frohgemut zurufen: Eben! Denn 38 Aussagen, die zum größten Teil sehr komplexe Themenfelder auf Kurz-Formeln bringen und dann den Wähler zwingen, mit ja, nein oder ‚weiß nicht’ zu reagieren, stellen eine Entstellung der politischen Wirklichkeit und eine massive Verkürzung der parteipolitischen Programme dar. Was genau zum Beispiel bedeutet ‚Verweigerung von Integrationsmaßnahmen’? Was genau sind die klima- und wirtschaftspolitischen Probleme des Braunkohleabbaus? Was hat es mit den Nutztieren auf sich, auf deren Gesamtzahl die Gemeinden achten sollen? Und seit wann bestimmt eigentlich eine Bundesregierung darüber, was Teil der deutschen Erinnerungskultur sein soll? Erst wer diese Fragen informiert und reflektiert beantworten kann, sollte sich auf das Wahl-O-Mat-Ergebnis verlassen – braucht dieses ‚Tool’ dann aber sowieso nicht mehr.
Hotelsuche und politische Selbstfindung

Wahl-O-Mat 2017; Quelle: Handelsblatt.com
In unserer online-Welt mit multiplen Suchfunktionen ist heute wirklich jeder in der Lage, sich innerhalb kürzester Zeit selbstständig über die Position einer politischen Partei zu bestimmten Themen zu erkundigen. Doch so wie man sich heute auf der Suche nach einem Hotel in der eigenen Stadt erst mal durch die globalen Hotelsuchmaschinen durchklickt und am Ende irgendwie überzeugt ist, dadurch bestimmt das beste Angebot gefunden zu haben, so stellt auch der Wahl-O-Mat eine Art Meta-Suchmaschine zur politischen Selbstfindung dar. Nach 38 individuellen Klicks glaubt man, ‘seine’ Partei gefunden zu haben. Die Parteien übernehmen hier die Rolle der Kundenrezensionen im online-Handel: Sie geben ihre Meinung ab, die ich mit meiner Meinung abgleiche – sind am Ende aber selber das Produkt, das ich zu wählen habe. In der realen Welt allerdings, ob im Parlament oder am Stammtisch, würde kein Mensch die 38 Thesen schlicht mit ja, nein oder ‚weiß nicht’ beantworten. Sogar in den schon denkbar simplifizierten Parteiprogrammen steht zu jedem der vom Wahl-O-Mat aufgelisteten Themen sehr viel mehr als nur ja, nein oder neutral.
Zum Beispiel Diesel
Die Bundeszentrale behauptet, der Wahl-O-Mat fördere das politische Bewusstsein insbesondere jüngerer Bürger (die ihn obendrein mit konzipiert haben). Dahinter steckt die Annahme, dass ein Nutzer erst durch den Wahl-O-Mat merkt, um wie viele Themen und Positionen es bei der Bundestagswahl eigentlich geht, und bei der Feststellung, dass ihm ein Drittel der Thesen unverständlich sind, sich erst mal gründlich informieren wird. Doch wie wahrscheinlich ist ein solches Verhalten? Wenn eine These etwa lautet: „Dieselkraftstoff für PKW soll höher besteuert werden“ – was geht da im Kopf der Nutzer wirklich vor? Werden sie sich an die so erfolgreiche wie ökologisch problematische Rolle des Dieselmotors in den letzten 20 Jahren erinnern, an ihr eigenes Auto denken oder daran, mit welchen Tricks die Industrie die Ökobilanzen ihrer Motoren über Jahre gefälscht hat? Oder sind nicht eher Kurzschlussreaktionen zu erwarten wie: „Diesel? Ja, ganz schlimm, unbedingt besteuern!“; oder: „Steuern erhöhen? Auf keinen Fall!“
Ähnlich affektgelenkt fallen dann auch die Begründungen der Parteien für ihre jeweilige Position aus, die sie in maximal 500 Zeichen abgeben durften und die der Nutzer, bezeichnenderweise erst nach dem ersten eigenen Durchgang der Thesen, nachlesen kann. So beginnt die CDU bei der Diesel-These mit dem Grundsatz: „Wir lehnen Steuererhöhungen ab“, um dann auf die sowieso kommende Elektromobilität zu verweisen. Die SPD meint, dass auf dem Weg zu Elektromobilität „der Diesel unentbehrlich“ sei und lehnt eine erhöhte Steuer daher ebenfalls ab. Linke und Grüne dagegen wollen einen „Abbau der existierenden Subventionierungen“ des Dieselkraftstoffs – die Dieselsteuer also offenbar auf ein ‚normales’ Maß anheben. Die FDP hält eine erhöhte Dieselsteuer für „Symbolpolitik“ und verweist auf die viel höhere Luftbelastung durch „Heizungen und Reifenabrieb.“ Und die AfD formuliert zum Thema nur den einen kryptischen Satz: „Die rund um das Auto erhobenen Steuern überschreiten bereits heute den verkehrsaffinen Aufwand der öffentlichen Hand bei weitem“ – und man muss aufs Kreuzchen schauen, um zu verstehen, dass sie keine Dieselsteuererhöhung will.
Politischen Bildung im Twitter-Format
Nach Angaben der Bundeszentrale sehen sich die Hälfte der Wahl-O-Mat-Nutzer diese Kurzbegründungen der Parteien an. Doch wie viel Entscheidungshilfe geben diese ‚Begründungen’, in denen Schlagwortthesen mit Schlagwortthesen erläutert werden? Der eigentliche Effekt dieser politischen Bildung im Twitter-Format ist kaum etwas anderes als die vereinfachte Abgleichung von Angebot und Nachfrage. Der Wahl-O-Mat kann überhaupt nicht politisch informieren oder gar bilden. Vielmehr setzt er bei den Nutzern bereits festgelegte Meinungen zu allen Themen voraus oder legt sie ihnen in denkbar simpelster Form nahe, um dann pseudoautomatisiert anzugeben, welche Partei diesen Positionen am meisten entspricht. Und ‚Position’ meint dabei nicht etwa Meinungsbild, Sichtweise oder gar Argument – sondern schlicht die Unterscheidung zwischen ja und nein. Der Wahl-O-Mat bestätigt also meine vorgefasste Meinung, reduziert sie auf die Frage nach schwarz oder weiss, Freund oder Feind, und knüpft sie an eine Wahlempfehlung. So lernt man Populismus.

Wahl-O-Mat 2017; Quelle: chip.de
Immerhin hat die Bundeszentrale der Präsentation des Ergebnisses eine Art Warnhinweis wie auf Zigarettenschachteln vorangestellt: „Hohe Übereinstimmungen Ihrer Antworten mit mehreren Parteien bedeuten nicht zwangsläufig eine inhaltliche Nähe dieser Parteien zueinander.“ Wer über diesen Satz ein wenig nachdenkt, wird an eine andere, heute aber fast vergessene Art des Wählens erinnert: die Wahl nach politischen Prinzipien und programmatischen Grundsätzen, statt nach tagespolitischen Themen und Meinungen. Wie sähe ein Wahl-O-Mat aus, der die Parteien zwingt, mal kurz zu erklären, was sie unter Freiheit, Konservatismus, Demokratie, Gerechtigkeit, Nation, Sozialstaat oder Europa verstehen? Doch weder die Parteien selbst noch die Medien sind daran interessiert, politische Grundsätze jenseits einer schwammigen links-rechts-Unterscheidung noch verständlich zu machen oder gar zu bewerben.
Vom Wahl-O-Mat bis zum TV-Duell: was zur Diskussion steht, ist zunehmend nur noch das, worüber sich die sogenannte online-community, die sich längst als ‚vox populi’ versteht, tagtäglich auslässt. Daher auch der langweilige Wahlkampf in diesem Jahr: Es wird nur durchgekaut, was sowieso längst durchgekaut wird. Alles Grundsätzliche und Prinzipielle gilt als gefährlich, weil nicht ‚bürgernah’. Ein Grundsatzthema wie die Bildungspolitik taucht deshalb weder im Wahl-O-Mat auf, noch war es Thema im TV-Duell zwischen Merkel und Schulz.
Am 24. September wird zum ersten Mal eine rechtspopulistische Partei in den deutschen Bundestag einziehen. Vielleicht hat das viel weniger mit einem Rechtsruck in der Wählerstimmung als mit einer populistischen Wende unserer Demokratie zu tun. Bei den Parteien wie den Medien sitzt der Schock, 2015 die ‚besorgten Bürger’ ignoriert zu haben, nach wie vor tief. Seit dem bemühen sich die Akteure, die ‘Stimme des Volkes’ möglichst direkt zu integrieren: Deine Meinung zählt! Darauf wird unser Verständnis von Demokratie derzeit reduziert. Wer aber am Ende wirklich davon profitieren wird und welche Art von Volksvertretung sich dabei langfristig durchsetzen soll, steht nicht zur Debatte.