
Nicht nur, aber insbesondere im Bereich der Rassismuskritik scheinen wir bestimmte Diskussionen immer wieder zu führen, scheinen außer Stande zu sein, an bestehendes Wissen anzuschließen, weil wir dieses allzu häufig nicht entsprechend tradieren bzw. aktiv „ent_innern“. Besonders deutlich wird dies anhand der stetig wiederkehrenden Debatten rund um diskriminierende Sprache in Kinderbuchklassikern, im Rahmen derer „wir“ (im Sinne der weißgeprägten Mehrheitsgesellschaft und der Massenmedien) immer wieder von Neuem dieselben grundlegenden Fragen über die Grenzen des Sagbaren zu stellen scheinen, anstatt auf bereits formulierte Überlegungen aufzubauen. Daher sollen in diesem Beitrag auch nicht erneut die müßige (weil bereits vielfach aufgeworfene, diskutierte und beantwortete) Frage, wie wir mit rassistischen Bezeichnungen und Narrativen in Kinderbüchern umgehen sollen, gestellt und die verschiedenen Positionen durchexerziert werden. Vielmehr soll danach gefragt werden, was wir womöglich übersehen, wenn wir in erster Linie über die „Tilgung“ von – verharmlosend als „schlimme Wörter“ bezeichneten – gewaltvollen Begriffen sprechen, nicht aber über die Reproduktion kolonialistischer und rassistischer Strukturen in den Büchern, über die wir reden – und im weiteren Sinne innerhalb des Handlungssystems, in dem wir uns als Akteur:innen bewegen.
„künstlerische freiheit / alle worte in den mund nehmen / egal wo sie herkommen / und sie überall fallen lassen / ganz gleich wen es / trifft“ (May Ayim)
In regelmäßigen Abständen wurden im deutschsprachigen Raum Debatten über diskriminierende Sprache in Kinderbüchern geführt. Außer Acht gelassen wird in dem weitgehend von weißen Stimmen dominierten Diskurs dabei oft, dass Schwarze Denker:innen wie etwa May Ayim bereits vor Jahrzehnten auf rassistische Sprachverwendung in Kinderbuchklassikern eingegangen sind. In dem von ihr, Katharina Oguntoye und Dagmar Schulz 1986 herausgegebenen Buch „Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“ – das als Standardwerk der afrodeutschen Bewegung gilt und bis heute eine zentrale Rolle im Bereich der Rassismuskritik und den Black Studies im deutschsprachigen Raum einnimmt –, hat die afrodeutsche Autorin, Spoken-Word-Künstlerin und Forscherin analysiert, inwiefern viele bekannte Kinderlieder und -bücher „Kolonialklischees, offenen und subtilen Rassismus“ reproduzieren.
In der breiten deutschsprachigen Öffentlichkeit hingegen fand eine – teils hitzig geführte und medienwirksam aufbereitete – Diskussion rassistischer Sprache in Kinderbuchklassikern erst um das Jahr 2013 anlässlich der Neuausgabe von Otfried Preußlers Die kleine Hexe statt, in der im Originaltext vorkommende Begriffe wie das N-Wort durch neutralere Begriffe ersetzt wurden. Neben einer Reihe von – mal mehr, mal weniger fundierten – journalistischen Beiträgen zur Debatte setzte man sich schließlich auch in der institutionalisierten germanistischen Literaturwissenschaft bzw. -didaktik mit dem Thema auseinander. 2015 erschien etwa ein von Heidi Hahn, Beate Laudenberg und Heidi Rösch herausgegebener Band mit dem Titel ‚Wörter raus!?‘ Zur Debatte um eine diskriminierungsfreie Sprache im Kinderbuch, der vielfältige Stimmen zum Thema und durchaus auch einander widersprechende Positionen versammelte.
2020 wurde die Debatte anlässlich der weltweiten Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismen, infolge derer sich auch Medien, Veranstalter:innen und nicht zuletzt Verlage vermehrt rassismuskritischer Diskurse bedienten bzw. versuchten, sich in anti-rassistische Diskurse einzuordnen, schließlich abermals aufgerollt. Nicht nur in den Massenmedien wurden dabei „neue Reflexionen im Bereich der Kinderliteratur entworfen“. Darauf aufbauend betont Joseph Kebe-Nguema, dass die Entfernung rassistischer Begriffe aus Texten wie Pippi Langstrumpf oder Jim Knopf wenig an deren diskriminierenden Narrativen ändere, sondern vielmehr deren kolonialistische Diskurse verschleiere. Dabei plädiert er für eine kritische Auseinandersetzung mit dem kulturgeschichtlichen Kontext der Erzählungen und mit den jeweiligen national-historischen Verhältnissen zu Rassismus und Rassifizierung.
Historisch kritische Ausgaben kinderliterarischer Klassiker, die auch aus postkolonialer Perspektive ansetzen, gibt es im deutschsprachigen Raum dennoch bislang keine. Dafür fand im November 2021 etwa die vom Arbeitskreis für Jugendliteratur organisierte Tagung „Cancel Literature“ statt, in der das Verhältnis zwischen Kinder- und Jugendliteratur und sogenannter „Political Correctness“ sowie „Cancel Culture“ reflektiert wurde und bei der auch nicht-weiße Autor:innen und Forscher:innen wie Chantal-Fleur Sandjon, Andrea Karimé oder Joseph Kebe-Nguema sprachen. Was in Kebe-Nguemas kritischem Kommentar zur Tagung dennoch deutlich wird, ist die nach wie vor zu weiten Teilen fehlende Auseinandersetzung mit dem auch den (Kinder- und Jugend-)Literaturbetrieb dominierenden Weißsein als „entnannter“, d. h. unsichtbar gemachter, Norm. Mit Blick auf den von ihm geleiteten Workshop berichtet Kebe-Nguema: „Als ich alle Beteiligten – meine Gruppe bestand ausschließlich aus weißdeutschen Personen – fragte, ab wann sie damit begonnen hatten, sich mit dem eigenen Weißsein auseinanderzusetzen, stellte ich fest, dass dies für sie noch nie Thema war“. Er schlussfolgert schließlich pointiert: „Wie kann man sich anmaßen, zu bestimmen, wie rassistisch diskriminierte Personen mit negativen Fremddarstellungen umgehen sollen, wenn man sich nicht einmal bewusst ist, was es bedeutet in diesem Deutschland Wei ß gelesen zu werden?“
Die drei Ps (Personal, Programm, Publikum) sind die entscheidenden Stellen, an denen im Kulturbetrieb gesellschaftlicher Wandel ermöglicht oder blockiert werden kann. (Philipp Khabo Koepsell)
Tatsächlich haben bereits Künstler:innen wie Philipp Khabo Koepsell, Chantal-Fleur Sandjon, Sharon Dodua Otoo oder Stefanie-Lahya Aukongo bei der „Ersten Indaba Schwarzer Kulturschaffender in Deutschland“ – einem zweitägigen Vernetzungstreffen, das anlässlich des 130. Jahrestages der Berliner Kongo Konferenz 2015 am Berliner Theater Ballhaus Naunystraße stattfand und unter der Herausgabe von Philipp Khabo Koepsell in einer selbstverlegten Publikation schriftlich dokumentiert wurde – aufgezeigt, dass Schwarze Menschen und Menschen of Colour häufig weder als potentielle Konsument:innen noch als signifikante Produzent:innen von Literatur wahrgenommen werden:
„Die (meist weißen) Entscheidungsträger haben bis dato fast ausschließlich ein weißes Zielpublikum definiert. Dies ist keine bewusste Entscheidung, sondern vielmehr das Ausblenden der demographischen Dynamik und der inhärente Trugschluss, Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund (hier sind meist nicht-weiße Menschen gemeint) hätten weder Interesse an Kultur noch seien sie ein ernstzunehmender kulturproduzierenden [sic] Faktor. Dementsprechend orientieren sich auch Form, Inhalt und Entwicklung kultureller Produktionen am Paradigma einer weißen Mehrheitsgesellschaft.“
Wie diese Annahmen das Schaffen Schwarzer Künstler:innen prägen, einschränken und oft sogar verhindern, zeigen die Teilnehmer:innen der Indaba auf (das Wort stammt aus dem südafrikanischen isiZulu und bedeutet Zusammenkunft, Versammlung oder Konferenz, aber auch Sachverhalt, Angelegenheit, Affäre), und zwar aus ihren Erfahrungen mit Gatekeeper:innen an Kulturinstitutionen und Entscheidungsträger:innen in der Kulturpolitik heraus. Diese machen deutlich, dass sowohl Autor:innen als auch Leser:innen auf dem deutschsprachigen Literaturmarkt nach wie vor vorwiegend als weiß imaginiert werden – und sich auch die Infrastrukturen innerhalb des Literaturbetriebs an diesen Imaginationen ausrichten, bestimmten Akteur:innen Räume und Wege eröffnen, während sie anderen diese verschließen, und so bestehende Machtverhältnisse festigen.
Mit Blick auf die Kinder- und Jugendliteratur hat Élodie Malanda in einem Beitrag kürzlich gezeigt, inwiefern Texte von Schwarzen Autor:innen auf dem deutschsprachigen Buchmarkt innerhalb dieser etablierten Strukturen auf mehrfache Weise marginalisiert werden. Zu den Minorisierungprozessen, denen Schwarze Kinder- und Jugendbuchautor:innen und ihre Texte unterworfen sind, gehört dabei nicht nur die Erzählung, dass es sich bei ihren Publikationen um Nischenprodukte handele, sondern auch die Annahme, dass die Auseinandersetzung mit Rassismus, Kolonialismus und Postkolonialität „Schwarze“ Themen seien, die nur wenige Leser:innen interessieren bzw. betreffen würden (sowie die damit zusammenhängende schon erwähnte Tatsache, dass nicht-weiße Personen oft nicht als potentielle Rezipient:innen wahrgenommen werden).
Auch die Debatte rund um rassistische Begriffe und Narrative in Kinderbuchklassikern zeugt von dieser weit verbreiteten Auffassung. M. Mustapha Diallo erläutert in seinem Beitrag für den Band Wörter raus!? hierzu: „In dieser Hinsicht offenbart die bedingungslose Verteidigung der literarischen Authentizität nicht nur eine Ignoranz sprachlicher Gewalt, sondern impliziert die Empfehlung an die Betroffenen, die Texte nicht zu lesen.“ Wenn rassistischen Worten und Erzählungen ihr (re)traumatisierendes Potential abgesprochen bzw. dieses ausgeblendet oder verharmlost wird, werden also jene Personen, die in unserer Gesellschaft ohnehin bereits marginalisiert werden, als potentielle Leser:innen weiter ausgeschlossen. Weißsein wird dabei abermals als Norm reproduziert und weiterhin unsichtbar gemacht. Die Perspektive weißer Akteur:innen wird weiterhin zentriert, wenn sie anstelle jener, die von rassistischer Diskriminierung betroffen sind, die Deutungshoheit darüber beanspruchen, was als rassistisch gelten darf.
„Sprache […] muss nicht beleidigt die Piazza räumen, sie kann sich auch weiterentwickeln.“ (Leila Essa)
Dem häufig vorgebrachten Vorwurf, dass man sich nur in der Kinderliteratur anmaßen würde, den „heiligen Gral“ des Originaltextes zu verändern (allzu oft werden hier auch Narrative der „Zensur“ heranzitiert, die die Reproduktion von Hassrede mit dem Recht auf Meinungsfreiheit gleichsetzen), kann ein aktuelles Gegenbeispiel entgegengesetzt werden: In ihrem Roman Identitti (2020) verhandelt Mithu Sanyal die Prozesshaftigkeit und Ambivalenzen von kulturellen Identitäten in einer postkolonialen Welt und greift an zwei Stellen auf rassistische Begriffe zurück. Wie Leila Essa in einem Beitrag für ZEIT ONLINE schreibt, wurde Sanyal nach Erscheinen der ersten Auflage „von zwei Schwarzen Kolleginnen darauf hingewiesen, wie sehr die Wiedergabe rassistischen Vokabulars an zwei Textstellen sie aus der Erzählung geschleudert habe“. Anstatt sich daraufhin als Opfer einer vermeintlichen „Cancel Culture“ zu inszenieren, änderte Sanyal die Stellen und fand so für die zweite Auflage ihres erfolgreichen Buchs einen Weg, „marginalisierte Perspektiven auf den Text zu priorisieren“. Die Deutungshoheit darüber, was als verletzend und rassistisch wahrgenommen wird, überlässt Sanyal dabei jenen Menschen, die von dem von ihr reproduzierten Begriff fremdbezeichnet werden – und wendet sich dabei zugleich gegen etablierte Vorstellungen vom literarischen Text als ein einsam verfasstes, ein für alle Mal abgeschlossenes Werk.
Darüber hinaus gilt es, mit Magdalena Kißling festzuhalten, dass eine postkoloniale Lesart nicht nur in Bezug auf jene Texte angebracht ist, in welchen rassistische Sprache und Stereotype explizit verhandelt werden. Vielmehr muss auch die (Re-)Produktion von „weißer Normalität“ gerade in Büchern, die sich scheinbar nicht mit Rassifizierung und Rassismus beschäftigen, kritisch hinterfragt werden. Denn wie Christine Lötscher auf GdG mit Blick auf die Diskussionen rund um Amanda Gormans Gedicht „The Hill We Climb“ formuliert hat, ist „[d]ie Frage, wie politisch Literatur sein muss oder darf, […] falsch gestellt. Sie ist immer schon politisch.“
In diesem Sinne ist auch die im Rahmen der Debatte über rassistische Sprachverwendung in Kinderbuchklassikern häufig formulierte Frage, wie politisch Literaturvermittlung und Lektüre denn sein „dürfen“, müssen oder sollen, als falsch gestellt zu betrachten. Beide sind immer schon politisch. Auch bzw. gerade das Ausblenden und das Nicht-Thematisieren rassifizierender Strukturen (Antje Lann Hornscheidt und Adibeli Nduka-Agwu haben dafür den Begriff der „Entnennung“ geprägt) sind politische Entscheidungen – und ein Privileg einer weißen Mehrheitsgesellschaft, die bisweilen sowohl die Produktions- als auch die Deutungshoheit über Literatur beansprucht. Es ist lange überfällig, anderen, bisher weitgehend benachteiligten Stimmen – sowohl im Bereich der Literatur als auch in Literaturwissenschaft und -kritik – eine größere Bühne zu bieten und Räume und Strukturen zu schaffen, die einen gesellschaftlichen Wandel auch mit Blick auf die Produktion und Rezeption von Kinderliteratur(-Klassikern) ermöglichen.
Dieser Beitrag ist erstmals in der österreichischen Fachzeitschrift „1001 Buch“ erschienen: In der aktuellen Ausgabe des Magazins für Kinder- und Jugendliteratur „Alt, aber gut. Alt, aber gut?“ dreht sich alles um die Klassiker der Kinderliteratur.
Der Artikel wurde für „Geschichte der Gegenwart“ gekürzt und leicht bearbeitet.
Ich höre ein Klage. Ich stelle fest, dass die Buchproduktion sich am Buchverkauf einer massiven Mehrheit von in Europa ansässigen und als „weiss“ bezeichneten Menschen gekauft und gelesen werden.
Die Klage ist verständlich, sie beklagt Fremdsein.
Aber eben auch – wie selbstverständlich wird im Artikel das wilde Völkergemisch in Europa mit seiner langen Geschichte in den hunderten von Jahren des römischen Reichs, den „Völkerwanderungen“ und ihren Folgen von der Süditalienerin bis zum Skandinavier einfach mit dem Etikett „weiss“ versehen! Das ist eine Sichtweise, die innerhalb Europas nicht funktioniert und den Blick auf die tatsächliche innere Vielfalt der europäischen Literatur verliert.