Zwei Bücher – ein jüngst erschienenes und ein schon älteres – erzählen von Familien, die aus Osteuropa nach England oder nach Amerika emigrierten. Sie machen Geschichten der Migration und des Ankommens sichtbar, die keine vorherrschenden Klischees bedienen.

Die ameri­ka­ni­sche Schrift­stel­lerin Eva Hoffman war 13 Jahre alt, als sie mit ihrer Familie im Jahr 1959 Polen verließ und nach Vancouver, Kanada, emigrierte. Als zwei Jahre zuvor das Ausrei­se­verbot für „Juden“ gefallen war, war es für ihre Eltern keine Frage gewesen, ob sie diese Möglich­keit, das Land zu verlassen, ergreifen würden. Zwar war Polen für sie durchaus eine Art Zuhause gewesen; doch die schmerz­haften Erin­ne­rungen an die Verfol­gung während der Besat­zungs­zeit, die Trauer um die Ange­hö­rigen, die der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Vernich­tungs­po­litik zum Opfer gefallen waren, und ein wieder­auf­le­bender Anti­se­mi­tismus im Nach­kriegs­polen hatten das Land für sie auch zu einem „feind­li­chen Terri­to­rium“ gemacht. Kanada wurde ihr Ziel.

Von Osteu­ropa nach Amerika

District XVIII Nowa Huta, Krakau, 1959; Quelle: pinterest.com

Es erschien den Eltern wie ein Tor zur Frei­heit. Die noch junge Eva sah diesem Schritt jedoch mit ganz anderen Gefühlen entgegen. Trotz aller Widrig­keiten war es für sie, als beraubte man sie mit ihrem Geburtsort Krakau nicht weniger als einem Para­dies. Krakau stand für eine glück­liche Kind­heit, für sie war es ein Ort der Sicher­heit und Vertraut­heit. Von Kanada hingegen wusste sie nichts. Das Wort „Kanada“ klang für sie „genauso unheim­lich wie ‚Sahara’“. In ihrer Auto­bio­gra­phie Lost in Trans­la­tion. A Life in an New Language, die im Jahr 1989 erschien, erzählt Eva Hoffman, damals Mither­aus­ge­berin der New York Review of Books, was die Emigra­tion für sie bedeu­tete, welche Schwie­rig­keiten diese für sie mit sich brachte, welche Gefühle des Fremd­seins sie über viele Jahre durch­liefen. Während sie sich gleich­zeitig selber mehr und mehr verwan­delte – bis eine frühere polni­sche Freundin Jahre später in ihr eine „Ameri­ka­nerin“ sah.

Als sich die Familie von Eva Hoffman 1958 auf ihre Auswan­de­rung nach Kanada vorbe­rei­tete, wurde in London Mark Mazower geboren. Heute lebt er in New York, wo er als Professor für die Geschichte des 20. Jahr­hun­derts an der Columbia Univer­sity forscht und lehrt. Von dort aus hat er sich auch auf die Reise gemacht, um der Geschichte seiner Familie auf die Spur zu kommen, die er in seinem jüngst erschienen Buch Was Du nicht erzählt hast. Meine Familie im 20. Jahr­hun­dert rekon­stru­iert. Dabei handelt es sich nicht um eine Migra­ti­ons­ge­schichte in engerem Sinne, doch die Geschichte seiner Familie war auf viel­fäl­tige Weise durch Migra­tion geprägt. Ausschlag­ge­bend dafür war unter anderem das Leben seines Groß­va­ters Max. Als Mitglied des „Allge­meinen Jüdi­schen Arbei­ter­bunds“ – um 1900 die größte sozia­lis­ti­sche Bewe­gung im Zaren­reich – hatte er gegen das zaris­ti­sche Russ­land gekämpft und sich während­dessen zwei Mal ins Exil gerettet. Im Jahr 1920 emigrierte er endgültig nach London, um sein Leben vor den Bolsche­wiki in Sicher­heit zu bringen.

Zerris­sene Familien

Moskau, Roter Platz, 1920er Jahre; Quelle: vintage.es

Auch André, der 1909 in Paris als unehe­li­cher Sohn der Russin Sofia Kryl­enko geboren wurde, wuchs in London auf. Als die revo­lu­tio­näre Akti­vistin Kryl­enko 1912 nach Russ­land zurück­ging, entschied sie, ihren drei­ein­halb­jäh­rigen Sohn in London zurück­zu­lassen. Wie er dorthin gelangte, ist nicht bekannt. Max, der ihn offi­ziell als seinen Sohn aner­kannte, ihn aller­dings über­wie­gend bei „Pfle­gel­tern“ aufwachsen ließ, erzählte nie, was eigent­lich geschehen war. Und dann war da noch die Groß­mutter, Frouma, die ursprüng­lich in einer großen russisch-jüdischen Familie in Smolensk aufge­wachsen war und später eben­falls emigrierte. Flucht kannte sie bereits aus der Zeit des russi­schen Bürger­kriegs, als sie mit einem Teil ihrer Familie Schutz auf der Krim suchte. Doch erst nachdem sie Max in Moskau kennen­ge­lernt hatte, verließ die damals bereits verwit­wete Frouma 1924 die UdSSR und ging mit ihm nach London.

Mit ihr kam Ira, ihre acht­jäh­rige Tochter, die ihren Vater, Froumas ersten Ehemann, während des Bürger­kriegs verloren hatte. Zwei weitere Geschwister Froumas folgten; die Unter­stüt­zung ihrer Schwester ermög­lichte es ihnen, nach Paris zu emigrieren. Die rest­liche Familie aber blieb sowohl im Falle von Frouma als auch von Max in der Sowjet­union. Emigra­tion bedeu­tete damit, wie so oft, die Tren­nung von Fami­lien. Als Frouma fünf­und­dreißig Jahre später, nach Stalins Tod, zum ersten Mal wieder nach Russ­land fahren konnte, traf sie ihre Verwandten nicht mehr alle an: Ein Bruder, ein Vetter, ein Schwager waren während des Großen Terrors ‚verschwunden’. Erst Jahre später wusste die Familie sicher, dass der NKWD sie hatte hinrichten lassen. Auch Max sollte seine beiden Brüder, Zachar und Semyon, nicht mehr wieder­sehen. Semyon starb während des Krieges in Lenin­grad, von Zachar fehlte nach 1945 jede Spur. Hinweise lassen darauf schließen, dass er entweder im Ghetto von Wilna starb oder in einem nahen Wald, mögli­cher Weise auch in Sobibor ermordet wurde.

Geschichten des 20. Jahrhunderts

Noch zu Beginn des 21. Jahr­hun­derts wusste Mark Mazower von alldem wenig – soweit es seine eigene Familie betraf. Sein Vater Bill, der Sohn von Frouma und Max, war ein schweig­samer Mensch gewesen, in seiner Schweig­sam­keit aber noch weit über­troffen von derje­nigen seines eigenen Vaters Max, der offenbar nahezu eisern über seine Vergan­gen­heit schwieg. Das galt selbst gegen­über seiner Frau Frouma, der er nicht einmal den Namen seiner Mutter erzählte, obwohl er zu ihr eine sehr enge Bezie­hung hatte. Ebenso hatte Max seit seiner Emigra­tion nicht mehr über seine früheren poli­ti­schen Akti­vi­täten gespro­chen. Über­haupt kannten Frouma und vor allem die Kinder Max nur als einen überaus schweig­samen Menschen. Für den Sohn Bill waren Zachar und Semyon, die er selber nie kennen­ge­lernt hatte, deshalb im Wesent­li­chen Namen; für seine eigenen Kinder schienen die Brüder des Groß­va­ters und deren Fami­lien schon gar nicht mehr „real“. Allein mithilfe der Gespräche, die Mark Mazower mit seinem Vater noch vor dessen Tod führen konnte, ließ sich die Geschichte dieser Familie nicht einmal annä­hernd rekon­stru­ieren. Um das zu leisten, war eine akri­bi­sche, manchmal schon fast detek­ti­vi­sche Recherche nötig. Was Du nicht erzählt hast ist deshalb auch mehr als eine Fami­li­en­ge­schichte; indem Mazower die facet­ten­rei­chen Leben einer weit­ver­zweigten Familie schil­dert, gelingt es ihm, eine überaus komplexe Geschichte des 20. Jahr­hun­derts sichtbar zu machen.

Was dabei heraus­ge­kommen ist, ist ein Buch, das ohne Groß­ka­te­go­rien auskommt und das auch nicht in der einen„großen Erzäh­lung“ aufgeht. Genau darin treffen sich Mark Mazowers Was Du nicht erzählt hast und Eva Hoff­mans Ankommen in der Fremde, obwohl beide Bücher in ihrer Heran­ge­hens­weise grund­ver­schieden sind. Mazower etwa blieb entschieden auf Distanz zu einem Begriff wie „Assi­mi­la­tion“. Die Kate­gorie erklärte einfach nicht, warum sich sein Vater, der 1925 geboren wurde, offenbar in nichts von den anderen engli­schen Jungen seines Alters unter­schied (abge­sehen davon, dass er, wie sein Vater und viele andere jüdi­sche Emigranten auch, außer Russisch noch viele andere Spra­chen beherrschte). Der Begriff setzt „das Prokrus­tes­bett einer vorherr­schenden Kultur“ voraus, „dem Einwan­derer und ihre Kinder sich in einem mons­trösen Prozess um einen höheren oder nied­ri­geren Preis anpassen müssen“, erklärt er. „Ein Fehler dieser Vorstel­lung ist, dass sie ein Maß an gesell­schaft­li­chem Zusam­men­halt unter­stellt, das nicht exis­tiert: Weder England noch die Welt jüdi­scher Emigranten in Nord­london stellten etwas so Eindeu­tiges wie eine einheit­liche Kultur dar.“

Fremd­sein und Anderssein

Wer Ankommen in der Fremde liest, wird unschwer fest­stellen, dass auch Eva Hoffman diese Perspek­tive teilt. Weder über die Welt, aus der sie kam, noch über die Welt, in die sie ging, lässt sich nach der Lektüre ihres Buches sagen, dass es sich um eine „einheit­liche Kultur“ handelte. Aller­dings lässt Eva Hoffman ihre Lese­rinnen und Leser auch daran teil­haben, dass es ein Prozess war, bis sie selber dies erkannte. Vieles auf diesem fremden Konti­nent schien zunächst so anders, so unzu­gäng­lich. Lebens­formen, Umgangs­weisen, Flos­keln, Gesten waren nicht ohne weiteres lesbar oder wirkten bizarr: Die Formu­lie­rung „You are welcome“ hörte sich aus Sicht der jungen Eva „plump und taktlos“ an (sie konnte sich zunächst kaum über­winden, es auszusprechen).

Ameri­ka­ni­sche Schnitt­muster, mit Verkauf in Kanada, 1967; Quelle: pinterest.com

Auch ließ man sie in Kanada am eigenen Leib spüren, dass die Sitten in Kanada andere seien und Anpas­sung ange­zeigt sei: Eine neue Bekannte ihrer Mutter rasierte ihr, ohne das Mädchen zu fragen, die Achsel­höhlen (obwohl die Haar­bü­schel doch vorher, wie sie ergänzt, niemanden gestört hatten), eine andere zupfte ihr die Augen­brauen. Oben­drein gaben die Frauen der Mutter einen deut­li­chen Finger­zeig, dass es für ihre Tochter höchste Zeit war, einen BH zu tragen. Nicht nur ihre Mutter, auch sie selber gehorchte – „passiv wie ein Maul­esel“, wie Eva Hoffman trocken bemerkt. Ihre Anpas­sung an die andere „Kultur“ verrin­gerte den Abstand, den sie zu ihrer Umge­bung verspürte, indes nicht. Im Gegen­teil, sie fühlte sich in ihrem neu model­lierten Körper fremd. In ihren Bewe­gungen wurde sie unsi­cher in ihrem Auftreten steif. Ihr Körper signa­li­sierte regel­recht, dass es sich um unter­schied­liche „Kulturen“ handelte.

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„Fremd­sein“ und „Anders­sein“ beschäf­tigten Eva Hoffman noch über viele Jahre, doch galt das in den verschie­denen Phasen ihres Lebens auf sehr unter­schied­liche Weise. Während ihres Studiums in den USA gab es Momente, in denen sie das Anders­sein selbst kulti­vierte. Als „Euro­päerin“ iden­ti­fi­ziert zu werden, war vorteil­haft geworden; andere schrieben ihr auto­ma­tisch ein beson­deres, geheim­nis­volles Wissen zu. Eva hatte des „Status einer exoti­schen Fremden“ erworben, was sie partiell durchaus genoss – bis sie es satt­hatte, dass andere sich anmaßten, ihr immer wieder „diese osteu­ro­päi­sche Leiden­schaft“ zuzu­schreiben oder ihr ein „exotisch ist erotisch“ entge­gen­zu­halten. Je mehr die erwachsen gewor­dene Studentin sich wünschte, heraus­zu­finden, wo ihr Platz in Amerika war, um so mehr wurden derart markierte Diffe­renzen für sie zu einer Zumu­tung. Und doch beschrieb sie sich in dieser Lebens­phase inter­es­santer Weise vor allem folgen­der­maßen: „Wie eine Touristin in einer fremden Stadt, die noch nicht ‚ihr Viertel’ gefunden hat und sich daher immer mit ‚der Stadt’ als Ganzem konfron­tiert sieht, sehe ich, die noch unvoll­kommen assi­mi­lierte Immi­grantin, mich ständig immer mit ‚der Kultur’ konfrontiert.“

„Die Kultur“! In Lost in Trans­la­tion beschreibt Eva Hoffman, wie sie nach und nach „die Kultur“ als Chimäre entdeckte – während „die Kultur“ im Amerika der 1970er Jahre gleich­zeitig zu „einem selt­samen Mons­trum“ wurde, über das ihr ganzes Umfeld sprach und das es fort­wäh­rend taxierte. Sie sah es, und sie wurde Teil davon. Es blieb, wie sie formu­lierte, ein Paradox: „Es ist immer schwierig zu erkennen, welche Kultur in unseren Adern fließt, und inzwi­schen habe ich den Über­blick verloren, wieviel Amerika in meinen fließt.“

Kein Kitsch

Lost in Trans­la­tion ist häufig in einem Modus leichter Ironie geschrieben, doch an keiner Stelle täuscht dieser darüber hinweg, dass Emigra­tion für Eva Hoffman alles andere als eine leichte Übung war. Emigra­tion zog mehr als einmal das Gefühl von Verlust nach sich: von vertrauten Menschen und Gesich­tern, von Sicher­heiten, und, für Eva Hoffman nicht weniger schmerz­lich, des Polni­schen. Seine Worte passten nicht zu den neuen Erfah­rungen; ohnehin schrumpfte die polni­sche Sprache mit der Zeit und stand als spon­tane „innere Sprache“ nicht mehr bereit.

Dennoch geht Lost in Trans­la­tion nicht in einer Leidens­ge­schichte auf, wie es sich umge­kehrt auch nicht als eine Geschichte lesen lässt, die darlegt, wie sich die Härten und Heraus­for­de­rungen einer Emigra­tion über­winden lassen. Statt­dessen erzählt Eva Hoffman ihr Leben als eine Geschichte, in der Zerris­sen­heit und Selbst­zweifel ebenso Platz finden, wie das Glück und die Leiden­schaft. Es ist ein Buch, das vom Heimweh spricht, ohne Senti­men­ta­li­täten zu bedienen, und das vom Ankommen handelt, ohne zu glori­fi­zieren und falsche Eindeu­tig­keiten zu produ­zieren – weder­über sich selbst, noch über das Amerika, mit dem sich Eva Hoffman konfron­tiert sieht. Es ist mithin eine Erzäh­lung, die kein Kitsch ist.

Und genau das gilt ebenso für Was Du nicht erzählt hast: Es handelt sich nicht um Kitsch. Dazu gehört, dass auch Mark Mazower nicht auslässt, was im Nach­hinein noch weh tut: dass etwa eine Schwester von Frouma beim NKWD arbei­tete und im Gulag Häft­linge beauf­sich­tigte (von denen sie später einen heira­tete), während Teile ihrer eigenen Familie den „Säube­rungen“ des Sowjet­re­gimes zum Opfer fielen; dass André von seinem Vater Max, der ansonsten ein groß­zü­giger Mensch war, keine Gebor­gen­heit erfuhr; und Mark Mazower die Halb­schwester seines Vaters, Ira, vor ihrem Tod (sie nahm sich das Leben) eigent­lich kaum richtig kennen­lernen konnte, weil seine Eltern Ira, die so auf Äußer­lich­keiten bedacht schien, flache Liebes­ro­mane schrieb und eher reak­tionär war, doch immer mit einer gewissen Gering­schät­zung begegnet waren.

Mark Mazowers Fami­li­en­ge­schichte folgt aber auch nicht dem Skript einer Traum­age­schichte, eine Erzähl­form, die heute viele in ihren Bann zieht. Was Du nicht erzählt hast ist präziser in der Beschrei­bungs­weise der einzelnen Leben, und es gibt deshalb nicht vor, für alle Charak­tere, alle Lebens­ver­läufe, eine Erklä­rung zu haben. In gewisser Weise handelt es sich deshalb um ein gnaden­loses Buch: Es sträubt sich gegen einfache Kausa­li­täten, und es ist auch nicht aus der Posi­tion des später Gebo­renen geschrieben, der heute weiß, wie sich die wech­sel­volle Geschichte des 20. Jahr­hun­derts entwi­ckelt hat. Mark Mazower richtet nicht. Es ist die größte Form des Respekts, die er den Menschen, über die er schreibt, entge­gen­bringen kann.

 

 

Eva Hoffman, Ankommen in der Fremde. Lost in Trans­la­tion, Frank­furt am Main 1995 (engl. 1989).

Mark Mazower, Was Du nicht erzählt hast: Meine Familie im 20. Jahr­hun­dert, Berlin 2018 (engl. 2017).