1964 konstatierte der Altphilologe Georg Picht eine „bundesdeutsche Bildungskatastrophe“. Die Zahlenverhältnisse haben sich seither zwar drastisch verändert. Doch die Lage der Bildung ist dramatischer denn je. Die Universitäten sind durch Pädagogisierung, Didaktisierung, Ökonomisierung zu bloßen Ausbildungsstätten geworden. Eine Streitschrift.

Am gebil­deten Menschen, so konsta­tierte Wilhelm von Humboldt einmal, wird sich die Verfas­sung eines Staates zu prüfen haben. Damit war weder gemeint, den Gebil­deten mehr Macht als dem Staat zu geben, noch eine Gelehr­ten­re­pu­blik einzu­richten. Viel­mehr ging es Humboldt um das, was seinen Begriff von Bildung im Kern ausmachte: ihre prin­zi­pi­elle Unab­hän­gig­keit von vorge­ge­benen Zwecken und ihr eigener Zweck als Prüfungs­in­stanz für den Sinn mensch­li­cher Einrich­tungen. Auch Humboldt kannte Ausbildungs- und Karrie­re­wege, die konkrete beruf­liche Ziele und Zwecke hatten. Sie sollten aber darüber hinaus­gehen und die Gebil­deten in die Lage versetzen, aus sich heraus im eigenen beruf­li­chen wie gesell­schaft­li­chen Umfeld das zu erkennen, was im Sinne der Allge­mein­heit, der Wahr­heit und der Mensch­lich­keit verbes­se­rungs­würdig sei. 

Im heutigen und zumal im deut­schen Bildungs­system ist davon kaum mehr etwas übrig. Bildung ist kein Ziel und Zweck des Indi­vi­duums mehr, sondern nur noch Mittel seiner gesell­schaft­li­chen Beitrags- und Leis­tungs­fä­hig­keit. Wer heute in bildungs­po­li­ti­schen Diskus­sionen noch Humboldt zitiert, gilt als veraltet. Statt­dessen sind schon seit einer Weile ganz andere Maximen bestim­mend: die Pädago­gi­sie­rung der Bildung etwa, also ihre Verwand­lung in ein Erzie­hungs­system; ihre Didak­ti­sie­rung, also die Verwis­sen­schaft­li­chung ihrer eigenen Vermitt­lung; oder ihre Ökono­mi­sie­rung, also ihre Ausrich­tung an mess­barer Effi­zienz. Von diesen Trans­for­ma­tionen ist beson­ders die geis­tes­wis­sen­schaft­liche Bildung betroffen, weil hier individuell-selbstständige Erkennt­nisse struk­tu­rell rele­vanter sind als akku­mu­lierte. Dazu drei kurze Blicke in den univer­si­tären Alltag der Geis­tes­wis­sen­schaften in Deutschland:

Drei Verän­de­rungen

Die Pädago­gi­sie­rung der Bildung schlägt sich u.a. im weit­ge­henden Verschwinden dessen nieder, was man Selbst­stu­dium nennt: Studie­rende erwarten heute von Lehrenden eine klare, unzwei­deu­tige Anlei­tung dazu, was sie wie und mit welcher Vorge­hens­weise für die entspre­chenden Leis­tungs­punkte zu lernen, zu leisten und konkret zu tun haben. Die Einfor­de­rung oder auch nur Ermög­li­chung von indi­vi­du­eller Wahl und Selbst­stän­dig­keit wird immer häufiger als Zumu­tung oder gar als Verlet­zung des Gleich­be­hand­lungs­prin­zips betrachtet. Das hat zur Folge, dass ein Groß­teil der Lehre darauf verwendet werden muss, zunächst den Sinn und die Methoden des selbst­stän­digen Lernens und Arbei­tens zu vermit­teln – was eigent­lich eine pädagogisch-erzieherische und keine Aufgabe der fach­li­chen univer­si­tären Bildung ist.

Die Didak­ti­sie­rung der Bildung betrifft insbe­son­dere die seit den 1970er Jahren in die Univer­si­täten inte­grierte Lehrer­aus­bil­dung. Die Verschrän­kung von wissen­schaft­li­cher Bildung und pädago­gi­scher Ausbil­dung, die diese Inte­gra­tion ursprüng­lich anstrebte und zeit­weise auch zur Folge hatte, hat sich inzwi­schen wieder aufge­löst. Heute bilden Lehr­amts­stu­die­rende und solche in forschungs- oder berufs­ori­en­tierten Studi­en­gängen häufig wieder zwei getrennte Klassen. Mehr noch: die Lehr­amts­stu­die­renden selber sehen immer weniger den Sinn und Zweck der wissen­schaft­li­chen Anteile ihres Studiums, wollen es so schnell wie möglich durch­laufen und verlangen mehr ‚Praxis­ori­en­tie­rung‘. Und die völlig anderen, nämlich nur noch didak­ti­schen Anfor­de­rungen des Refe­ren­da­riats bestä­tigen nach­träg­lich noch die Annahme, in der Uni eigent­lich nur Zeit verloren zu haben. Die ursprüng­liche Idee, für eine höhere Gesamt­bil­dung gerade den Schul­leh­rern neben der beruf­li­chen Ausbil­dung eine universitär-wissenschaftliche Bildung zu vermit­teln, gilt vielen Betei­ligten nur noch als lästige Hürde.

Die Ökono­mi­sie­rung der Bildung schließ­lich schlägt sich nicht nur in der univer­si­tären Verwaltungs- und Forschungs­po­litik nieder, sondern auch dort, wo Bildung selber primär als Ware und mess­bare Größe betrachtet wird, deren Vermitt­lung vertrag­lich gere­gelt und an Effi­zi­enz­kri­te­rien gebunden ist. Die Folgen lassen sich auch hier am besten an der größer werdenden Zahl von Studie­renden ablesen, die ihr Studium, inzwi­schen sogar mit einigem Recht, als eine Art Geschäfts­ver­ein­ba­rung verstehen, in deren Rahmen sie Inhalte repro­du­zieren und im Gegenzug Leis­tungs­punkte und Abschlüsse erhalten. Wesent­li­ches Krite­rium eines ‚gelin­genden Studiums‘ aus studen­ti­scher Sicht ist damit nicht die eigene Bildungs­er­fah­rung, sondern das Verhältnis von Reproduktions- bzw. Prüfungs­leis­tung und Zeit­auf­wand. Erfahren wird Bildung fast nur noch von denje­nigen, die als studen­ti­sche Hilfs­kräfte oder Tutoren über­haupt erst bemerken, dass es hinter den modu­laren Anfor­de­rungen noch intel­lek­tu­elle Heraus­for­de­rungen gibt. Entspre­chend ist die ‚Haus­ar­beit‘, klas­si­scher Nach­weis indi­vi­du­eller Bildungs­er­fah­rung, inzwi­schen die unbe­lieb­teste Prüfungs­form und ihre durch­schnitt­liche sprach­liche und gedank­liche Qualität hat in den letzten zehn Jahren rapide abge­nommen.      

Von der Bildung zur Ausbildung

Für viele Bildungs­kri­tiker sind dies Symptome einer Entwick­lung, die meist auf die Formel einer Wende von der Bildung zur Ausbil­dung gebracht wird. Sie ist kaum zu bestreiten. Doch setzt sie ihrer­seits strikt entgegen, was nicht mal Humboldt so deut­lich vonein­ander getrennt hätte, und tendiert struk­tu­rell zu einer konser­va­tiven Auftei­lung: Bildung für eine Elite, Ausbil­dung fürs Volk. Der heutigen Domi­nanz von Ausbil­dung aber ist wohl weniger durch die Forde­rung nach Schutz­räumen für ‚echte‘ Bildung zu begegnen als durch die Rück­ge­win­nung jenes Anteils von Bildung, der nicht nur im Wort, sondern auch im Sinn von ‚Ausbil­dung‘ steckt. Ausge­bildet zu sein kann und sollte bedeuten, auch gebildet, also in der Lage zu sein, den zweck­ori­en­tierten Fähig­keiten die Fähig­keit zur selbst­stän­digen Prüfung von Zwecken zur Seite zu stellen.

Wer sich aber mit diesem Anspruch heute die Bedin­gungen des deut­schen Bildungs­sys­tems ansieht, muss fest­stellen, dass es mit Georg Pichts 1964 konsta­tierter ‚Bildungs­ka­ta­strophe‘ nicht mehr ange­messen beschrieben ist. Im Kontext des dama­ligen Bevöl­ke­rungs­an­stiegs der letzten ‚Boom‘-Jahre ging es vor allem um die unmit­tel­bare Zukunft eines Systems, das auf die schiere Zahl der Schü­le­rInnen und künf­tigen Studie­renden nicht vorbe­reitet schien. Das betraf zunächst die Schule: auf eine Lehr­person kamen damals laut Picht durch­schnitt­lich 33 Schü­le­rInnen. Diese Betreu­ungs­quote hat sich bis heute im Schnitt mehr als halbiert auf 1:14. Laut Statis­ti­schem Bundesamt kamen 2017 auf elf Mio. Schü­le­rInnen 814.000 Lehrer (ein Viertel davon aller­dings in Teilzeitbeschäftigung).

Im Hoch­schul­be­reich sieht es etwas anders aus: Mit durch­schnitt­lich 14 Studie­renden hatte es laut Picht ein deut­scher Hoch­schul­lehrer 1961 zu tun. Heute liegt die Zahl der Studie­renden (ohne Dokto­rie­rende) in Deutsch­land bei knapp 3 Mio., denen ca. 47.600 Profes­soren gegen­über­stehen – ein Verhältnis von 1:63. Hinzu kommen aller­dings die nicht-professoralen, aber haupt­be­ruf­lich an der Uni Lehrenden, deren genauer Anteil aufgrund von Befris­tungen, Teil­zeit­re­ge­lungen etc. nur schwer zu berechnen sind. Das BMBF hat unter Einbe­zie­hung sämt­li­cher Lehr­kräfte, inklu­sive Tutoren und Hilfs­kräfte, für das Jahr 2016 an deut­schen Univer­si­täten eine „rech­ne­ri­sche“ Betreu­ungs­re­la­tion zwischen haupt­amt­li­chen „Voll­zeit­äqui­va­lenten“ und Studie­renden von 1:17 ange­geben – mit der fakti­schen Zahl von Teil­neh­menden an univer­si­tären Lehr­ver­an­stal­tungen hat diese Zahl aber wenig zu tun.

Betreu­ungs­ver­hält­nisse

In jedem Falle aber zeigt sie, wie abhängig univer­si­täre Bildung heute von jener, alter­tüm­lich ‚Mittelbau‘ genannten Gruppe von Mitar­bei­te­rInnen ist, die mit oft prekären Zukunfts­aus­sichten einen großen Teil der Arbeit in der univer­si­tären Lehre, Verwal­tung und Forschung stemmen. Das betrifft ganz beson­ders die Geis­tes­wis­sen­schaften: Laut statis­ti­schem Bundesamt gab es 2017 in dieser Fächer­gruppe etwa 318.400 Studie­rende und 4.092 Profes­suren, ein Verhältnis von 1:77. Erst durch die ca. 15.000 Mittelbau-Beschäftigten sinkt diese Rela­tion wieder auf 1:17. Wie auch immer man rechnet, im geis­tes­wis­sen­schaft­li­chen Bereich verschärft sich die Situa­tion auch dadurch erheb­lich, dass hier der Aufwand bei der Vermitt­lung von Sprach- und Schreib­kom­pe­tenzen, bei der Korrektur von Haus-  und Abschluss­ar­beiten oder auch beim bera­tenden Feed­back um einiges höher ist als in den MINT-Fächern; eine Diffe­renz zwischen Fach­kul­turen, die heute bildungs­po­li­tisch fast komplett unter­schlagen wird.

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Während sich also der Betreu­ungs­auf­wand auf der Schule statis­tisch von den 1960er Jahren bis heute halbierte, ist er an den Hoch­schulen deut­lich gestiegen. Selbst­ver­ständ­lich bildet die simple Rela­tion von Studie­renden und Lehrenden die Wirk­lich­keit nur ungenau ab. So bleiben im schu­li­schen Bereich vor allem länder- und schul­art­spe­zi­fi­sche Unter­schiede unbe­rück­sich­tigt, die derzeit etwa dazu führen, dass in manchen Bundes­län­dern, um Lücken zu füllen, ‚Quer­ein­steiger‘ ohne Studium aber mit ‚passender Berufs­praxis‘ als Lehrer einge­stellt werden. Ebenso unbe­rück­sich­tigt bleibt, dass an deut­schen Unis einer­seits schon Promo­vie­rende massiv in den Lehr­be­trieb einge­spannt sind, ande­rer­seits lang­jäh­rige promo­vierte Mitar­bei­te­rInnen weiterhin nicht als echte Hoch­schul­lehrer gelten. Doch auch unter Berück­sich­ti­gung dieser realen Verhält­nisse, die letzt­lich nur den Korrek­tur­be­darf des Ganzen unter­strei­chen, gibt der Trend in den Betreu­ungs­re­la­tionen an Schule und Hoch­schule die Rich­tung an, in die gedacht werden muss.

Denn entgegen der lange herbei­ge­re­deten demo­gra­phi­schen Krise wird die deut­sche Bevöl­ke­rung in den nächsten Jahr­zehnten kaum schrumpfen. Statt­dessen wächst der Anteil derje­nigen mit Hoch­schul­reife seit Jahren. Die Abitu­ri­en­ten­quote nähert sich heute der 60%-Marke und von diesen Abitu­ri­enten haben inzwi­schen über ein Viertel einen Noten­durch­schnitt von 1,9 oder besser. Seit der ersten Kanz­ler­schaft Angela Merkels, als noch der Pisa-Schock nach­wirkte, besteht ein Leit­prinzip der deut­schen Bildungs­po­litik darin, so vielen Menschen wie möglich die Option eines Studi­en­ab­schlusses zu gewähr­leisten. Man kann dieses Ziel für ehren­wert oder verfehlt halten, es hat in jedem Fall zu einem funda­men­talen Struk­tur­wandel der univer­si­tären Bildung geführt: Die Univer­sität von heute ist nicht nur ein Massen­be­trieb – das war sie rein zahlen­mäßig schon in den 1980er Jahren – sondern ein Betrieb, der sich auf Massen­aus­bil­dung einge­stellt hat. Gerade in den Geis­tes­wis­sen­schaften werden in immer größeren Gruppen und unter immer engeren Vorgaben durch Modul­be­schrei­bungen und Evalua­ti­ons­er­geb­nisse immer schma­lere, zweck­ge­rich­tete Wissens­be­stände vermit­telt und in möglichst zeit­spa­render Weise in immer kürzeren Frequenzen abge­prüft. Diese Art der Wissens­ver­mitt­lung aber ist das Gegen­teil von Bildung.

Ist Bologna schuld?

Nicht wenige machen die Bologna-Reform und die Einfüh­rung konse­ku­tiver Studi­en­gänge für diese Entwick­lung verant­wort­lich. Doch wer schon mal an einer ameri­ka­ni­schen Univer­sität gelehrt hat, weiß, dass dieses System keines­wegs notwendig nur auf Kosten der Bildung funk­tio­niert. Was es aber in der Tat und notwendig voraus­setzt, ist ein ange­mes­senes Betreu­ungs­ver­hältnis. Eigent­lich haben konse­ku­tive Studi­en­gänge nicht nur den Zweck, Abschlüsse vergleichbar zu machen, sondern auch, den Studie­renden ein an persön­li­chen Zielen orien­tiertes und gestalt­bares Studium zu ermög­li­chen. Modul­be­schrei­bungen und Leis­tungs­punkte sollen ihnen helfen, ihr Studium nach Inter­esse, Eignung, Rele­vanz und Zeit­auf­wand so zu orga­ni­sieren, dass ihr Abschluss am Ende eine ebenso indi­vi­du­elle wie dennoch vergleich­bare Bildungs­er­fah­rung repräsentiert.

Unter den Bedin­gungen der Massen­uni­ver­sität aber mit den beschrie­benen Betreu­ungs­re­la­tionen kehrt sich dieser Zweck in sein Gegen­teil um und das System wird zur Zwangs­jacke einer komplett verschulten Ausbil­dung, die gerade im Prozess stän­diger Beno­tung uniforme und damit eben nicht mehr ‚vergleich­bare‘ Abschlüsse produ­ziert. Der erst kürz­lich bekannt gege­bene Trend an deut­schen Schulen, bei einer stei­genden Zahl von ‚Durch­fal­lern‘ zugleich immer mehr 1er-Abschlüsse zu vergeben, ist an deut­schen Univer­si­täten schon lange zu beob­achten: Seit Einfüh­rung des Bologna-Systems steigt der Noten­durch­schnitt der Abschlüsse zugleich mit der Zahl der ‚Abbre­cher‘. In beidem spie­gelt sich aber nicht die Realität schu­li­scher oder univer­si­tärer Bildungs­er­fah­rung, sondern nur die Selek­ti­ons­leis­tung eines unifor­mierten und stan­dar­di­sierten Beleh­rungs­be­triebs. Über das tatsäch­liche Bildungs­ni­veau sagen weder Abschluss­noten noch Abbre­cher­zahlen heute noch viel aus.

Das wird sich erst ändern, wenn die deut­sche Bildungs­po­litik aufhört, kompen­sa­to­risch ihr Heil in der bloß tech­ni­schen Ausstat­tung von Bildungs­in­sti­tu­tionen, in Mecha­nismen der bloßen Bildungs­ge­rech­tig­keit, in immer neuen ‚praxis­ori­en­tierten‘ Studi­en­gängen als Förde­rung univer­si­tärer ‚Profil­bil­dung‘ oder in der kurz­fris­tigen Einrich­tung von Forschungs­blasen zu suchen. Denn das alles ändert nichts am Grund­pro­blem: an Betreu­ungs­re­la­tionen und Stan­dar­die­rungs­trends, die jede Entfal­tung indi­vi­du­eller Inter­essen, Bega­bungen, Moti­va­tionen und Ener­gien im Keim ersti­cken. Was wir brau­chen, ist eine Bildungs­po­litik, die nicht obsessiv ‚Bildungs­pro­zesse‘ steuern und kontrol­lieren will, sondern der Bildung selber Luft zum Atmen und den Bildungs­in­sti­tu­tionen das gibt, was sie am meisten brau­chen: mehr Lehr­per­sonal sowie Zeit und Raum für indi­vi­du­elle Bildungs­er­fah­rung.