Am gebildeten Menschen, so konstatierte Wilhelm von Humboldt einmal, wird sich die Verfassung eines Staates zu prüfen haben. Damit war weder gemeint, den Gebildeten mehr Macht als dem Staat zu geben, noch eine Gelehrtenrepublik einzurichten. Vielmehr ging es Humboldt um das, was seinen Begriff von Bildung im Kern ausmachte: ihre prinzipielle Unabhängigkeit von vorgegebenen Zwecken und ihr eigener Zweck als Prüfungsinstanz für den Sinn menschlicher Einrichtungen. Auch Humboldt kannte Ausbildungs- und Karrierewege, die konkrete berufliche Ziele und Zwecke hatten. Sie sollten aber darüber hinausgehen und die Gebildeten in die Lage versetzen, aus sich heraus im eigenen beruflichen wie gesellschaftlichen Umfeld das zu erkennen, was im Sinne der Allgemeinheit, der Wahrheit und der Menschlichkeit verbesserungswürdig sei.
Im heutigen und zumal im deutschen Bildungssystem ist davon kaum mehr etwas übrig. Bildung ist kein Ziel und Zweck des Individuums mehr, sondern nur noch Mittel seiner gesellschaftlichen Beitrags- und Leistungsfähigkeit. Wer heute in bildungspolitischen Diskussionen noch Humboldt zitiert, gilt als veraltet. Stattdessen sind schon seit einer Weile ganz andere Maximen bestimmend: die Pädagogisierung der Bildung etwa, also ihre Verwandlung in ein Erziehungssystem; ihre Didaktisierung, also die Verwissenschaftlichung ihrer eigenen Vermittlung; oder ihre Ökonomisierung, also ihre Ausrichtung an messbarer Effizienz. Von diesen Transformationen ist besonders die geisteswissenschaftliche Bildung betroffen, weil hier individuell-selbstständige Erkenntnisse strukturell relevanter sind als akkumulierte. Dazu drei kurze Blicke in den universitären Alltag der Geisteswissenschaften in Deutschland:
Drei Veränderungen
Die Pädagogisierung der Bildung schlägt sich u.a. im weitgehenden Verschwinden dessen nieder, was man Selbststudium nennt: Studierende erwarten heute von Lehrenden eine klare, unzweideutige Anleitung dazu, was sie wie und mit welcher Vorgehensweise für die entsprechenden Leistungspunkte zu lernen, zu leisten und konkret zu tun haben. Die Einforderung oder auch nur Ermöglichung von individueller Wahl und Selbstständigkeit wird immer häufiger als Zumutung oder gar als Verletzung des Gleichbehandlungsprinzips betrachtet. Das hat zur Folge, dass ein Großteil der Lehre darauf verwendet werden muss, zunächst den Sinn und die Methoden des selbstständigen Lernens und Arbeitens zu vermitteln – was eigentlich eine pädagogisch-erzieherische und keine Aufgabe der fachlichen universitären Bildung ist.
Die Didaktisierung der Bildung betrifft insbesondere die seit den 1970er Jahren in die Universitäten integrierte Lehrerausbildung. Die Verschränkung von wissenschaftlicher Bildung und pädagogischer Ausbildung, die diese Integration ursprünglich anstrebte und zeitweise auch zur Folge hatte, hat sich inzwischen wieder aufgelöst. Heute bilden Lehramtsstudierende und solche in forschungs- oder berufsorientierten Studiengängen häufig wieder zwei getrennte Klassen. Mehr noch: die Lehramtsstudierenden selber sehen immer weniger den Sinn und Zweck der wissenschaftlichen Anteile ihres Studiums, wollen es so schnell wie möglich durchlaufen und verlangen mehr ‚Praxisorientierung‘. Und die völlig anderen, nämlich nur noch didaktischen Anforderungen des Referendariats bestätigen nachträglich noch die Annahme, in der Uni eigentlich nur Zeit verloren zu haben. Die ursprüngliche Idee, für eine höhere Gesamtbildung gerade den Schullehrern neben der beruflichen Ausbildung eine universitär-wissenschaftliche Bildung zu vermitteln, gilt vielen Beteiligten nur noch als lästige Hürde.
Die Ökonomisierung der Bildung schließlich schlägt sich nicht nur in der universitären Verwaltungs- und Forschungspolitik nieder, sondern auch dort, wo Bildung selber primär als Ware und messbare Größe betrachtet wird, deren Vermittlung vertraglich geregelt und an Effizienzkriterien gebunden ist. Die Folgen lassen sich auch hier am besten an der größer werdenden Zahl von Studierenden ablesen, die ihr Studium, inzwischen sogar mit einigem Recht, als eine Art Geschäftsvereinbarung verstehen, in deren Rahmen sie Inhalte reproduzieren und im Gegenzug Leistungspunkte und Abschlüsse erhalten. Wesentliches Kriterium eines ‚gelingenden Studiums‘ aus studentischer Sicht ist damit nicht die eigene Bildungserfahrung, sondern das Verhältnis von Reproduktions- bzw. Prüfungsleistung und Zeitaufwand. Erfahren wird Bildung fast nur noch von denjenigen, die als studentische Hilfskräfte oder Tutoren überhaupt erst bemerken, dass es hinter den modularen Anforderungen noch intellektuelle Herausforderungen gibt. Entsprechend ist die ‚Hausarbeit‘, klassischer Nachweis individueller Bildungserfahrung, inzwischen die unbeliebteste Prüfungsform und ihre durchschnittliche sprachliche und gedankliche Qualität hat in den letzten zehn Jahren rapide abgenommen.
Von der Bildung zur Ausbildung
Für viele Bildungskritiker sind dies Symptome einer Entwicklung, die meist auf die Formel einer Wende von der Bildung zur Ausbildung gebracht wird. Sie ist kaum zu bestreiten. Doch setzt sie ihrerseits strikt entgegen, was nicht mal Humboldt so deutlich voneinander getrennt hätte, und tendiert strukturell zu einer konservativen Aufteilung: Bildung für eine Elite, Ausbildung fürs Volk. Der heutigen Dominanz von Ausbildung aber ist wohl weniger durch die Forderung nach Schutzräumen für ‚echte‘ Bildung zu begegnen als durch die Rückgewinnung jenes Anteils von Bildung, der nicht nur im Wort, sondern auch im Sinn von ‚Ausbildung‘ steckt. Ausgebildet zu sein kann und sollte bedeuten, auch gebildet, also in der Lage zu sein, den zweckorientierten Fähigkeiten die Fähigkeit zur selbstständigen Prüfung von Zwecken zur Seite zu stellen.
Wer sich aber mit diesem Anspruch heute die Bedingungen des deutschen Bildungssystems ansieht, muss feststellen, dass es mit Georg Pichts 1964 konstatierter ‚Bildungskatastrophe‘ nicht mehr angemessen beschrieben ist. Im Kontext des damaligen Bevölkerungsanstiegs der letzten ‚Boom‘-Jahre ging es vor allem um die unmittelbare Zukunft eines Systems, das auf die schiere Zahl der SchülerInnen und künftigen Studierenden nicht vorbereitet schien. Das betraf zunächst die Schule: auf eine Lehrperson kamen damals laut Picht durchschnittlich 33 SchülerInnen. Diese Betreuungsquote hat sich bis heute im Schnitt mehr als halbiert auf 1:14. Laut Statistischem Bundesamt kamen 2017 auf elf Mio. SchülerInnen 814.000 Lehrer (ein Viertel davon allerdings in Teilzeitbeschäftigung).
Im Hochschulbereich sieht es etwas anders aus: Mit durchschnittlich 14 Studierenden hatte es laut Picht ein deutscher Hochschullehrer 1961 zu tun. Heute liegt die Zahl der Studierenden (ohne Doktorierende) in Deutschland bei knapp 3 Mio., denen ca. 47.600 Professoren gegenüberstehen – ein Verhältnis von 1:63. Hinzu kommen allerdings die nicht-professoralen, aber hauptberuflich an der Uni Lehrenden, deren genauer Anteil aufgrund von Befristungen, Teilzeitregelungen etc. nur schwer zu berechnen sind. Das BMBF hat unter Einbeziehung sämtlicher Lehrkräfte, inklusive Tutoren und Hilfskräfte, für das Jahr 2016 an deutschen Universitäten eine „rechnerische“ Betreuungsrelation zwischen hauptamtlichen „Vollzeitäquivalenten“ und Studierenden von 1:17 angegeben – mit der faktischen Zahl von Teilnehmenden an universitären Lehrveranstaltungen hat diese Zahl aber wenig zu tun.
Betreuungsverhältnisse
In jedem Falle aber zeigt sie, wie abhängig universitäre Bildung heute von jener, altertümlich ‚Mittelbau‘ genannten Gruppe von MitarbeiterInnen ist, die mit oft prekären Zukunftsaussichten einen großen Teil der Arbeit in der universitären Lehre, Verwaltung und Forschung stemmen. Das betrifft ganz besonders die Geisteswissenschaften: Laut statistischem Bundesamt gab es 2017 in dieser Fächergruppe etwa 318.400 Studierende und 4.092 Professuren, ein Verhältnis von 1:77. Erst durch die ca. 15.000 Mittelbau-Beschäftigten sinkt diese Relation wieder auf 1:17. Wie auch immer man rechnet, im geisteswissenschaftlichen Bereich verschärft sich die Situation auch dadurch erheblich, dass hier der Aufwand bei der Vermittlung von Sprach- und Schreibkompetenzen, bei der Korrektur von Haus- und Abschlussarbeiten oder auch beim beratenden Feedback um einiges höher ist als in den MINT-Fächern; eine Differenz zwischen Fachkulturen, die heute bildungspolitisch fast komplett unterschlagen wird.
Während sich also der Betreuungsaufwand auf der Schule statistisch von den 1960er Jahren bis heute halbierte, ist er an den Hochschulen deutlich gestiegen. Selbstverständlich bildet die simple Relation von Studierenden und Lehrenden die Wirklichkeit nur ungenau ab. So bleiben im schulischen Bereich vor allem länder- und schulartspezifische Unterschiede unberücksichtigt, die derzeit etwa dazu führen, dass in manchen Bundesländern, um Lücken zu füllen, ‚Quereinsteiger‘ ohne Studium aber mit ‚passender Berufspraxis‘ als Lehrer eingestellt werden. Ebenso unberücksichtigt bleibt, dass an deutschen Unis einerseits schon Promovierende massiv in den Lehrbetrieb eingespannt sind, andererseits langjährige promovierte MitarbeiterInnen weiterhin nicht als echte Hochschullehrer gelten. Doch auch unter Berücksichtigung dieser realen Verhältnisse, die letztlich nur den Korrekturbedarf des Ganzen unterstreichen, gibt der Trend in den Betreuungsrelationen an Schule und Hochschule die Richtung an, in die gedacht werden muss.
Denn entgegen der lange herbeigeredeten demographischen Krise wird die deutsche Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten kaum schrumpfen. Stattdessen wächst der Anteil derjenigen mit Hochschulreife seit Jahren. Die Abiturientenquote nähert sich heute der 60%-Marke und von diesen Abiturienten haben inzwischen über ein Viertel einen Notendurchschnitt von 1,9 oder besser. Seit der ersten Kanzlerschaft Angela Merkels, als noch der Pisa-Schock nachwirkte, besteht ein Leitprinzip der deutschen Bildungspolitik darin, so vielen Menschen wie möglich die Option eines Studienabschlusses zu gewährleisten. Man kann dieses Ziel für ehrenwert oder verfehlt halten, es hat in jedem Fall zu einem fundamentalen Strukturwandel der universitären Bildung geführt: Die Universität von heute ist nicht nur ein Massenbetrieb – das war sie rein zahlenmäßig schon in den 1980er Jahren – sondern ein Betrieb, der sich auf Massenausbildung eingestellt hat. Gerade in den Geisteswissenschaften werden in immer größeren Gruppen und unter immer engeren Vorgaben durch Modulbeschreibungen und Evaluationsergebnisse immer schmalere, zweckgerichtete Wissensbestände vermittelt und in möglichst zeitsparender Weise in immer kürzeren Frequenzen abgeprüft. Diese Art der Wissensvermittlung aber ist das Gegenteil von Bildung.
Ist Bologna schuld?
Nicht wenige machen die Bologna-Reform und die Einführung konsekutiver Studiengänge für diese Entwicklung verantwortlich. Doch wer schon mal an einer amerikanischen Universität gelehrt hat, weiß, dass dieses System keineswegs notwendig nur auf Kosten der Bildung funktioniert. Was es aber in der Tat und notwendig voraussetzt, ist ein angemessenes Betreuungsverhältnis. Eigentlich haben konsekutive Studiengänge nicht nur den Zweck, Abschlüsse vergleichbar zu machen, sondern auch, den Studierenden ein an persönlichen Zielen orientiertes und gestaltbares Studium zu ermöglichen. Modulbeschreibungen und Leistungspunkte sollen ihnen helfen, ihr Studium nach Interesse, Eignung, Relevanz und Zeitaufwand so zu organisieren, dass ihr Abschluss am Ende eine ebenso individuelle wie dennoch vergleichbare Bildungserfahrung repräsentiert.
Unter den Bedingungen der Massenuniversität aber mit den beschriebenen Betreuungsrelationen kehrt sich dieser Zweck in sein Gegenteil um und das System wird zur Zwangsjacke einer komplett verschulten Ausbildung, die gerade im Prozess ständiger Benotung uniforme und damit eben nicht mehr ‚vergleichbare‘ Abschlüsse produziert. Der erst kürzlich bekannt gegebene Trend an deutschen Schulen, bei einer steigenden Zahl von ‚Durchfallern‘ zugleich immer mehr 1er-Abschlüsse zu vergeben, ist an deutschen Universitäten schon lange zu beobachten: Seit Einführung des Bologna-Systems steigt der Notendurchschnitt der Abschlüsse zugleich mit der Zahl der ‚Abbrecher‘. In beidem spiegelt sich aber nicht die Realität schulischer oder universitärer Bildungserfahrung, sondern nur die Selektionsleistung eines uniformierten und standardisierten Belehrungsbetriebs. Über das tatsächliche Bildungsniveau sagen weder Abschlussnoten noch Abbrecherzahlen heute noch viel aus.
Das wird sich erst ändern, wenn die deutsche Bildungspolitik aufhört, kompensatorisch ihr Heil in der bloß technischen Ausstattung von Bildungsinstitutionen, in Mechanismen der bloßen Bildungsgerechtigkeit, in immer neuen ‚praxisorientierten‘ Studiengängen als Förderung universitärer ‚Profilbildung‘ oder in der kurzfristigen Einrichtung von Forschungsblasen zu suchen. Denn das alles ändert nichts am Grundproblem: an Betreuungsrelationen und Standardierungstrends, die jede Entfaltung individueller Interessen, Begabungen, Motivationen und Energien im Keim ersticken. Was wir brauchen, ist eine Bildungspolitik, die nicht obsessiv ‚Bildungsprozesse‘ steuern und kontrollieren will, sondern der Bildung selber Luft zum Atmen und den Bildungsinstitutionen das gibt, was sie am meisten brauchen: mehr Lehrpersonal sowie Zeit und Raum für individuelle Bildungserfahrung.