Seit neuestem wird mit dem Begriff Diktatur ganz schön herumjongliert. Die einen wollen Diktatur dort erblicken, wo sie nicht ist (Schweiz), die anderen können sie nicht sehen, auch wenn sie mittendrinstehen (Eritrea). Eine Orientierungshilfe.

Bis vor kurzem schien noch allseits klar zu sein, wer und was eine Diktatur ist. Beim „Wer“ war man sich in der Regel einig: ganz oben Nord­korea, Turk­me­ni­stan, Usbe­ki­stan, Sudan, Äqua­to­ri­al­guinea, Eritrea, Saudi Arabien, Syrien und Somalia. 2015 hat die Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tion Freedom House 48 Länder gezählt, die sie „unfreie Länder“ nennt, die neun oben genannten gelten als „extrem unfrei“. Es folgen 59 Länder, die nur teil­weise demo­kra­ti­sche Rechte garan­tieren („einge­schränkt freie Länder“) und 88 „freie Länder“. Die statis­ti­schen Angaben, die Freedom House seit 1972 erhebt, zeigen, dass es zuletzt mit dem Fall des Eisernen Vorhangs eine größere Verschie­bung gab – neue bzw. alte, freie Natio­nal­staaten entstanden, andere wech­selten im Status von „unfrei“ auf „frei“.  Seit 2004 hat sich die Eintei­lung kaum verän­dert. Die meisten unfreien Länder befinden sich derzeit in Asien und Afrika. In West­eu­ropa gibt es heute weder ein unfreies noch ein einge­schränkt freies Land – so Freedom House.

Letz­teres könnte sich aller­dings bald ändern, wenn man der Propa­ganda der rechts­na­tio­nalen SVP glaubt. SVP-Meinungsmacher Chris­toph Blocher beti­telte seine Grund­satz­rede auf dem jähr­li­chen Albisgüetli-Treffen im Januar 2016 mit „Die Schweiz auf dem Weg zur Diktatur“. Blocher griff das Schlag­wort Diktatur nicht etwa auf, um die eigene Politik zu beschreiben, also die Lancie­rung von Volks­in­itia­tiven, die den Rechts­staat aushöhlen. Ganz im Gegen­teil, er bezeichnet jene als Dikta­toren, die den Willen des Volkes nur dann akzep­tieren, wenn dieser nicht gegen Menschen­rechte oder inter­na­tio­nales Völker­recht verstößt. Im Original:

Wer sieht, wie heute die Schweizer Gesetze, die schwei­ze­ri­sche Ordnung, der schwei­ze­ri­sche Gesetz­geber, also der Schweizer Bürger, ausge­he­belt und umge­krem­pelt wird, wer sieht, dass Behörden, Gerichte und vor allem inter­na­tio­nale, auslän­di­sche Gesetz­geber immer mehr das Sagen haben, der muss zum Schluss kommen: Bundes­bern hat den Weg in die Diktatur ange­treten. Sie mögen erschre­cken, meine Damen und Herren, die Lage ist ernst: Wer Ohren hat, der höre, wer Augen hat, der sehe: Wir stehen vor einem stillen Staatsstreich.

Nur selten kann man den Fall einer derart para­doxalen Umko­die­rung eines Wortes, also einer totalen Verdre­hung seiner Bedeu­tung, miter­leben. Constantin Seibt hat diese Verdre­hung im Tages­an­zeiger auf den Punkt gebracht: „Was nach der Sprache der Demo­kratie klingt, ist die Sprache der Diktatur. Denn jede Diktatur, die je errichtet wurde, berief sich auf genau das: den Volks­willen. Es ist ein Fehler, zu glauben, das Gegen­teil von respek­tierten Insti­tu­tionen sei Frei­heit.“ Die Analyse von Seibt führt alle Reiz­wörter zusammen, mit denen die SVP und andere rechts­na­tio­nale Parteien im Wahl­kampf jonglieren: Volks­wille und Frei­heit, Staat und Diktatur – all diese Reiz­wörter, nicht nur Diktatur, haben im rechts­po­pu­lis­ti­schen Gebrauch einen schlei­chenden Bedeu­tungs­wandel erfahren: Partei­wille wurde und wird zu Volks­wille, Partei-Volkswille zu Frei­heit, Frei­heit bleibt klas­si­scher­weise Anti­staat­lich­keit, nur so kann man die Partei, das Volk und die Frei­heit dem Staat und seinen Insti­tu­tionen gegen­über­stellen. Eigen­willig, ja gera­dezu komisch ist auch das von Messias Blocher („Wer Ohren hat…“) verkün­dete Verständnis von „Staats­streich“, bezeichnet das Wort doch norma­ler­weise einen Putsch gegen den Staat, hier aller­dings geht es um einen angeb­li­chen Putsch des Staates gegen das „Volk“!

Eine weitere Verdre­hung versucht Blocher ein paar Sätze später, indem er die Posi­tion seiner Gegner einnimmt: „Wer Schweizer Recht vor fremde Richter stelle, lege den Rechts­staat still“, hört er diese sagen. Wer so denkt, so sein Fazit, denke wie ein Diktator alter Schule: „Die Dikta­toren alter Schule haben ihre Diktatur stets über die Volks­rechte gestellt.“ Ja, das stimmt, ist aber trotzdem nur die halbe Wahr­heit. Man muss nur zu Stalin, diesem „Diktator alter Schule“ zurück­gehen und sich daran erin­nern, wie der in seiner Partei­dik­tatur erstens immer im Namen des Volkes gespro­chen hat und zwei­tens eigenes, sowje­ti­sches (Un-)Recht – d.h. Partei­wille – vor fremdes Recht stellte. Stalin hatte die UNO-Menschenrechtscharta von 1948 zwar unter­schrieben, als „Diktator alter Schule“ sich aber nicht daran gehalten! Auch Brežnev unter­schrieb 1975 die Schluss­akte von Helsinki… Nicht umsonst verwiesen die Bürger­rechts­be­we­gungen der Sowjet­union unauf­hör­lich auf beide Abkommen, suchten verzwei­felt Hilfe bei fremden Rich­tern. Übri­gens war auch Stalin Meister der para­doxen Umko­die­rung von Begriffen. Der größte Schachzug beim Bedeu­tungs­wandel gelang ihm mit der Vertau­schung von „links“ und „rechts“, als er ab 1926 seine poli­ti­schen Gegner, die linke Oppo­si­tion um Trotzki und Bucharin, konse­quent als „Rechts­ab­weichler“ und schließ­lich als „rechte Oppo­si­tion“ bezeich­nete. Damit konnte er jede Form von Oppo­si­tion ganz gene­rell als „Trotz­kismus“ und als „rechts“ einstufen. Begriff­liche Umko­die­rung, auch Umin­ter­pre­ta­tion von Geschichte, gehören zum Tages­ge­schäft der „Dikta­toren alter Schule“.

Was ist denn nun Diktatur?

Dimitrij Bal'termanc: Festatgsumzug (1970), Quelle: http://baltermants.ru/#/oeuvre/politics/throngs/

Dimitrij Bal’termanc: Fest­tags­umzug (1970), Quelle: baltermants.ru/#/oeuvre/politics/throngs/

Viel­leicht ein Beispiel aus der jüngsten deut­schen Vergan­gen­heit, an das sich noch viele erin­nern können: die DDR. Deut­sche Demo­kra­ti­sche Repu­blik. Offi­ziell Diktatur des Prole­ta­riats. Eigent­lich Partei­dik­tatur, Paral­lel­ge­sell­schaft einer Partei­elite, die behaup­tete, den Volks­willen zu vertreten. Perma­nente Volks­pro­pa­ganda, Volks­fröh­lich­keit. Akade­mi­ker­feind­lich­keit. Keine Gewal­ten­tei­lung, Igno­ranz des Grund­ge­setzes, damit verbunden Igno­ranz von Menschen­rechten. Unrechts­staat. Keine unab­hän­gige Presse. Keine freien Wahlen. Keine Reise­frei­heit. Plan­wirt­schaft. Über­wa­chung, Kontrolle, „Zerset­zung“ von Anders­den­kenden. Damit erfüllte die DDR alle wich­tigen und noch ein paar zusätz­liche, eigen­stän­dige Merk­male (Reise­verbot), mit denen man heute Dikta­turen in Verbin­dung bringt.

Doch was für eine geschichts­po­li­ti­sche Verwir­rung, wenn man in die wissen­schaft­liche Lite­ratur blickt! Wort­schöp­fungen in analy­ti­scher Absicht zeitigen hier mitunter folgen­reiche Entschär­fungs­ef­fekte. Der Histo­riker Konrad Jarausch prägte für die DDR den Neolo­gismus „Fürsor­ge­dik­tatur“, weil es gerade viele Bürger der DDR waren, die sich mit dem abschät­zigen Begriff „Diktatur“ für ihr Land nicht anfreunden konnten und Jarausch dann doch den repres­siven Charakter wie auch eman­zi­pa­to­ri­schen Anspruch des Regimes glei­cher­massen betonen wollte. Andere spra­chen von „Moderner Diktatur“, von „Erzie­hungs­dik­tatur“, „Versor­gungs­dik­tatur“ oder „durch­herrschter Gesell­schaft“. Das Bedürfnis, die Wohl­fahrts­leis­tung des Unrecht­staates anzu­er­kennen, war groß und sollte begriff­lich fest­ge­halten werden. Wie aber inter­pre­tiert der Begriff „Fürsor­ge­dik­tatur“ die Geschichte? Wohl kaum so, dass der Staat nur für dieje­nigen gut sorgte, die sich ihm bedin­gungslos unter­worfen haben?

„Fürsor­ge­dik­tatur“ nimmt eine bewusste Entschär­fung des Wortes ‚Diktatur‘ in Kauf. Diese Entschär­fung lässt sich aller­dings nicht nur bei der Benen­nung der Staats­form des ehema­ligen Ostdeutsch­land beob­achten. Das Wort „Diktatur“ wird seit ca. 1990, so zumin­dest legt es der N-Gram-Viewer von Google nahe, immer weniger gebraucht. Der Rück­gang von Dikta­turen welt­weit scheint mit der gerin­geren Verwen­dung des Wortes zu korre­lieren. Aller­dings lässt sich auch etwas Anderes beob­achten. Bei Freedom House gehören Russ­land und China zu den unfreien Ländern. Russ­land nennt sich selbst aber „Gelenkte Demo­kratie“. Für China wird in unter­schied­li­chen Zusam­men­hängen von einer „Demo­kratie mit chine­si­scher Prägung“ gespro­chen. Im Unter­schied zur „Fürsor­ge­dik­tatur“ wird das Wort „Diktatur“ nun nicht mehr ‚verweich­licht‘, sondern es wird einfach nicht mehr verwendet: ausge­blendet. So werden Dikta­turen begriff­lich zu defekten Demo­kra­tien. In Russ­land kommt hinzu, dass der Begriff „gelenkte Demo­kratie“ als eine Kritik am west­li­chen Demo­kra­tie­ver­ständnis aufge­fasst wird, ja sogar deren Krise wider­spie­geln soll. Dazu kursiert in Russ­land folgender Witz: „Was ist eine Diktatur? Wenn alle das tun, was der führende Diktator befiehlt. Und was ist eine Demo­kratie? Wenn alle das tun, was der führende Demo­krat befiehlt.“ Mit Diktatur wird in Russ­land vorwie­gend die EU beti­telt – oder es wird von Dikta­turen à la Brüssel oder Washington gesprochen.

Dimitrij Bal'termanc: Festtagsumzug (1970), Quelle: http://baltermants.ru/#/oeuvre/politics/throngs/

Dimitrij Bal’termanc: Fest­tags­umzug (1970), Quelle: baltermants.ru/#/oeuvre/politics/throngs/

Aber, der Begriffs­dschungel wird noch undurch­dring­li­cher: Neben „Gelenkte Demo­kratie“ oder „Demo­kratie chine­si­scher Prägung“ werden auch noch andere Begriffe verwendet wie „simu­la­tive“ oder „imitierte Demo­kratie“, die wiederum auf die bloße Insze­nie­rung des Demo­kra­ti­schen zielen: Fassa­den­de­mo­kratie. Aller­dings unter­scheidet sich die für Russ­land oder andere unfreie Staaten typi­sche Fassa­den­de­mo­kratie klar von der soge­nannten Spek­ta­kel­de­mo­kratie bzw. „Post­de­mo­kratie“,  mit der in den 1990er Jahren der Philo­soph Jacques Rancière und später dann der Poli­tik­wis­sen­schaftler Colin Crouch Kritik an verschie­denen Real­de­mo­kra­tien übten. Crouch zielt mit seiner Kritik weniger auf Defekte in der Rechts­staat­lich­keit und Gewal­ten­tei­lung (für Crouch ist Post­de­mo­kratie kein nicht­de­mo­kra­ti­scher Zustand), sondern auf das allmäh­liche Verkommen von Parti­zi­pa­tion zu einem markt­kon­formen Spektakel.

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Das Begriffs­di­lemma, das offen­sicht­lich herrscht, wenn es um die Bezeich­nung von Dikta­turen und von Demo­kra­tien geht, scheint zwei­erlei deut­lich zu machen, erstens das Begehren, auch Dikta­turen als Demo­kra­tien bezeichnen zu wollen, zwei­tens die daraus folgende Schwie­rig­keit, im Feld der zahl­rei­chen Demo­kra­tie­de­fekte jene zu erkennen, die Demo­kratie wirk­lich aufs Spiel setzen.

Kann man eine Diktatur sehen?

In der Regel werden Dikta­turen nicht gewählt, sondern sie sind Ergeb­nisse von Staats­strei­chen, Revo­lu­tionen oder poli­ti­schen Okku­pa­tionen. Aber, und das ist viel­leicht der wich­tigste Punkt, an den es auch histo­risch zu erin­nern gilt: Sie können auch Ergebnis von Demo­kratie sein, wenn eine vom Volk gewählte Regie­rung ihre verfas­sungs­mä­ßigen Grund­lagen selbst aushöhlt: Deutsch­land zwischen 1930-1933 als Präsi­di­al­dik­tatur. Aktu­eller ist aber der schlei­chende Demo­kra­tie­abbau als Verlust von Rechts­staat­lich­keit. Der russi­sche Philo­soph Michael Ryklin hat diese allmäh­liche Bewe­gung im Russ­land der späten 1990er Jahre folgen­der­maßen charakterisiert:

Entste­hende Regime zeichnen sich dadurch aus, dass selbst ihre unmit­telbar bevor­ste­henden Meta­mor­phosen schwer voraus­zu­sehen sind. Weil die Präze­denz­fälle fehlen, lassen sich keine Vergleiche anstellen. Ständig werden wir von Ereig­nissen über­rollt, und kaum haben wir aufge­holt, laufen sie uns wieder davon. Auf jeder Windung der Spirale wider­fährt uns etwas Neues, Uner­war­tetes. Wir versu­chen uns an Dinge zu gewöhnen, die noch vor kurzem unmög­lich, undenkbar schienen. Doch eine Woche vergeht, und es zeichnet sich noch Unvor­stell­ba­reres ab. Solche Erleb­nisse haben repres­siven Charakter. Die Gewöh­nung daran nimmt uns einen Teil unserer geis­tigen Welt, unserer Freiheit.

Ryklin spricht hier zwei Punkte an, die wesent­lich sind für die Geschichte von Gegen­wart: die Unvor­her­seh­bar­keit der Hand­lungen poli­ti­scher Akteure und die perma­nente Einord­nung dieser Hand­lungen in die Geschichte. Was unvor­stellbar war, ist plötz­lich Geschichte. Für die Schweiz stellt sich jetzt die Frage: Welche Volks­ab­stim­mungen werden poli­ti­sche Akteure dem Volk in Zukunft noch aufzwingen? Nach der DSI kommt „Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbst­be­stim­mungs­in­itia­tive)“ – bis vor kurzem noch unvorstellbar…

P.S. Während die Schweizer SVP-Parteistrategen hoffen, dass die Umko­die­rung der Bedeu­tung von Diktatur viel­leicht noch ein paar Wähler­stimmen bringt, ist die Frage, ob es sich bei einem Land um eine Diktatur handelt, noch aus einem ganz anderen Grund rele­vant geworden, und zwar dann, wenn es um das Asyl­recht geht, also um die Frage, ob Flücht­linge aus einer Diktatur kommen und deshalb Recht auf Asyl haben. Das beste Beispiel ist gerade Eritrea. Niemand scheint die Frage abschlie­ßend beant­worten zu können, ob es sich bei Eritrea um eine Diktatur handelt oder nicht. Freedom House sagt klar „ja“, andere sagen „nein“. Um sich „ein Bild zu machen“, fuhren deshalb eine Hand­voll Schweizer Poli­tiker nach Eritrea und teilten im Anschluss der Reise der Presse ihre Erleb­nisse und Einschät­zungen mit. Der Blick brachte u.a. das „exklu­sive Reise­ta­ge­buch von SVP-Nationalrat Thomas Aeschi“ mit dem Titel „Eritrea ist nicht die Hölle“. Aeschi berichtet, dass er z.B. „in den Strassen Asmaras von einem Über­wa­chungs­staat nichts sehen“ konnte. Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man über so viel Naivität schal­lend lachen. Ist es wirk­lich nötig zu sagen, dass man Dikta­turen nicht sehen kann, ja dass sich Dikta­turen gerade dadurch auszeichnen, dass sie die Formen und unmit­tel­baren Folgen ihrer Herr­schaft der Sicht­bar­keit bewusst und gezielt entziehen?