

Michael Brown, Tamir Rice, Eric Garner, Philando Castile, Breonna Taylor, George Floyd. Diese Namen – und viele andere mehr – stehen für die schwarzen Opfer rassistischer Polizeigewalt in den USA. In Reaktion auf ihren Tod haben Bürgerrechtsorganisationen und -bewegungen wie Black Lives Matter im vergangenen Jahr lautstark gegen eine veraltete und unzureichende Ausbildung von Polizist:innen, gegen strukturellen und institutionellen Rassismus sowie rassistische Feindbilder gegenüber Afroamerikaner:innen protestiert und grundlegende Reformen im Polizeibetrieb eingefordert. Dieser Protest gegen Polizeigewalt hat 2020 eine neue Intensität erreicht und große Zustimmung in der Gesellschaft erfahren. Gleichwohl sind Forderungen nach Veränderungen nicht neu. In den vergangenen Jahrzehnten gab es immer wieder Gerichtsprozesse und Untersuchungskommissionen, die Missständen nachgingen und mit guten Vorsätzen Reformvorschläge für Polizeiarbeit formulierten: 2020 in Minneapolis, 2014 in Ferguson, 1991 in Los Angeles, als Rodney King von einer Gruppe von Polizisten brutal zusammengeschlagen wurde, oder schon 1967 im Bericht der Katzenbach Commission. Sie zeigen eine lange Geschichte unzureichender Fehleranalysen und Lösungsvorschläge. Veränderungen und Verbesserungen kommen, wenn überhaupt, eher schleppend voran. Wenn die Probleme seit mehr als einem halben Jahrhundert bekannt und benannt sind, warum ist es so schwierig sie zu beheben?
Schwarze Mobilität und ihre lange Geschichte
Für unser Bild von Polizeigewalt in den USA ist es zum einen zentral, die alltägliche Diskriminierung gegen Afroamerikaner:innen an Schulen, im Gesundheitssystem oder auf dem Immobilienmarkt zu verstehen. Jürgen Martschukat hat an dieser Stelle im letzten Jahr treffend auf die metaphorische und tatsächliche Atemnot von schwarzen Amerikaner:innen hingewiesen, die während der Covid-Krise in den USA sichtbar wurde. Ein anderer Aspekt, der hilft Polizeigewalt besser zu verstehen, ist die Geschichte schwarzer Mobilität, ihrer Kontrolle und Sanktionierung in Nordamerika. In den brutalen Übergriffen auf Afroamerikaner:innen spiegeln sich nicht nur diskriminierende Haltungen und Erwartungen von Polizist:innen wider – der generelle Kriminalitätsverdacht, dem vor allem schwarze Männer in den Vereinigten Staaten ausgesetzt sind, ist nur eine Erklärung für die Eskalationen, die vor allem aus Verkehrskontrollen im öffentlichen Raum entstehen. Das beinahe mythisch aufgeladene Auto, das wie kaum ein anderer Gegenstand des alltäglichen Lebens in den USA für individuelle Freiheit und Selbstbestimmung steht, wird besonders für schwarze Männer immer wieder zur Falle und zum Raum großer Gefährdung, weil sie bei Verkehrskontrollen regelmäßig und systematisch angehalten werden.
Dies hat historische Wurzeln, die bis weit in die Kolonialzeit Nordamerikas zurückreichen. Durch ihre lange Geschichte haben sich die Methoden, mit denen schwarze Menschen überwacht werden, tief in den Alltag der USA eingeschrieben. Praktiken, die „driving while Black“ zu einer Bedrohung für Leib und Leben machen, haben ihre Herkunft in der Geschichte der Sklaverei, wo die Überwachung schwarzer Körper nicht allein staatlichen Institutionen oblag. Ihre Unterdrückung basierte auf einem erweiterten Polizeikonzept, in dem nicht nur Beamte oder offiziell Beauftragte für die Sicherheit der (weiß dominierten) Gemeinschaft Verantwortung übernahmen, sondern an der potenziell alle weißen Bürger:innen teilhatten. Dieses weitreichende Verständnis von Polizierungsmacht spiegelt sich bis heute in Gewaltakten gegen schwarze Amerikaner:innen wider und steht der konstruktiven Kritik an Polizeiarbeit im Weg.
Slave Codes und der ‚Zweck‘ schwarzer Mobilität

The Slavery Code of the District of Columbia, 1862; Quelle: loc.gov
In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begannen britische Kolonien wie Barbados, Jamaika oder Carolina, deren Wirtschaft zu einem überwiegenden Teil auf der Ausbeutung von schwarzen Menschen beruhte, „Sitten und Gebräuche“ des Lebens dieser Versklavten staatlich zu ordnen und ihnen einen rechtlichen Rahmen zu geben. Neben Bestimmungen über Alltagsleben wie Kleidung oder Heirat von Versklavten wurden in diesen sogenannten Slave Codes bestimmte Straftatbestände wie Diebstahl oder Brandstiftung detailliert aufgeführt und die dafür vorgesehenen Strafen definiert. Im Zentrum dieser Gesetze standen vor allem Bestimmungen über die Bewegungsfreiheit von Versklavten. Der Carolina Slave Code (1712) regelte beispielsweise gleich im zweiten Abschnitt, dass sich Schwarze nicht jenseits der Grenzen einer Plantage bewegen dürften, es sei denn, sie trügen eine schriftliche Erlaubnis ihrer ‚Besitzer:innen‘ („a ticket, or leave in writing“) bei sich. Zusätzlich mussten solche Ausgänge mit einem konkreten Auftrag wie einem Botengang begründet werden – schwarze Mobilität war also notwendigerweise an einen konkreten Zweck gebunden und fremdbestimmt, sie verblieb unter dem Verdacht einer Straftat wie Flucht oder Rebellion.
In diesem Sinne war jede weiße Person berechtigt, diese Nachweise zu kontrollieren und Bestimmungen wie nächtliche Ausgangssperren entsprechend mit Gewalt durchzusetzen – d.h. Versklavte an ihre ‚Besitzer:innen‘ zu überstellen. Von Beginn des 18. Jahrhunderts an wurden diese Regelungen bis zum Ende des Bürgerkriegs 1865 stetig erneuert und erweitert, die Einschränkung von Mobilität und das damit begründete Polizeiverständnis blieb ein zentrales Element der Codes: Der Ausgangspass stellte schwarze Mobilität grundsätzlich unter Verdacht, zweifelte ihre Legitimität an und schränkte gewaltvoll die Räume ein, innerhalb derer sich Afroamerikaner:innen bewegen konnten. Besonders in Zeiten gefühlter Bedrohung fand die Polizierung solcher Bewegungen in organisierter Form statt: durch die Mobilisierung von sogenannten Slave Patrols.
Slave Patrols: Eine frühe Form der Polizei

Sklaven müssen auf einer Straße in New Orleans ihre Pässe zeigen, 1863; Quelle: lccn.loc.gov
Slave Patrols waren eine der ersten Polizeitruppen in Nordamerika. Vor allem in den Südstaaten, wo der Bevölkerungsanteil von Afroamerikaner:innen teilweise bei fünfzig Prozent lag, bestand ihr Hauptzweck darin, flüchtige Versklavte zu stellen sowie Revolten entgegenzutreten. Diese Truppen konnten bei Bedarf mobilisiert werden, um auf eine Krise zu reagieren. Sie waren lokal organisiert und folgten klaren Hierarchien mit militärischen Organisationsprinzipien. Bewaffnung und Munition stellten die jeweiligen Patrouillen teilweise selbst oder sie wurden bei Bedarf von Behörden wie den Gouverneuren der Kolonien oder Staaten unterstützt. Viele Orte in den Südstaaten hatten für diesen Zweck eigens ein Arsenal oder Waffenmagazin eingerichtet. Jeder weiße Mann, der fähig war eine Waffe zu tragen, war verpflichtet in solchen Milizen zu dienen; dafür erhielten die Beteiligten meist eine kleine finanzielle Aufwandsentschädigung. Vor allem waren es eher arme weiße Männer, die sich hier ein Zubrot verdienten und ihren eigenen sozialen Status aufwerteten, indem sie die Hierarchie der Südstaaten selbst mit Macht durchsetzen konnten.
Diese Ermächtigung und die Möglichkeit zur Teilhabe, die verpflichtende Komplizenschaft in der Durchsetzung rassistischer Strukturen wurden zu einer beständigen Demonstration vermeintlicher weißer Überlegenheit und Ungleichheit. Der weiße Kontrollblick war damit nicht auf staatliche Behörden beschränkt: Slave Patrols waren eine Art privater Polizei, an der die gesamte weiße männliche Bevölkerung in den Südstaaten teilhatte. Jedermann beteiligte sich an der Bestimmung und Sanktionierung schwarzer Mobilität sowie der engen Räume, innerhalb derer sich schwarze Menschen legitim bewegen durften. Im Slave Patrol Statute von Louisiana (1835) wurde festgelegt, dass grundsätzlich alle Versklavten festzunehmen und körperlich zu bestrafen seien, die sich in Wäldern oder Sümpfen aufhielten, besonders wenn sie mit Fackeln oder offenem Feuer hantierten. Aus Angst vor Brandstiftung oder Aufruhr stand der Aufenthalt von Schwarzen in solchen undurchsichtigen Räumen unter Generalverdacht. Schwarze Mobilität war grundsätzlich illegitim.
Überwachung nach dem Ende der Sklaverei

Bewaffnete Mitglieder des Kuk Klux Klan, 1868; Quelle: encyclopediavirginia_org
Nach dem Ende des Bürgerkriegs 1865 fand die Idee privater Polizierung von schwarzen Männern und Frauen ihre Fortsetzung in den Übergriffen des Ku Klux Klan. Diese Terrororganisation setzte es sich zum Ziel, auch nach Abschaffung der Sklaverei den Aktionsradius von Afroamerikaner:innen gewaltvoll zu begrenzen – und der Klan konstituierte sich aus einer ähnlichen Anhängerschaft wie vorher die Slave Patrols: weiße Männer, zwischen zwanzig und vierzig Jahren alt, die mit Billigung und oft auch Beteiligung lokaler Geschäftsleute das Recht selbst in die Hand nahmen und angesichts neuer Gesetze die alten rassistischen Ordnungen aufrechterhalten wollten. In den Gewaltakten des KKK sollte schwarzen Menschen ‚ihr‘ Platz zugewiesen werden, in Lynchings wurde später vermeintliche white supremacy auch nach dem Ende der Sklaverei brutal hergestellt und öffentlich zur Schau gestellt. Der KKK stand damit in seinem Selbstverständnis als Bürgerwehr in der Tradition von Slave Codes und Slave Patrols, die ihre Macht aus einem erweiterten Polizeiverständnis bezogen. Wie Helen Gibson in ihrem Forschungsprojekt über schwarze Automobilität in den USA zeigt, stellte freie und selbstbestimmte Mobilität von Afroamerikaner:innen im weißen Blick bis weit ins 20. Jahrhundert eine Bedrohung dar – sei es im lustvollen Joyriding, im Urlaubstrip mit dem Auto oder sogar in der Arbeit als Chauffeur.
Polizeireform und die Echos des kolonialen Erbes
Als Ahmaud Arbery am 23. Februar 2020 in der Nähe seines Hauses in Brunswick, Georgia, zum Joggen aufbrach, rief einer seiner Nachbarn den Notruf der Polizei an: „There’s a black male running down the street. […] Stop!” Sekunden später war Arbery tot – verfolgt, gestellt und erschossen von zwei selbst ernannten Ordnungshütern auf einem Pickup-Truck. Dieser vermeintliche Akt der Selbstverteidigung, wie ihn Anwälte der Täter rechtfertigten, erinnert stark an die verdachtsorientierte Illegitimität schwarzer Mobilität, der schon früher mit einer bürgerlichen und allgemeinen Überwachung von Raum und Ordnung begegnet wurde. Die historisch eingeübte Selbstermächtigung in der privaten Sicherung der eigenen Nachbarschaft gegen verdächtige schwarze Subjekte findet sich bis heute. Der Generalverdacht, den das Erbe der Kolonialzeit dem amerikanischen Alltag eingeschrieben hat, macht gerade schwarze Männer zu Objekten alltäglicher Überwachung und eröffnet den Eskalationsraum für die Gewalt von Polizisten gegen Afroamerikaner:innen. Die rassistische Polizeigewalt ist in den USA insofern kein Sonderfall in einer ansonsten um Reformen bemühten Gesellschaft. Immer wieder behaupten vor allem konservative Kommentator:innen, es handele sich um die Taten einiger weniger Ausreißer („bad apples“). Schaut man jedoch in die Geschichte schwarzer Mobilität, so ist diese Polizeiarbeit die Fortsetzung von Kontrollpraktiken, die von breitem Konsens getragen werden und weit in die Kolonialzeit Nordamerikas zurückreichen. Somit wird jeder traffic stop zu einem schmerzhaften Echo des rassistischen Erbes dieses Landes, zu einer modernen slave patrol. Polizeireformen können nur im Anerkennen dieser historischen Resonanzen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene beginnen. Eine weitere Untersuchungskommission wird das Problem kaum beheben können.