Das „Volk“ erfährt seit einigen Jahren in der rechtspopulistischen Bewegungs- und Parteienlandschaft Europas eine zweifelhafte Auferstehung. Ursprünglich Ausdruck politischer Emanzipation, verkommt der Begriff wieder einmal zur Rechtfertigung von ethnischer Identitätspolitik und Fremdenfeindlichkeit. Höchste Zeit ihn ad acta zu legen.

  • Christian Büschges

    Christian Büschges ist Professor für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte an der Universität Bern. Er forscht zu sozialen Bewegungen und Identitätspolitiken in vergleichender und globaler Perspektive.

„Wir sind das Volk“ skan­dierte die ostdeut­sche Bürger­rechts­be­we­gung im Oktober 1989 gegen den Auto­ri­ta­rismus der DDR-Führung. Nur einen Monat später verschob sich der Slogan der Montags­de­mons­tra­tionen zu „Wir sind ein Volk“, dem Schlachtruf der deut­schen Wieder­ver­ei­ni­gung. Als im Herbst 2014 in Leipzig und Dresden die „Wir sind das Volk“-Chöre erneut anhoben, hatten sich Inhalt und Inten­tion der Proteste erneut verschoben. Während sich PEGIDA gerne zum Sprach­rohr der poli­tisch Über­gan­genen stili­sierte, provo­zierten selbst führende Vertreter der Bewe­gung und der mit ihr verban­delten Alter­na­tive für Deutsch­land (AfD) mit einer aggres­siven Islam- und Frem­den­feind­lich­keit. Die von der AfD in den aktu­ellen Entwürfen zum Partei­pro­gramm gefor­derte Einfüh­rung von Volks­ent­scheiden nach Schweizer Vorbild geht somit unmit­telbar einher mit dem Wunsch nach einer Stär­kung der „historisch-kulturellen Iden­tität“ des deut­schen Volkes. Wenn wiederum die zwischen Regie­rungs­ver­ant­wor­tung und ausser­par­la­men­ta­ri­scher Oppo­si­tion chan­gie­rende Schweizer Volks­partei (SVP) die Stimme des Volkes zu reprä­sen­tieren bean­sprucht, geht es viel­fach um die Vertei­di­gung spezi­fisch Schwei­ze­ri­scher Werte, die sie gerne gegen die Euro­päi­sche Union und „den Islam“ in Stel­lung bringt. Für die AfD, die SVP und die auch andern­orts aufstre­benden rechts­po­pu­lis­ti­schen Parteien Europas, wie Öster­reichs FPÖ oder Frank­reichs Front National, ist klar: „Das“ Volk soll „ein“ Volk sein, eine poli­ti­sche und eine ethni­sche, d.h. histo­risch gewach­sene kultu­relle Gemeinschaft.

Ethni­sche Iden­ti­täts­po­li­tiken im Wandel

Die ethni­sche Begrün­dung des Poli­ti­schen ist keines­wegs selbst­ver­ständ­lich, sondern histo­risch jüngeren Datums. Erst im späten 18. Jahr­hun­dert sind mit der aufklä­re­ri­schen Vorstel­lung des Volkes als poli­ti­schem Souverän und dem roman­ti­schen Ideal des Volkes als kultu­reller Gemein­schaft die beiden Kern­ele­mente moderner Staat­lich­keit entstanden, die im 19. Jahr­hun­dert ihren klas­si­schen Ausdruck im Natio­nal­staat finden sollten. Bis ins frühe 20. Jahr­hun­dert setzte sich zunächst in Europa und Amerika die Über­zeu­gung durch, dass die terri­to­riale Einheit des Staates auf der Über­ein­stim­mung poli­ti­scher und ethni­scher Grenzen beruhen sollte. Doch auch in anderen Teilen der Welt wurde die Verschrän­kung von Ethni­schem und Poli­ti­schem zum Leit­bild der Schaf­fung, Gestal­tung und Reform neuer Staaten. Im Rahmen der grossen Deko­lo­ni­sie­rungs­welle in Afrika von den 1950er bis zu den 1970er Jahren lässt sich die letzte globale Hoch­kon­junktur und zugleich die Proble­matik dieser poli­ti­schen Doktrin beobachten.

No-Pegida-Demonstration, Quelle: http://www.testspiel.de/neulich-bei-einer-no-pegida-demo-wenn-ihr-das-volk-waert-waer-ich-fluechtling/309984/

„Neulich bei einer No-Pegida Demo“, Quelle: testspiel.de/

Schon seit den 1960er Jahren wurde das Ideal der kultu­rellen Homo­ge­nität des Natio­nal­staats welt­weit durch verschie­dene soziale und poli­ti­sche Bewe­gungen in Frage gestellt, die auf die anhal­tende Diskri­mi­nie­rung ethni­scher Minder­heiten aufmerksam machten. Bis zu den 1990er Jahren entwi­ckelten sich daher „Minder­hei­ten­schutz“, „Pluri­eth­ni­zität“ und „Multi­kul­tu­ra­lismus“ zu Leit­vo­ka­beln globaler poli­ti­scher Debatten. Auch Deutsch­land, Öster­reich und vor allem die Schweiz blicken auf eine lange Tradi­tion der Aner­ken­nung unter­schied­li­cher „ethni­scher Gruppen“ zurück. Während die däni­sche und sorbi­sche Minder­heit in Deutsch­land, oder die slowe­ni­sche und unga­ri­sche Volks­gruppe in Öster­reich, einen staat­lich aner­kannten, in der Öffent­lich­keit weit­ge­hend unbe­merkten Sonder­status geniessen, gehört die „ethni­sche Viel­falt“ zum histo­ri­schen Kern­be­stand des Schweizer Selbst­ver­ständ­nisses und wird durch viel­fäl­tige poli­ti­sche Mass­nahmen gestützt. Darunter fallen neben Sprach­quoten in der Bundes­ver­wal­tung nicht zuletzt die Stär­kung der Kantons- und Gemein­de­ver­wal­tung. Wie das Beispiel des 1979 geschaf­fenen Kantons Jura zeigt, verläuft die prak­ti­sche Umset­zung multi­kul­tu­reller Politik jedoch selbst in der Schweiz nicht ohne Reibe­reien. In jenem Jahr endete für einen Teil des über­wie­gend fran­zö­sisch­spra­chigen und katho­li­schen äußersten Nord­wes­tens des Landes die 165 Jahre andau­ernde Verwal­tung durch den über­wie­gend deutsch­spra­chigen und protes­tan­ti­schen Kanton Bern. Die neuen Verwal­tungs­grenzen waren das Resultat eines bis ins 19. Jahr­hun­dert zurück­ge­henden Kultur­kampfes, der im 20. Jahr­hun­dert immer wieder zu gewalt­tä­tigen Ausein­an­der­set­zungen führte. Anfang 2012 einigten sich die Kantone Jura und Bern nach jahre­langer Vermitt­lung durch die Bundes­re­gie­rung in Bern auf ein mehr­stu­figes Verfahren der Volks­be­fra­gung über den Verlauf der künf­tigen Kantons­grenze, das erst im Jahr 2017 mit einer Abstim­mung in der Gemeinde Moutier abge­schlossen sein wird.

Der sene­ga­le­si­sche Schwinger Diey­lani Pouye, 2013; Quelle: 20Min.ch

Letzt­lich kämpft die Politik des Multi­kul­tu­ra­lismus mit den glei­chen Problemen wie der Natio­nal­staat, nämlich dem schwie­rigen bis unmög­li­chen Unter­fangen, eindeu­tige poli­ti­sche Grenz­zie­hungen auf der Grund­lage ethnisch defi­nierter Iden­ti­täten vorzu­nehmen. Beson­ders umstritten ist der Multi­kul­tu­ra­lismus bis heute im Kontext der Migra­tion. Bereits der poli­ti­sche Umgang mit den „Gast­ar­bei­tern“ der 1960er und 1970er Jahre in Deutsch­land, Öster­reich und der Schweiz haben dies gezeigt. Die Italiener in der Schweiz, Jugo­slawen in Öster­reich oder Türken in Deutsch­land sahen sich viel­fach der Auffor­de­rung zur „Inte­gra­tion“ oder gar „Assi­mi­la­tion“ ausge­setzt. In den letzten Jahren hat sich der Multi­kul­tu­ra­lismus in der poli­ti­schen Debatte fast zu einem Schimpf­wort entwi­ckelt. So erklärte Bundes­kanz­lerin Angela Merkel im Oktober 2010 den „Ansatz für Multi­kulti“ als „geschei­tert, absolut geschei­tert“, und in der Schweiz wird der Multi­kul­tu­ra­lismus von konser­va­tiver Seite heute gerne als „links­grüne“ Träu­merei oder Ideo­logie abgetan.

Demge­gen­über ist in der Schweiz, Öster­reich und Deutsch­land seit den 1990er Jahren der poli­ti­sche Ruf nach einer natio­nalen Leit­kultur laut geworden. Die aktu­elle Renais­sance natio­naler Iden­ti­täts­po­li­tiken in Europa bleibt frei­lich inhalt­lich diffus und ist in ihrer frem­den­feind­li­chen Zuspit­zung uner­träg­lich. Man muss nicht die rheto­ri­sche Keule von Rassismus oder Nazismus ziehen, um den sozialen Unfrieden zu beklagen, den die aktu­ellen rechts­po­pu­lis­ti­schen Strö­mungen im Namen des heimi­schen „Volkes“ säen und dabei in den Berei­chen von Kultur und Reli­gion, Familie und Gesell­schaft extrem konser­va­tive und into­le­rante Posi­tionen vertreten.

Karikatur Dortmund,(© Tom Körner), Quelle: http://www.bpb.de/lernen/grafstat/rechtsextremismus/176217/m-01-09-karikaturen?type=galerie&show=image&i=176237

© Tom Körner, Quelle: bpb.de

Die kate­go­ri­sche Unter­schei­dung von Eigenem und Fremden hält einer Über­prü­fung der Alltags­rea­lität ohnehin nicht stand. Im März wusste die Emmen­taler Gazette D’Region unter dem Aufma­cher „Ein grosses Herz für Asyl­su­chende“ zu berichten, dass sich das Stimm­volk der Gemeinde Hasle mit grosser Mehr­heit für die Beibe­hal­tung eines Asyl­zen­trums für minder­jäh­rige Flücht­linge im Weiler Schaf­hausen ausge­spro­chen hatte. Selbst die von einem lokalen Vertreter der Sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Partei (!) ange­führten Gegner des Zentrums mussten schliess­lich zugeben, dass die Unter­brin­gung und der örtliche Schul­un­ter­richt der Kinder und Jugend­li­chen aus Eritrea, Syrien, Sri Lanka, Irak, China und vielen anderen Ländern absolut problemlos verliefen. Diese Geschichte ist nicht nur ein Lehr­stück unauf­ge­regter Inte­gra­tion, sondern zeigt oben­drein, dass auch die je nach poli­ti­scher Couleur gerne über­höhte oder geschol­tene Provinz das Herz auf dem rechten Fleck haben kann.

Assi­mi­la­tion versus Parallelgesellschaft?

Bleibt wirk­lich nur die poli­ti­sche Wahl zwischen Assi­mi­la­tion und ethni­scher Ausgren­zung, das Bekenntnis zur „Leit­kultur“ der Mehr­heits­ge­sell­schaft oder der Rückzug in die vom Multi­kul­tu­ra­lismus verharm­loste „Paral­lel­ge­sell­schaft“? Die Erfolgs­ge­schichten von Fuss­bal­lern der deut­schen, öster­rei­chi­schen oder schwei­ze­ri­schen Fuss­ball­na­tio­nal­mann­schaften, die aus Migran­ten­fa­mi­lien stammen, erzählen eine andere Geschichte. Darüber hinaus beklagen in Deutsch­land gebo­rene Kinder türki­scher Einwan­derer den gesell­schaft­li­chen Druck zur öffent­li­chen Annahme einer klar defi­nierten, homo­genen ethni­schen Iden­tität. Umso proble­ma­ti­scher ist die Tatsache, dass die ethni­sche Abwer­tung oder Ausgren­zung von Menschen nicht nur Migranten der ersten Gene­ra­tion trifft, sondern auch Menschen, deren fami­liäre Migra­ti­ons­ge­schichte Gene­ra­tionen zurück­liegt und von geringer Bedeu­tung ist, die aufgrund ihrer Haut­farbe, Reli­gion oder Klei­dung aber dennoch als „fremd“ wahr­ge­nommen werden.

Ange­sichts der Proble­matik eines den Konzepten von „Leit­kultur“ und „Multi­kul­tu­ra­lismus“ glei­cher­massen zugrun­de­lie­genden, auf vermeint­lich homo­gene ethni­sche Gruppen einge­engten Kultur­be­griffs liegt der Appell an die poli­ti­schen Akteure nahe, auf eine ethni­sche Begrün­dung poli­ti­scher Forde­rungen grund­sätz­lich zu verzichten. Aktu­elle wissen­schaft­liche Debatten um neue Gesell­schafts­per­spek­tiven jenseits des Multi­kul­tu­ra­lismus liefern mit den Stich­wör­tern „Post-Ethnizität“, „Inter­kul­tu­ra­lität“ oder „Diver­sität“ viel­fäl­tige Anre­gungen, die sich nicht auf die vermeint­liche Spezifik post­mi­gran­ti­scher Gesell­schaften redu­zieren. Dabei wird einer­seits das poli­ti­sche Postulat der Unum­kehr­bar­keit und Ausschließ­lich­keit ethnisch defi­nierter sozialer Grenzen kriti­siert, ande­rer­seits das Verhältnis zwischen dem Sonder­status staat­lich aner­kannter ethni­scher Gruppen und den Ansprü­chen univer­seller Menschen- und Bürger­rechte disku­tiert. Als „Diver­si­fi­zie­rung der Diver­sität“ erwei­tert sich der Multi­kul­tu­ra­lismus zu einer Aner­ken­nung viel­fäl­tiger, nicht auf Abstam­mungs­ge­mein­schaften redu­zier­barer kultu­reller Tradi­tionen und Lebens­stile, die auch andere Iden­ti­täts­marker wie Klasse, Geschlecht oder Alter umfassen. Nun ist es aller­dings so, dass für die heutigen rechts­po­pu­lis­ti­schen Parteien genau diese Diver­sität, Offen­heit und Durch­läs­sig­keit das zentrale Problem­feld darstellen. So gehört es zu den Grund­über­zeu­gungen der AfD, dass „Diver­sity“ eine von „poli­ti­schen Lobby­gruppen“ aus dem „angel­säch­si­schen Raum“ über­nom­mene und in Deutsch­land über die EU durch­ge­drückte auslän­di­sche Ideo­logie sei. Das Fremde lauert offenbar überall.

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