Die Tage sind gezählt. Nur noch wenige Wochen, dann schließt in Bottrop mit der Zeche Prosper-Haniel das letzte Steinkohlenbergwerk des Ruhrgebiets seine Tore. Die Einstellung der Steinkohlesubventionen zum Jahresende macht deren Förderung endgültig unrentabel. Im Dezember ist deshalb Schicht im Schacht. Zwischen Rhein und Ruhr geht damit ein langer Abschied zu Ende, der vor 60 Jahren begann: Etwa eine halbe Millionen Menschen waren auf dem Höhepunkt des Ruhrbergbaus in knapp 150 Zechen beschäftigt, bevor die Kohlekrise am Ende der 1950er Jahre das lange Sterben der Zechen einläutete. In Bottrop kommt es nun zu seinem Abschluss. Für die Region zwischen Duisburg und Dortmund ist dies zumindest symbolisch ein wichtiges Datum. Auch wenn Bergbaustädte wie Bochum, Essen oder Herne bereits Mitte der 1970er Jahre so gut wie keine Zechen mehr besaßen: Für die Selbstbeschreibung der Region spielt das industrielle Erbe eine nicht zu überschätzende Rolle. Ruhrgebiet, das sind noch immer Fördertürme und Fabrikschlote – wenn auch nicht mehr qualmend, sondern in bunter Beleuchtung.
Das Zechensterben als Kulturevent

Wie das Ruhrgebiet sich gerne sieht: Industrieruinen in bunten Farben; Quelle: ruhrpottpedia.de
Entsprechend ausgiebig begeht das Revier den Abschied: Zeitungen lassen ehemalige Bergleute von ihrer anstrengenden Arbeit unter Tage erzählen. Auf Tagungen und Konferenzen wird debattiert, wie sich der Blick in die Vergangenheit der Region mit der Gestaltung ihrer Zukunft verbinden lässt. Geschichts- und Kunstausstellungen zum Thema demonstrieren, welche reichhaltige Kulturlandschaft im Ruhrgebiet inzwischen gewachsen ist: Das Ende des Bergbaus ist heute vor allem ein Kulturevent. Angesichts des Bombasts dieses Abschiednehmens ist es hilfreich sich daran zu erinnern, dass all dies selbst am Ende einer langen Entwicklung steht, die gleichfalls mit dem Beginn der Kohlekrise einsetzte. Als die Schließung der ersten Zechenanlagen Ende der 1950er Jahre die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das Ruhrgebiet lenkte, wurde damit auch das Interesse von Schriftstellerinnen, Fotografen, Dokumentar- und Spielfilmern für die Region geweckt. Ihre eindrucksvolle Industrievergangenheit, ihre ungewisse Zukunft und die politische Brisanz, die der Strukturwandel im „roten Ruhrgebiet“ immer besaß, machten den drittgrößten Ballungsraum Europas zu einem idealen Gegenstand für Künste, die eben in dieser Zeit nach neuen Formen suchten, Wirklichkeit zu beschreiben. Mit dem Anfang vom Ende des Ruhrbergbaus setzte so eine Neuentdeckung des Ruhrgebiets in Literatur und Film, später auch in der Geschichtswissenschaft ein, die einen ihrer ersten Höhepunkte vor 50 Jahren genau an jenem Ort fand, auf den sich heute wieder die Aufmerksamkeit richtet: in Bottrop.
Hierhin zog es 1967 die Theaterwissenschaftlerin Erika Runge. Runge hatte wenige Jahre zuvor in München über expressionistische Dramen und Aufführungspraktiken promoviert und anschließend für den Bayrischen Rundfunk dokumentarische Kurzfilme gedreht. Zugleich hatte sie sich in der Studentenbewegung der frühen 1960er Jahre einen Namen gemacht: Runge war SDS-Mitglied gewesen, hatte sich bereits Ende der 1950er Jahre mit viel Elan gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr engagiert und war in dieser Zeit auch eine der ersten Redakteurinnen der konkret gewesen. 1968, nach ihrem Aufenthalt in Bottrop, trat sie in die DKP ein. Es war das Zechensterben, das die Stadt im Jahr zuvor erreicht und Runge ins Ruhrgebiet geführt hatte: Die 1895 gegründete Schachtanlage Möller/Rheinbaben stand vor dem Aus. Runge knüpfte an die Krise durchaus politische Hoffnungen. Eine proletarische Revolution habe sie miterleben wollen, berichtete sie später über ihre Motivation. Dennoch kam sie nicht als kommunistische Agitatorin, die versuchte, der Unzufriedenheit Struktur zu geben und den Aufstand zu organisieren. Die Rolle, die sie in Bottrop für sich fand, war die einer Beobachterin: „Neugierig“, zu wissen, „was in den Köpfen der Leute geschieht, wenn sie sich ökonomisch und persönlich in so einer schwierigen Situation befinden“, begann sie Interviews mit „verschiedenen Bergarbeitern, deren Frauen, mit Bewohnern der Stadt“ zu führen. Aus ihren Aufzeichnungen arrangierte sie anschließend ein schmales Büchlein, das 1968 im Suhrkamp-Verlag erschien: Die Bottroper Protokolle.
Erkundungen im Ruhrgebiet: Die Bottroper Protokolle

Innenstadt Bottrop, 1960er Jahre, Quelle: flickr.com
Auf knapp 150 Seiten ließ Runge in acht Kapiteln Menschen aus Bottrop auftreten, die aus ihrem Leben in der Industriestadt berichteten. Den Anfang macht der ehemalige Betriebsratsvorsitzende der Schachtanlage, Clemens K., dessen Lebensweg dem Ideal eines proletarischen Helden durchaus nahe kommt: Kurz nach der Jahrhundertwende in Bottrop geboren, der Vater Bergmann, er selbst seit seinem 14. Lebensjahr auf Rheinbaben beschäftigt. Seine erste Schicht unter Tage absolviert er an seinem 16. Geburtstag. Zunächst sozialdemokratisch orientiert, wendet er sich in den 1920er Jahren enttäuscht von der SPD ab und den Kommunisten zu. 1933 dann engagiert für die illegale KPD: Er verteilt Flugblätter gegen den Terror der nationalsozialistischen „Machtergreifung“. Wenig später wird er verhaftet und verbringt einige Zeit in den ersten Konzentrationslagern der NS-Diktatur. Während des Krieges ist er bemüht, das Leid der sowjetischen Kriegsgefangenen zu lindern, mit denen er unter Tage Kohle herausbricht. Nach dem Krieg wird er dann ein breit geschätzter Betriebsratsvorsitzender, der mit Nachdruck und Erfolg für konkrete Verbesserungen der Arbeitsbedingungen kämpft, bis er 1961 aufgrund seiner kommunistischen Überzeugung entlassen wird.
Clemens K. hatte Eindruck auf Erika Runge gemacht. Das zeigt sich schon an dem Raum, den sie seinem Bericht in dem Buch einräumte. Aber dennoch machte sie aus den Bottroper Protokollen keine Anthologie proletarischer Heldengeschichten. Bei aller politischen Absicht, die in dem Projekt steckte, schuf Runge etwas anderes, als die Arbeiterromane aus Kaiserreich und Weimarer Republik, die zu dieser Zeit noch einmal ein Revival erlebten und die Sehnsüchte der revolutionären Studenten nach der schlagkräftigen Arbeiterklasse befeuerten. Neben den Bericht des kommunistischen Betriebsratsvorsitzenden stellte Runge die Schilderungen weiterer Personen: Den Pfarrer Johannes L., der von den Schwierigkeiten und Erfolgen berichtet, in der Zechensiedlung ein christliches Gemeindeleben in Gang zu bringen, und den Rektor Heinrich W., der die örtliche Schule leitet und trotz der Widrigkeiten bemüht ist, den Bergarbeiterkindern durch Bildung sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Die Hausfrau Erna E. und die Putzfrau Maria B., deren Erzählungen von Wasch- und Hausarbeiten äußerst selbstbewusste Leben sichtbar machen. Den Verkäufer Dieter V., den Beat-Sänger Rolf S. und die kaufmännische Angestellte Verena D., die erst nach dem Krieg geboren wurden und nach eigenen Wegen suchten, ein Leben jenseits der Zeche zu führen. Statt einem klaren Standpunkt nimmt das Buch verschiedene Perspektiven ein und eröffnet ein Gewirr an Stimmen, die sich kreuzen und kommentieren, aber ebenso jeweils Eigenes in den Blick nehmen.
Abverlangte Literatur

Bochum, 2018; Quelle: wdr.de
Neben der Vielzahl an Perspektiven ist es vor allem die Art der Erzählung, die die Bottroper Protokolle vor heroischen Stereotypen bewahrt: Runge erzählt nicht von Arbeitern, sie lässt sie selbst zu Wort kommen. Anders als der Titel nahelegt, enthält das Buch dabei keine getreuen Verschriftlichungen der Gespräche, die Runge mit den Bottropern führte. Sie verdichtete deren Schilderungen, ließ ihre eigenen Fragen weg, raffte Doppelungen und arrangierte das Berichtete in neuer Weise. Diese Technik entsprach der filmischen Montagetechnik, die Runge vom Dokumentarfilm her kannte. Doch wo der Schnitt im Film meist sichtbar bleibt, entstand in dem Buch auf diese Weise etwas Neues: durchgehende Erzählungen aus der Ich-Perspektive, die einen großen Sog zu entwickeln vermögen. Runge griff also durchaus tief in das gesammelte Material ein, tat dies jedoch gleichzeitig mit großer Sensibilität für das Erzählte und mit Respekt vor den Eigenheiten ihrer Gesprächspartner.
Auch deshalb werden in den Bottroper Protokollen statt stereotyper Figuren konkrete Menschen sichtbar. Ihre Berichte erzählen stets mehr als das persönliche Schicksal, sind aber dennoch gefüllt mit eigenen Erfahrungen, Interessen und Hoffnungen. Sichtbar ist dies nicht zuletzt in der Sprache, deren unterschiedlichen Klang Runge in der Verschriftlichung bewahrt. In welchen Beziehungen und Abhängigkeiten die Menschen stehen, zeigt sich in dem Buch auch daran, welche Worte sie benutzen. Nachdrücklich beharrte Runge deshalb trotz all der Eingriffe darauf, nicht Autorin der Bottroper Protokolle zu sein, sondern diese aufgezeichnet zu haben. „Jeder Einzelne“ sei im Stande, „Literatur zu produzieren“. Sie habe nur als „Katalysator“ fungiert, ihren Gesprächspartnern „die Literatur abverlangt“.
In Aussagen wie dieser wird die ganze Romantik sichtbar, die in der Hinwendung zu den „kleinen Leuten“ steckte, aber auch Runges ernsthaftes Interesse an ihnen. Statt um die glorreiche Arbeiterbewegung des Ruhrgebiets ging es ihr um die Bottroper der Gegenwart: um ihre Hoffnungen, ihre Nöte und ihr selbstbewusstes Eintreten für die eigenen Belange. Den Fluchtpunkt des Buches bildet dementsprechend die Betriebsversammlung der Zechenanlage Möller/Rheinbaben, in der der Vorstand der Bergwerksgesellschaft die kurz zuvor bekannt gegebene Zechenschließung gegenüber der Belegschaft verteidigte. Es gibt nur wenige direkte Bezüge zwischen den nun tatsächlich im Stil eines Protokolls festgehaltenen Entgegnungen der Bergleute und den vorangegangenen Berichten ihrer Protagonisten. Aber vor diesem Hintergrund fordern die teils wütenden, teils überlegten Wortmeldungen dazu auf, in ihnen die besondere Lebenslage und die vergangenen Erfahrungen zu entdecken, die das Leben in der Industriestadt bestimmen.
Vergangene Debatten und neue Lesarten

Mülheim an der Ruhr, 2018; Quelle: stadtbaukultur-nrw.de
Es ist heute nicht mehr leicht, die Aufregung nachzuvollziehen, die die Bottroper Protokolle bei ihrem Erscheinen auslösten. Zu vertraut sind die Geschichten vom Ruhrbergbau inzwischen geworden. Doch Ende der 1960er Jahre öffneten Bücher wie dieses noch den Blick in eine weitgehend unbekannte Welt, die auch politische Fragen aufwarf. „Es stimmt, ich lebe in einer Demokratie, die Politiker leben in einer Demokratie, die Journalisten leben in einer Demokratie“, schrieb Martin Walser in dem Vorwort, das er zu den Bottroper Protokollen beisteuerte. „Die Arbeiter und Arbeiterinnen, die hier zu Wort kommen, leben nicht in derselben Demokratie. Die Arbeiter und ihre Familien aus Bottrop kommen ja nicht zu Wort. Sie schreiben nicht in der Zeitung, sie sitzen nicht im Parlament, sie schreiben keine Bücher.“ Nur hier, „in diesem Buch, kommen sie zu Wort“, nur hier ließen sich in den „von böser Erfahrung geschärften Aussagen“, „Seufzern, Flüchen, Sprüchen und Widersprüchen“ die „Zeugnisse einer immer noch nach minderem Recht lebenden Klasse“ entdecken. Das wollten viele: Nur zwei Jahre nach seinem Erscheinen waren 36.000 Exemplare des Buches verkauft, bis Mitte der 1980er Jahre waren mehr als 125.000 Exemplare gedruckt worden.
Die Bottroper Protokolle waren eine literarische Sensation, die weitreichende Diskussionen über den Gegenstand und über die Funktion von Literatur antrieben und das Buch schnell zu einem Klassiker machten. Was hat uns das Buch heute zu sagen, wo die Geschichte des Ruhrgebiets so vielfach erzählt und gezeigt wird? Zunächst zeichnen die Bottroper Protokolle noch immer ein beeindruckendes Panorama des beginnenden Strukturwandels im Ruhrgebiet. Wer angesichts des endgültigen Endes des Steinkohlenbergbaus wissen will, was das Ruhrgebiet der Kohle und des Stahls war, kann in den sperrigen Erzählungen der Bottroper das Porträt einer Stadt erkunden, die auf vielfältige Weise von ihrer Zeche abhängig ist. Es sind Details, die die alltägliche Bedeutung dieser Abhängigkeit eindrücklich vor Augen führen: etwa in dem Umstand, dass es nicht so sehr die Angst der Bergleute vor Arbeitslosigkeit ist, die sie auf die Barrikaden treibt. Am Beginn des Zechsterbens in den 1960er Jahren konnte die Bergbaugesellschaft im Fall von Bottrop Massenentlassungen noch umgehen, indem sie den Kumpeln Arbeit in anderen Bergwerken anbot. Sorgen machen sich die Bergleute vor allem über ihre Wohnungen, die der Zechengesellschaft gehören und deren Miete unmittelbar an ihre Beschäftigung geknüpft ist. Wie soll man sich in dieser Lage nach einem neuen Arbeitsplatz jenseits des Bergbaus umsehen, wenn die Entlassung aus der Zeche auch die Kündigung der Wohnung bedeutet? Und wenn der Arbeitsort bislang nur wenige Meter von der Zechensiedlung entfernt liegt, in der man lebt: Wie sollte man den nun notwendigen Weg zur Arbeit bewerkstelligen, wenn man sich tatsächlich an einen anderen Schacht versetzen ließ?
Das Ruhrgebiet jenseits von Kohle und Stahl
Doch die Bottroper Protokolle erzählen nicht nur vom Zeitalter der Montanindustrie und seinen Machtstrukturen, sozialen Abhängigkeiten und Chancen. Sie zeigen auch, wie sehr dieses Zeitalter in den 1960er Jahre zwischen Rhein und Ruhr an sein Ende gekommen war. Vor allem in den Berichten der jüngeren Stadtbewohner werden der Beginn eines anderen Ruhrgebiets und neue Sehnsüchte sichtbar, die nicht mehr auf Kohle und Stahl, auf Solidarität und Klassenbewusstsein gründen, sondern anders versuchen, sich vom Einfluss der Zeche zu befreien: Im Ruhm etwa, den der Verkäufer Dieter V. als Fußballspieler ebenso sucht wie der Beat-Sänger Rolf S. „Ich möchte ein unwahrscheinlich schwungvolles Leben führen“, schließt er seinen Bericht, der keinen Zweifel daran lässt, dass dieses aus seiner Sicht vor allem in Verdienst und Konsum zu finden ist, aber keinesfalls in politischen Großhoffnungen: „Den Kommunismus lehne ich ab.“ In den Forderungen der Bergmänner, die sie in der Betriebsversammlung gegenüber der Bergwerksgesellschaft aufstellen, finden sich die Träume dieser Stadtbewohner entsprechend kaum wieder. Es ist erstaunlich, wie vergangen neben ihren Lebensentwürfen bei der heutigen Lektüre jene Welt erscheint, an die sich die Bergmänner in ihrem Kampf gegen die Zechenbesitzer klammern. Lasen sich die verschiedenen Stimmen aus Bottrop für Martin Walser 1968 noch wie „Berichte aus der Klassengesellschaft“, fällt in ihnen heute mindestens ebenso der Beginn eines neuen Ruhrgebiets ins Auge, das nicht mehr der übersichtlichen Ordnung von Kapital und Arbeit, von Zechenbesitzern und organisierten Arbeitern folgt, und das an anderen Orten wächst als in den Zechen: in den Jugendclubs etwa, in denen junge Bottroperinnen der 1960er Jahre wie die kaufmännische Angestellte Verena D. ihre politische Sozialisation erleben.
Auch wenn dies nicht die Absicht von Erika Runge war: Erneut gelesen rücken die Bottroper Protokolle damit gerade eine Geschichte des Ruhrgebiets in den Blick, die in der gegenwärtigen Rückbesinnung der Region kaum eine Rolle spielt: Seine Geschichte jenseits von Kohle und Stahl, von „Glück auf“, verdreckten Kumpeln, von Zechen und Stahlwerken. Auch in dieser Weise ist die Relektüre der Bottroper Protokolle aufschlussreich, weil sie deutlich macht, wie sehr die Kulturindustrie des Ruhrgebiets inzwischen ihre anfängliche Neugier an den Bewohnern der Region gegen eine erstarrte Geschichtserzählung getauscht hat. Vielleicht wäre das Ende der Kohleförderung ein guter Zeitpunkt, dies wieder zu ändern.
Die Bottroper Protokolle sind das letzte Mal 2008 als Sonderedition des Suhrkamp Verlages erschienen (mit dem Dokumentarfilm „Warum ist Frau B. glücklich?“ von Erika Runge) und hier oder antiquarisch erhältlich.