

Carl Schurz als Generalmajor der Unionstruppen im Amerikanischen Bürgerkrieg; Quelle: thoughtco.com
Vierundfünfzig Straßen, vier Schulen, eine Kaserne und mehrere Einrichtungen der deutsch-amerikanischen Freundschaft sind in der Bundesrepublik nach Carl Schurz (1829-1906) benannt. Und während vielerlei Statuen und Straßenbenennungen heute in die Kritik stehen, erfährt Schurz 2022 sogar neue Ehrungen: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier will eine Büste von Schurz am Schloss Bellevue aufstellen lassen, und das Bundesland Nordrhein-Westfalen fördert die Erinnerung an den „bedeutende[n] Vorkämpfer unserer heutigen Demokratie“ und sein „Engagement für Menschenrechte und gegen Rassismus“ (so NRW-Heimatministerin Ina Scharrenbach) mit 145.000 Euro.
Im Kontrast zur hiesigen Begeisterung sind Teile von Schurz’ Lebenswerk in den USA aktuell ein Thema kritischer historischer Aufarbeitung: Anfang April legte die von US-Innenministerin Deb Haaland beauftragte Federal Boarding School Initiative in Washington einen Bericht zur jahrzehntelangen Zwangsverschickung indigener Kinder und deren Umerziehung in staatlichen Internaten vor. Haaland, die aus Arizona stammt und zum Laguna Pueblo gehört, ist die erste indigene Innenministerin.

U.S. Secretary of the Interior Deb Haaland; Quelle: instyle.com
Die Juristin schreibt: „Dieser Versuch, die Identität, Sprache und Kultur der Native Americans auszulöschen, zeigt sich nach wie vor in den Ungleichheiten, mit denen unsere Gemeinschaften konfrontiert sind. Dazu gehören langanhaltende generationenübergreifende Traumata, Zyklen der Gewalt und des Missbrauchs, Verschwinden, vorzeitige Todesfälle und weitere nicht dokumentierte physische und psychische Auswirkungen.“ Am Aufbau dieser brutalen Assimilierungsanstalten, ebenso wie am erzwungenen Ausverkauf der verbliebenen Reservate, hatte Schurz als Innenminister von 1877 bis 1881 einen herausragenden, wenn nicht sogar einen entscheidenden Anteil. Als Senator arbeitete er zudem der Einführung der Rassentrennung im Süden zu. In Deutschland sind diese Seiten des gefeierten Vorbildes bis heute nahezu unbekannt.
Hintergründe und Verklärungen

Quelle: amazon.de
Seine Berühmtheit in Deutschland verdankt der 1829 in Erftstadt-Liblar geborene Schurz dem Engagement als demokratischer Revolutionär 1848 in Bonn. Nach der niedergeschlagenen Revolution befreite er 1850 in einer spektakulären Aktion seinen Universitätslehrer und Freund Gottfried Kinkel aus dem Spandauer Zuchthaus und floh mit ihm nach Großbritannien. 1852 zog Schurz weiter in die USA wo er sich bald als Redner der neugegründeten Republikanischen Partei und Agitator der Sklavenbefreiung einen Namen machte. Nach dem Wahlsieg Abraham Lincolns 1860 wurde Schurz zunächst US-Botschafter in Spanien und nahm später am Bürgerkrieg im Range eines Generals teil. In der Nachkriegszeit folgten Stationen als Senator aus Missouri (1869-1875), streitbarer Journalist und schließlich als Innenminister unter Präsident Rutherford B. Hayes (1877-1881).
Aus Sicht seiner vorwiegend deutschen oder deutsch-amerikanischen Biografen bilden Schurz’ Jahre als Senator und Minister – mit kleinen Abstrichen – eine bruchlose Fortsetzung seiner freiheitlichen Bestrebungen aus der 1848er Revolution und der Zeit des US-amerikanischen Bürgerkrieges. Über Schurz’ Amtsführung als Minister schreibt der Schriftsteller Uwe Timm in dem 2021 von Frank-Walter Steinmeier herausgegebenen Sammelband Wegbereiter der Demokratie:
Er bemühte sich um die Gleichstellung der Afroamerikaner. Hinzu kommt der im Sinne der Aufklärung zu verstehende, aus heutiger Sicht problematische Versuch, die Indianer sesshaft zu machen, sie zu ‚zivilisieren‘. Er wies ihnen wie sein Vorgänger Reservate zu, entzog aber dem Kriegsministerium die Zuständigkeit für diese und unterstellte sie der zivilen Verwaltung.
Im Modus der demokratischen Kompromissfindung habe Schurz sich für benachteiligte Minderheiten eingesetzt – teilweise mit heute problematisierten Methoden, aber immerhin bleibe die gute Absicht. Leider stimmt beides nicht.
Afroamerikaner:innen im Süden
Während des US-amerikanischen Bürgerkriegs und unmittelbar danach trat Schurz als energischer Vertreter einer robusten Reconstruction der besiegten Südstaaten auf: Bundestruppen sollten die politische Teilhabe und Freiheit der eben befreiten ehemaligen Versklavten sicherstellen. Bereits 1871 vollzog Schurz jedoch als Senator eine Kehrtwende: Entgegen der republikanischen Parteilinie warb er nun offensiv für den Rückzug der Bundestruppen und die Wiederherstellung der „politischen Selbstbestimmung“ der Südstaaten. Ein Gesetz zur Verfolgung des Ku-Klux-Klans lehnte er ab. Die Intervention des Bundes im Süden stelle eine gefährliche Ansammlung staatlicher Macht dar, die Korruption alle Türen öffne, argumentierte Schurz. Zudem verhindere die ungerechte politische Ausgrenzung der südlichen Eliten, dass sich ein gedeihliches Miteinander von Schwarzen und Weißen einstellen könne. Der Historiker Eric Foner schreibt dazu: „Schurz glaubte aufrichtig, dass die Rechte der Schwarzen unter einer solchen Regierung sicherer sein würden als unter dem Regime der Reconstruction. Aber ob er sich dessen bewusst war oder nicht, sein Programm hatte keine andere Bedeutung als eine Rückkehr zur weißen Vorherrschaft.“

Schurz-Denkmal in West Harlem, New York City; Quelle: de.foursquare.com
Schurz‘ naiven Glauben strafte spätestens das tatsächliche Ende der Reconstruction Lügen. 1877, also mit dem Beginn seiner Amtszeit als Minister, zog sich die US-Regierung aus dem Süden zurück, woraufhin Afroamerikaner:innen mit Gewalt aus dem politischen Leben verdrängt und auf Jahrzehnte hinaus politisch und wirtschaftlich in ein Dasein als niedere Kaste gezwungen wurden. Die entscheidenden Maßnahmen auf der Bundesebene fielen nicht in Schurz’ Ressort, aber die Etablierung des Systems der weißen Vorherrschaft hatte er zuvor jahrelang befördert. Und auch die Resultate verunsicherten ihn noch Jahre später nicht in seiner Überzeugung. Über eine Reise durch den Süden berichtete er später:
Im Jahr 1885 … fand ich eine wunderbare Veränderung. Die Menschen, Weiße und Schwarze, arbeiteten ernsthaft und mit erstaunlichen Ergebnissen. Ich fand die Union in einem neuen Patriotismus wirklich wiederhergestellt. Es war in der Tat ein neuer Süden. Ich erkundigte mich sorgfältig nach den Beziehungen zwischen Weißen und Schwarzen. Ich stellte fest, dass die Freundschaft zwischen ihnen stetig wuchs und zu positiven Ergebnissen führte.
An die Stelle der Kritik an Versklavung und rassistischer Unterdrückung trat hier die Verharmlosung des Systems der Rassentrennung, das bis in die 1960er-Jahre Afroamerikaner:innen gewaltsam in Armut und Rechtlosigkeit niederhielt und dem Schurz selbst politisch den Weg bereitet hatte.
Indigene im Westen
Als Schurz 1877 sein Ministeramt antrat, waren fast alle indigenen Völker und Nationen, wie sie sich selbst nannten, bereits unter erzwungenen Verträgen in Reservate verbracht worden. Vor diesem Hintergrund fand eine Debatte um eine Neubestimmung der sogenannten ‚Indianerpolitik‘ statt. Einerseits gab es weiterhin Begehrlichkeiten nach Land. Andererseits forderten humanitäre Reformer ein Umdenken angesichts von blutigen Militäraktionen und weitverbreitetem Elend in den Reservaten.
Im Amt machte sich Schurz die humanitäre Rhetorik zu eigen, legte jedoch zugleich eine restriktive Stoßrichtung für Reformen fest. Keineswegs dürfe man von der US-Regierung erwarten, unterschriebene Verträge von nun an einzuhalten oder gar Indigenen rechtlich neue Klagemöglichkeiten gegen Übergriffe einzuräumen, wie mancher Menschenfreund das fordere. Auch erteilte er Fördermaßnahmen eine Absage, die indigenen Gemeinschaften soweit gewünscht und in selbstbestimmtem Ausmaß ermöglichen sollten, innerhalb der Mehrheitsgesellschaft Erfolg zu finden. Stattdessen setzte Schurz auf Schritte, die eine Assimilation erzwingen sollten: Die Aufteilung der Reservate in Privatparzellen („Allotment“), der Verkauf des nicht verteilten Landes an weiße Siedler, die Verschickung indigener Kinder zur Umerziehung in Internate sowie die Auflösung aller indigenen Organisationen. Erst am Ende dieser Auflösung käme rechtliche Gleichheit infrage.
Unter Reformer:innen gab es nicht wenige Anhänger von erzwungenen Assimilationen, wie Schurz sie bewarb und ins Werk setzte. Doch wie der Historiker C. Joseph Genetin-Pilawa zeigt, gab es auch viele Kritiker, wie die National Indian Defense Association, die auf unmittelbare Rechtsgleichheit drängte. Organisationen auf Schurz’ Linie wie die Indian Rights Association, die offen weiße Expansionsinteressen bediente, konnten sich für ihren Finanzbedarf auf die Spendenbereitschaft von Bergbau- und Eisenbahngesellschaften verlassen, wodurch sie – neben der Schützenhilfe aus dem Innenministerium – über ungleich bessere Möglichkeiten verfügten, für ihre Sache zu werben. Unumstritten war die Linie von Schurz aber nie.

Assimilierte Indigene in der Carlisle Indian School in Pennsylvania; Quelle: billofrightsinstitute.org
In Schurz’ Amtszeit gründete das Innenministerium 1879 die Carlisle Indian Industrial School in Pennsylvania, in der junge Indigene fernab von Eltern und Familie in die Zivilisation eingeführt werden sollten. Schon bei der Ankunft wurde den Schüler:innen die Haare abgeschnitten. Gespräche in der eigenen Sprache und nichtchristliche religiöse Praktiken waren verboten. Schurz wurde nicht müde, das Experiment zu bewerben und die Errichtung eines ganzen Systems von Internaten zu fordern: „Das wilde Aussehen der Indianerjungen und -mädchen weicht schnell einem gepflegten Erscheinungsbild. Eine neue Intelligenz, die ihre Gesichter erhellt, verwandelt ihren Ausdruck.“
Ebenfalls im Jahr 1879 schickte Schurz einen Gesetzentwurf an den Kongress, demzufolge Reservate unter Indigenen in 65-Hektar-Parzellen aufgeteilt und der Rest Siedlern zum Verkauf angeboten werden sollte. Der Verkauf sollte zwangsweise erfolgen – trotzdem folgte der Schritt angeblich nur den Wünschen von Indigenen selbst, so Schurz in seinem Bericht des Folgejahres: „Von allen Seiten werden Anfragen von Indianern an das Ministerium herangetragen,“ ihnen individuelle Eigentumstitel zuzuteilen.
Die Berufung auf indigene Bedürfnisse war eine offensichtliche Lüge, wie auch zeitgenössische Kritiker:innen bemerkten, denn schon unter dem geltenden Recht war es Indigenen möglich, individuell einen verkaufbaren Landtitel zu erwerben. Helen Jackson, eine prominente Reformerin aus Boston und Autorin des bekannten Buches A Century of Dishonor (1881) hielt Schurz’ Berufung auf Indigene für „ein schönes Beispiel seiner Heuchelei“ und erklärte in einem Brief: „der berühmte Gesetzentwurf, den er ausgearbeitet und eingebracht hat, […] ist ein schändlicher Entwurf. Er würde, wie (der Ponca-Anführer, J.W.) White Eagle sagte, ‚den Indianer wie einen Vogel rupfen.‘“ Zu demselben Schluss kam 1881 auch der bekannte Ethnologe Lewis H. Morgan. Das notwendige Resultat der Parzellierung und der freien Verkäuflichkeit von Land wäre „unzweifelhaft, dass die Indianer sich in kürzester Zeit von jedem Fuß Land trennen und in Armut verfallen würden“.
Im Gegensatz zu seiner Berufung auf angeblichen Zuspruch, hielt Schurz an anderer Stelle fest, dass selbstverständlich keine Rücksicht genommen werden könne auf die Ansichten „unzivilisierter Indianer“. Es sei „nicht zu erwarten, dass sie aus ihrem eigenen Bewusstsein heraus verstehen, was das Beste für ihr Wohlergehen ist. Wir müssen in hohem Maße die notwendigen Überlegungen für sie anstellen und sie dann auf möglichst humane Weise dazu bringen, unsere Schlussfolgerungen zu akzeptieren.“ Auch wenn Schurz Wert darauf legte, dass Indigene über Zeit weiße Kulturtechniken freiwillig übernehmen würden, ging er keineswegs davon aus, dass Assimilation zu einer Integration auf Augenhöhe führen könne. Vielmehr war die Aufnahme der Indigenen in die Mehrheitsgesellschaft in niederen Positionen vorgesehen: „Wir können aus einem Indianer nie etwas anderes machen als einen (auf Reservaten eingesetzten, J.W.) Polizisten oder einen zweitklassigen Farmer. Durch das System, das wir so erfolgreich auf den Weg gebracht haben, können wir getrost darauf hoffen, die Indianer so lange zu absorbieren, bis sie in der großen weißen Familie völlig verschwunden sind.”

Inserat für günstiges „Indianerland“, 1911: Quelle: wikipedia.org
Im Geiste dieser rassistischen Anmaßung und unbeirrt von kritischen Stimmen weiteten Schurz’ Nachfolger die Verschickung indigener Kinder in spezielle Internate immer weiter aus. Der Kongress erließ 1887 den General Allotment Act, unter dem bis 1934 ein Reservat nach dem anderen für den Ausverkauf freigegeben wurde. Rund zwei Drittel der 1887 verbliebenen indigenen Ländereien gingen verloren. Senator Henry L. Dawes, der das verabschiedete Gesetz einbrachte, bekannte freimütig: „Der Keim stammt von Minister Schurz.“
Schurz in der deutschen Erinnerung
Von reformerischen Ideen und Seitenhieben auf die gewalttätigsten Auswüchse von weißem Rassismus hat Schurz‘ zeitlebens nie völlig abgelassen. Unter Hinweis auf solche späteren Zeugnisse hat sich eine deutsche und deutsch-amerikanische biographische Literatur ausgebildet, die sein Wirken in der Nachbürgerkriegszeit als direkte Fortsetzung des Freiheitskampfes von 1848 darstellt. Carl Schurz gilt ihr als demokratisches Vorbild, da er Zeit seines Lebens Werte nicht nur proklamiert, sondern wenn nötig sogar unter Einsatz des eigenen Lebens durchgesetzt habe. Im Wesentlichen prägt dieses Bild noch immer die deutsche Erinnerung. Schurz’ Beiträge zur Errichtung des Systems der Rassentrennung und dem versuchten Ethnozid an indigenen Gemeinschaften kommen darin nicht vor.
Im Sinne einer antirassistischen und nicht von nationalen Grenzen eingehegten Erinnerungskultur wäre es indes erforderlich – und angesichts der hierzulande reichlich vorhandenen Ehrungen geboten –, Schurz’ widersprüchliche Entwicklung vom Antisklaverei-Aktivisten zum paternalistisch argumentierenden Rassisten breiter zur Kenntnis zu nehmen und zu problematisieren. Aktuelle Aufarbeitungsbestrebungen in den USA bieten anschauliches Material zu den Folgen seiner Politik. Darüber hinaus könnte man sein Beispiel zum Anlass nehmen, um die folgenreiche Begrenzung historischer wie aktueller Demokratievorstellungen zu thematisieren: Schurz war keineswegs der einzige 1848er, der ganz selbstverständlich einen Ausgleich mit weißen Südstaateneliten und westlichen Siedlern suchte, die auf den Zugang zu weiteren indigenen Ländereien drängten. Afroamerikaner:innen und Indigene anerkannte er von vornherein nicht als ernstzunehmende Gesprächspartner, und die Reformen, die er teilweise sogar in ihrem Namen einforderte, zielten auf Auslöschung und radikale Marginalisierung.