Dirk Moses hat mit seinem Essay „Der Katechismus der Deutschen“ aktuelle Debatten über die Gegenwart der deutschen Vergangenheit, etwa der deutschen Kolonialverbrechen, und aktuelle politische Fragen, wie den Umgang mit der BDS-Bewegung, zu einer umfassenden Abrechnung mit der deutschen Holocaust-Erinnerung verdichtet. Er sieht beim Handeln der staatlichen Akteur:innen und anderer „Eliten“ einen deutschen „Katechismus“ am Werk, der unter Verweis auf das Paradigma der „Einzigartigkeit des Holocaust“ hierzulande Denk- und Diskursblockaden aufbaue, sich in der pflichtschuldigen und weitgehend gedankenlosen Erfüllung von Ritualen, dem Wiederholen von inhaltsleeren Floskeln und dem sturen Beharren auf überholten Erkenntnissen ergehe – und den Blick für andere Opfer der deutschen Geschichte sowie für Menschenrechtsverletzungen in der Gegenwart verstelle.
Um diese These von Dirk Moses, seine Argumente und seine quasireligiöse Sprache ist eine intensive Debatte entbrannt, die nun auch im deutschen Feuilleton angekommen ist. In der Zwischenzeit hat Moses auch auf seine Kritiker:innen geantwortet, dabei Missverständnisse aufgeklärt, aber vor allem seine Thesen bekräftigt. Ich halte die Motive hinter seinen Argumenten für nachvollziehbar und teile seine Kritik an der mangelhaften Konfrontation mit Rassismus hierzulande, den Versäumnissen bei der Aufarbeitung der Verbrechensgeschichte des Kolonialismus und an der deutschen Empathielosigkeit gegenüber dem Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung im Nahostkonflikt. Seine Polemik büßt jedoch durch ihre pauschale und ahistorische Argumentationsweise viel an Plausibilität ein. Und sie bietet keinen überzeugenden Vorschlag, wie denn den diagnostizierten Problemen beizukommen wäre.
Die deutsche Erinnerungspolitik und ihre Handlungslogiken
Kaum jemand, der das Agieren der staatlichen Akteur:innen in diesen komplexen Themenfeldern mitverfolgt oder miterlebt (hat), wird bestreiten, dass das offizielle NS-Gedenken eine Vielzahl von Problemen, Schwerfälligkeit, Oberflächlichkeit und manchmal auch Peinlichkeit mit sich brachte und bis in die Gegenwart bringt. Aber die heutigen Institutionen und ihr Personal werden nur vor dem Hintergrund ihrer Vor- und Entstehungsgeschichte verständlich – und man greift zu kurz, sie auf Grund des Tagesgeschehens oder des eigenen politischen Standpunkts zu bewerten. Denn ihr Handeln folgt keinem „Katechismus“, sondern Logiken, die sich aus der schwierigen und widersprüchlichen Konfrontation mit Nationalsozialismus und Holocaust in der Bundesrepublik ergeben haben. Ohne die Komplexität dieser Prozesse anzuerkennen, lässt sich Kritik am gegenwärtigen Zustand der staatlichen Erinnerungspolitik weder präzise noch plausibel formulieren.
Dass es heute im deutschen Regierungs- und Beamtenapparat Personal gibt, welches sich explizit mit Erinnerungsthemen, Antisemitismus und – wie es heute offiziell heißt – „jüdischem Leben“ befasst, ist keine Erfindung der Ära Merkel und kein Ergebnis der Zentralisierung des Holocaustgedenkens in der vereinten Bundesrepublik, für die das 2005 eingeweihte Denkmal in Berlin symbolisch steht. Man muss allerdings auch nicht allzu weit in die Vorgeschichte unserer Gegenwart zurückgehen, um zu sehen, dass die Bonner Vorgänger (in der Regel handelte es sich um Männer) in solchen Ämtern gänzlich andere Ziele verfolgten als das Berliner Personal von heute. Vielleicht zeigt dies am besten ein Blick auf die Ära Kohl, in der in vieler Hinsicht die erinnerungspolitischen Grundlagen gelegt wurden, um die unsere Debatten heute noch kreisen. Freilich sprach man in der Kohl-Regierung schon in den 1980er Jahren mit viel Empathie über das Leid der Juden im „Dritten Reich“ und distanzierte sich vom verbrecherischen Charakter des NS-Regimes. Aber Bestrebungen, den Holocaust zum zentralen Bezugspunkt der deutschen Erinnerungskultur zu machen, wurden als Bedrohung für das staatliche Selbstverständnis eben jener Bundesrepublik erachtet, die nicht müde wurde zu wiederholen, sie habe schon genug aus der eigenen Geschichte gelernt.
Dies war bereits in den 1980er Jahren keine auf die Bundesrepublik reduzierte Debatte. Als besonders bedrohlich erschien den höheren Beamten der Ministerialbürokratie, auch vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs, die erfolgreiche Einbettung der Holocaust-Erinnerung in das amerikanische Selbstverständnis, wie es beispielsweise das seit 1978 geplante und 1993 eröffnete United States Holocaust Memorial Museum in Washington zeigte. (West-)deutsche Beamte und Diplomaten stellten sich vehement gegen dieses Museum, das sie als Reduzierung der deutschen Geschichte auf das „Dritte Reich“ und den Holocaust auffassten – und glaubten, darin eine Bedrohung für das Ansehen der Bundesrepublik im Ausland sowie die deutsch-amerikanischen Beziehungen zu erkennen.
In diesem und ähnlichen Kontexten sahen sich die Bundesrepublik und ihre Repräsentanten als Opfer der international wachsenden Konfrontation mit dem Holocaust. Und es war nicht unüblich, dass man in Regierungs- oder Diplomatenkreisen, durchaus auch unter Verwendung antisemitischer Klischees, amerikanischen Jüdinnen und Juden unterstellte, sie würden den Holocaust zu Lasten der Bundesrepublik instrumentalisieren, um sich politische oder finanzielle Vorteile zu verschaffen. Deutsche Versuche, direkt in das amerikanische Holocaust-Gedenken oder die Debatten über den Holocaust in den USA einzugreifen, waren allerdings zum Scheitern verurteilt. Stattdessen mussten deutsche Regierungsvertreter lernen, dass es hier gar nicht um Deutschland ging, sondern um die Anerkennung einer Leidensgeschichte in einem Zusammenhang, in welchem die Befindlichkeiten und Interessen deutscher Diplomaten oder Politiker, aber auch die deutsche Vergangenheitsbewältigung insgesamt, schlicht irrelevant waren.
Diese Erfahrungen trugen entscheidend dazu bei, dass sich die deutsche Erinnerungspolitik weiterentwickelte. Denn anders als auf die voranschreitende „Universalisierung“ des Holocaust im Ausland konnte die deutsche Politik auf Entwicklungen in der Bundesrepublik sehr wohl Einfluss nehmen. Hier hatten in den 1970er Jahren jüngere Akteur:innen damit begonnen, den Nationalsozialismus „von unten“ wieder ins öffentliche Bewusstsein zu bringen, woran schon Neil Gregor in seiner Antwort auf Moses erinnert hat. Stieß Kohl also in den 1980er Jahren mit „Schlussstrich“-Projekten wie der Versöhnungszeremonie mit Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg oder seinen Plänen für eine zentrale Gedenkstätte in Bonn, die nicht genauer zwischen Opfern der Deutschen und deutschen Opfern differenzieren sollte, auf heftige Gegenwehr innerhalb der deutschen Gesellschaft, so sprach er zum Ende seiner Regierungszeit mit großer Selbstverständlichkeit vom Holocaust als „Kern unseres Selbstverständnisses als Nation“. Ohne Zweifel spielte politisches Kalkül hier eine Rolle, was jedoch einen genuinen Gesinnungswandel und langfristige Lernprozesse nicht ausschließt.
Wenn die deutsche Politik heute diesen „Kern“ und die daraus abgeleiteten „Lehren aus der Vergangenheit“ verinnerlicht hat und verteidigt, so muss man darin auch das Festhalten an Errungenschaften sehen, die das Ergebnis eines langen und schwierigen, aber maßgeblich von der deutschen Politik selbst gesteuerten Prozesses waren. Hierin heute Glaubenssätze zu sehen, die schlicht nachgebetet würden, verkennt die spannungsreiche Dialektik von „Erinnerungsabwehr“ und ihrem Scheitern sowie auch insgesamt die Erfahrungen aus den Kontroversen und Debatten um den Nationalsozialismus, die die gegenwärtige deutsche Erinnerungspolitik weiterträgt.
Kontext und Motive jenseits der großen Politik
Die Feststellung, man habe sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht ausreichend mit den Kolonialverbrechen und Rassismus beschäftigt, trifft freilich zu. Wer würde das heute noch ernsthaft bestreiten wollen? Aber Dirk Moses übergeht die Frage, warum die deutsche Gesellschaft der 1990er Jahre, also die Zeit der Verankerung des vermeintlichen „Katechismus“, so wenig empfänglich für diese Themen war – und wie es sich dabei mit den Motiven der Akteur:innen der Erinnerung jenseits der großen Politik, der Behörden und Ministerien verhielt, die selbstverständlich auch immer Teil des deutschen Erinnerungsdiskurses waren.
Man weiß, nicht nur aus jüngeren Forschungsarbeiten, recht gut darüber Bescheid, wie tief verankert Rassismus und die Feindlichkeit gegenüber als „fremd“ markierten Menschen im frisch vereinigten Deutschland waren. Man denke nur an die Empathielosigkeit und die mangelhaften staatlichen Reaktionen auf Mordanschläge wie die gegen türkischstämmige Menschen in Mölln oder Solingen. Oder man erinnere sich, wie Politiker aus der Mitte der deutschen Gesellschaft mit Warnungen vor „Flüchtlingsmassen“ und „Asylmissbrauch“ rassistische und fremdenfeindliche Stimmungen aufgriffen, um seit den 1980er Jahren das Grundrecht auf Asyl einzuschränken. Diesen Kontext und seine Folgen, aber zum Beispiel auch die gesamtgesellschaftliche Aufgabe der „Aufarbeitung“ der SED-Diktatur, könnte man zur Erklärung bestimmter Muster in der Erinnerung(-spolitik) und Blindstellen in den deutschen Diskursen dieser Jahre heranziehen. Stattdessen aber heutige Maßstäbe an das Verhalten „der Deutschen“ vor zwei, drei Jahrzehnten anzulegen und zu fragen, warum diese damals nicht die Schlüsse gezogen haben, die heute wünschenswert wären, ist wenig überzeugend.
Andererseits mutet es beinahe zynisch an, gerade denjenigen (jungen) Deutschen, die in dieser Zeit – unter dem Eindruck der Debatten über Schindlers Liste, Daniel Goldhagen oder die „Wehrmachtsausstellung“ – eine neue Erinnerungspolitik einforderten, zu unterstellen, sie seien zur Befolgung eines „Katechismus“ „diszipliniert“ worden. Die Schlussfolgerungen und „Lehren“ dieser Generation mögen unter dem heutigen globalen Paradigma kurzsichtig oder provinziell erscheinen. Aber die breite deutsche Öffentlichkeit fing damals eben gerade erst an, den zu engen Fokus auf den deutschen Kontext zu überwinden und über die Auswirkungen der NS-Verfolgungs- und Vernichtungspolitik im Osten Europas und der Sowjetunion zu erfahren und diskutieren. Und auch die empirische Holocaust-Forschung, nicht nur durch deutsche Historiker:innen, nahm ja erst in diesem Jahrzehnt Fahrt auf.
Diejenigen Menschen, die sich in diesen Jahren tatsächlich vehement gegen die deutsche Schuldabwehr, die Fixierung auf die deutschen Opfer des 2. Weltkriegs, das Verschweigen des Ausmaßes der Unterstützung für das NS-Regime in der deutschen Bevölkerung, den Mythos von der „sauberen“ Wehrmacht oder die Kontinuitäten des Antisemitismus in Deutschland nach 1945 einsetzten, verfolgten wohl kaum das Ziel, dadurch das Leiden oder Schicksal anderer Opfer der Deutschen auszublenden. Ganz im Gegenteil rief die fremdenfeindliche, rassistische und antisemitische Gewalt der frühen 1990er Jahre zahllose Vergleiche und Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus hervor. Dass man dem Nationalsozialismus und seinen Opfern Priorität über die deutschen Kolonialverbrechen eingeräumt hat, war insofern keine Frage des „Glaubens“ oder der „Disziplinierung“, sondern eine gleichsam logische Fortentwicklung der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus unter dem Eindruck neuer Erkenntnisse und Kontroversen, oft aber auch eine Frage der direkten und unmittelbaren persönlichen und familiären Betroffenheit.
Schließlich sei in diesem Zusammenhang aber auch erwähnt, dass bis heute in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft überhaupt kein Konsens über die Art und Weise herrscht, wie dem Nationalsozialismus und Holocaust gedacht werden oder wie man sie in den Verlauf der deutschen Geschichte einordnen sollte. Dazu muss man nicht einmal an die hinlänglich bekannten AfD-Zitate denken, sondern es reicht ein Blick in die deutsche Provinz. Denn verlässt man den Kontext der Großstädte und ihrer Erinnerungskultur, ließen sich unter Amtsträger:innen, lokalen Eliten und Bürger:innen unzählige Beispiele finden, die der Diagnose des „Katechismus“ so gar nicht entsprechen wollen: von der Ignoranz gegenüber Endphasenverbrechen oder KZ-Außenlagern in der Nachbarschaft über das Verleugnen der grausamen Ausbeutung von Zwangsarbeiter:innen in deutschen Betrieben und Innenstädten bis hin zum Toten- und Heldenkult für die Wehrmacht. Der Streit zwischen der Gedenkstätte Bergen-Belsen mit dem Stadtrat in Bergen um eine gemeinsame Erklärung, die von Verbrechen von „SS und Wehrmacht vor unserer Haustür“ sprechen sollte und der im letzten Herbst einige Aufmerksamkeit fand, ist nur ein Beispiel hierfür.
Wege zu einer neuen Erinnerungspolitik
Wie eingangs bemerkt, teile ich Dirk Moses‘ Ansicht, dass die deutsche Erinnerungspolitik eklatante Schwächen aufweist, die heute zu Problemen und Konsequenzen führen, die dem Anliegen einer gerechten und ehrlich gemeinten Konfrontation mit der deutschen Geschichte widersprechen. Aber diese Versäumnisse und Blindstellen sind in nicht unerheblichem Maße ungewollte Folgen eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses, der gerade nicht beabsichtigte, „den Deutschen“ wieder ein gutes Gefühl angesichts ihres Deutschseins zu verschaffen, sie gegen die eine Form von Vorurteilen und Rassismus zu immunisieren, aber ihnen zugleich neue Wege zu eröffnen, in anderer Weise weiterhin vorurteilsbeladen und rassistisch denken und handeln zu können – sondern genau das Gegenteil.
Wenn es heute darum geht, die deutsche Erinnerungspolitik zu kritisieren und zu überdenken, sollte daher ihre komplexe Vorgeschichte berücksichtigt sowie ihre Vielschichtigkeit und ihre Widersprüchlichkeit anerkannt werden. Nur auf dieser Basis lassen sich die politischen und normativen Fragen, um die es hierbei geht, redlich debattieren. Auf Versuche, diese Politik, zur deren Errungenschaften nicht nur der weiterhin bitter notwendige Kampf gegen den Antisemitismus zählt, aber nun insgesamt zu delegitimieren und zu verdammen, muss man entgegnen, dass in der Konfrontation mit der NS-Vergangenheit die wesentlichen politischen, wissenschaftlichen und erinnerungskulturellen Grundlagen und „Instrumente“ erst geschaffen wurden, auf Basis derer andere Leidens- und Verbrechensgeschichten heute erforscht, erörtert und diskutiert werden. Pragmatisch gedacht, lassen sich auch in der Art und Weise, wie das NS-Gedenken durchgesetzt wurde, Wege und Ansatzpunkte finden, wie heute anderen Geschichten mehr Aufmerksamkeit erkämpft werden und diese auch einer breiten Öffentlichkeit vermittelt werden können.
Dabei steht außer Frage, dass sich die gesellschaftlichen und kulturellen Realitäten seit den 1990er oder 2000er Jahren in einer Art und Weise verändert haben, die auch den Umgang mit dem Holocaust verändern und verändern müssen. Auch diese Erkenntnis ist nicht neu, darüber wird seit Jahren intensiv gesprochen und geforscht – egal ob man es nun Globalisierung der Erinnerung, Erinnerungskultur in der Einwanderungsgesellschaft, multidirectional memory oder anders nennt. Viel wichtiger als Schlagworte und die Wahl des theoretischen Ansatzes wären Foren und Formate, in denen widersprüchliche und sich scheinbar ausschließende Ansichten, Narrative und Erfahrungen diskutiert werden können. Gerade in diesem Prozess müssen die Stimmen mehr Gewicht bekommen, die man bislang in der deutschen Erinnerungspolitik zu wenig vernehmen konnte. Der Schlüssel liegt aber im Erklären und im empathischen Verstehen-Wollen.