Seit J.K. Rowling sich im Dezember 2019 sowie im Juni dieses Jahres auf Twitter für ein biologisch determiniertes Verständnis von Geschlecht stark gemacht hat, wird die Autorin der Harry-Potter-Romane in den Sozialen Medien heftig angegriffen. Sie sei eine TERF, eine transfeindliche Feministin, die Transfrauen gegen angeblich „richtige“ Frauen ausspiele. Bisher hatten die Potter-Romane in der LGBTQ+-Community viele Fans, die sich nun enttäuscht von Rowling abwenden. Deren Versuch, in einem Blog-Beitrag vom 19. Juni auf ihrer Website ihre Beweggründe zu erklären, machte die Sache nur noch schlimmer: Als Opfer der Cancel Culture und als Frau, die sexualisierter Gewalt ausgesetzt gewesen sei, wirbt sie für Sympathie. Durch ihre eigenen Erfahrungen wisse sie, dass Frauen geschützte Räume bräuchten – und dies bedeute zwingend die Exklusion von Transfrauen. Sie meine es nur gut, betont sie in belehrendem Ton, gerade auch mit Transmenschen – und bedaure es, dass so viele junge Frauen ihr biologisches Geschlecht nicht akzeptieren könnten. Sie könne aber verstehen, dass die Versuchung gross sei, aus einer extrem frauenfeindlichen Gegenwart ins andere Geschlecht zu entfliehen, anstatt zu kämpfen.
Ihre Argumentation ist ebenso wirr wie ideologisch und schockierend – etwa, wenn sie Toiletten, zu denen Transfrauen Zugang haben, zu Gefahrenzonen hochstilisiert, oder wenn sie Trumps sexistische Übergriffe sowie die Hatespeech frauenfeindlicher Incels in einem Atemzug mit den Angriffen von Transaktivist:innen auf ihre Haltung nennt. Erneut besteht sie darauf, die Menschheit in zwei Gruppen aufzuteilen: Männer aus dem gesamten politischen Spektrum, folgert sie, seien sich einig, dass Frauen zu viel Ärger machen. “Everywhere, women are being told to shut up and sit down, or else.” Das Verstörendste an ihrem Blogbeitrag ist jedoch die Anmassung, mit der sie zu wissen glaubt, was für andere gut ist. Eine scharfe Analyse und eine Einordnung in aktuelle feministische Debatten lässt sich übrigens in einem Interview mit Judith Butler nachlesen.
Bei ihren Kritiker:innen auf Instagram und TikTok findet sich zwar Wut und Empörung, aber keine Besserwisserei und Überheblichkeit. Viele enttäuschte Fans lassen den Namen der Autorin auf den Buchcovern verschwinden; der Trend zur Bücherverbrennung, von dem in den Medien die Rede war, kam in den meisten Posts und Kommentaren weniger hasserfüllt als sarkastisch daher. Dennoch sorgte er für einen Aufschrei in den Feuilletons: Die Cancel Culture sei nun so weit gediehen, dass man die Bücher von Autor:innen verbrenne, die unliebsame politische Ansichten äusserten. Und es wird auf die mangelnde Bildung der Jugendlichen verwiesen, die nicht einmal wüssten, dass die Erzählinstanz in einem Roman – ebenso wie die Äusserungen der Figuren – nicht deckungsgleich seien mit den Ansichten der Autorin.
Erstaunlich ist, dass die Feuilletonist:innen – ganz im Gegensatz zu den meist beissend ironischen, teilweise klugen Dekonstruktionen von Rowlings Fantasywelt auf TikTok – lieber über Cancel Culture philosophieren, als Rowlings Texte einer kritischen Lektüre zu unterziehen. Denn dass die Erzählinstanz im Text als rhetorische Figuration zu verstehen ist, deren Funktion sich erst in der Lektüre entfaltet, bedeutet nicht, dass Literatur unpolitisch ist. Gerade populäre Genres wie Fantasy oder Krimi stellen sich in diskursive Zusammenhänge – die allerdings weniger auf der Ebene der repräsentierten Inhalte und Figuren zu greifen sind, sondern im Umgang mit Erzählstrukturen. Im Fall einer der erfolgreichsten Autorinnen der Gegenwart, die mit ihren Kinder- und Jugendbüchern grossen Einfluss auf die Lesesozialisation mehrerer Generationen hat, lohnt es sich, genau hinzuschauen.
Wie politisch sind Rowlings Texte?
Ihre Krimis veröffentlicht Rowling unter dem Namen Robert Galbraith – und dies, obwohl sich Krimis von Frauen längst genauso gut verkaufen wie jene von männlichen Autoren. Dennoch liesse sich das Pseudonym als Statement deuten, als Massnahme der tüchtigen Geschäftsfrau, die nicht bereit ist, wegen ihres Geschlechts Nachteile im Literaturbetrieb in Kauf zu nehmen. Im aktuellen Krimi geht es denn auch um Gerechtigkeit für eine eigenwillige Karrierefrau, die nicht bereit war, sich in die vorgesehene Rolle als Hausfrau und Mutter drängen zu lassen. In der bisher fünfteiligen Reihe wird ein längst vergessener und verjährter Fall aufgerollt: Anna, die Tochter einer Ärztin, die eines Tages einfach verschwunden war, möchte wissen, was mit ihrer Mutter wirklich passiert ist.
Das Ermittlerteam, der Afghanistan-Veteran Cormoran Strike und seine junge Kollegin Robin Ellacott, gehen der Sache nach. Die Erzählinstanz folgt ihren Recherchen Schritt für Schritt, berichtet mit einer geradezu buchhalterischen Akribie vom Fortgang ihrer Arbeit, verliert sich im mühsamen Fortschreiten des detektivischen Erkenntnisprozesses – eine langfädige, anstrengende Lektüre. Wie bei Ermittlern im Gegenwartskrimi üblich, nehmen private Sorgen und Nöte viel Raum ein, doch Strike und Ellacott lassen sich ihre Sinne davon nicht trüben; sie glauben daran, dass ihre Methoden über jeden Zweifel erhaben sind und zwingend zur richtigen Lösung führen müssen. Man mag die dunkle Patina als nostalgischen Abgesang ans Grossbritannien der Hobbits und der gemütlichen Pubs lesen, doch vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte erscheint vieles im Roman als Echo der rhetorischen Strategien, mit denen Rowling in ihren Statements den biologischen Essentialismus verteidigt.
Während nämlich avancierte Vertreter:innen des Genres – etwa Sarah Grans Claire-DeWitt-Reihe – ihre Ermittlerfiguren in eine epistemologische Krise geraten lassen und die Grenzen des kriminalistischen Erzählens reflektieren, lässt sich Galbraiths neuer Krimi mit seinem Insistieren auf einer Wirklichkeit, die mit etwas gutem Willen begriffen, und einer Wahrheit, die rekonstruiert werden kann, als Plädoyer für eine längst überholte und theoretisch fragwürdige Idee von Aufklärung lesen. Das Problem des Romans ist nicht, dass ein Serienmörder sich als Frau verkleidet, um auf seine Opfer weniger bedrohlich zu wirken – es liegt tiefer.
Der didaktische Furor des Textes drückt sich nicht nur darin aus, dass die Leser:innen am mühsamen Arbeitsprozess des Detektivgespanns teilhaben. Er äussert sich auch in den Beschreibungen und Kommentaren. Die Kategorien scheinen nämlich klar und eindeutig definiert zu sein in der fiktionalen Welt von Troubled Blood. Wie sehr der Text von einer als Norm konstruierten weissen und heterosexuellen Zentralposition aus denkt, zeigt sich darin, dass sofort in einem Nebensatz erwähnt wird, wenn eine Figur homosexuell oder schwarz ist.
Und Harry Potter?
Ironischerweise sind die Harry Potter-Bücher bei ihren Leser:innen unter anderem deshalb so beliebt, weil sie sich so wunderbar gegen den Strich lesen lassen. Hier liegt vielleicht das grösste Missverständnis in Bezug auf die sieben Bände. Wenn die Welt der Zauberer und Hexen unendlich vielfältig und divers scheint, mit Wesen, die sich über Speziesgrenzen hinweg verstehen und lieben, kulminierend in der Heirat von Mensch und Werwolf, so liegt das in der Struktur der Fantasy begründet. Was das Genre im Kern ausmacht, ist der Remix von Geschichten – aus der Bibel, der griechischen Mythologie, aus der europäischen Märchentradition –, auf die immer nur angespielt wird, die aber im Kopf der Leser:innen weitergesponnen werden können. Hinter der vermeintlich queeren Vielfalt steht ein konservatives Konzept von Identität: Die Zauberer und Halbhexen, die Werwölfe und Hauselfen sind nicht in erster Linie Individuen, sondern vertreten eine Familie mit Geschichte und Tradition. Erst wenn sie wissen, woher sie kommen und akzeptieren, wer oder was sie sind, sind sie überhaupt in der Lage, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Die Geschichte des Protagonisten Harry Potter erzählt von nichts anderem – er muss sein Schicksal akzeptieren und vertrauen, dass der Mantel an Mutterliebe, den er mitbekommen hat, stärker ist als der Fluch, der ihn als Säugling getroffen hat.
In Rowlings und Galbraiths Romanen drückt sich die Sehnsucht nach einer heilen Welt darin aus, dass die Figuren, die ja keine Abbilder realer Menschen, sondern diskursive Figurationen sind, klar Kategorien zugeordnet sind und bleiben, welche die Leser:innen kennen und einordnen können; sie sind Schnittstellen populärer Erzählungen. Harry ist Messias, Abenteuerheld, Aschenputtel, und Strike ist ein Hard Boiled-Detektiv und ein kriegstraumatisierter Mann à la Watson, der seine privaten Überzeugungen mutig hinter sich lässt, wenn es darum geht, die Wahrheit zu finden. Politisch sind Rowlings Romane auf eine naive Weise konservativ: Sie konstruieren einen nostalgischen Raum, der vor verstörenden (ästhetischen) Erfahrungen und epistemologischer Erschütterung schützen will. Solange sie als Star der Literaturszene gefeiert wurde, dessen Bücher Millionen von Kindern zum Lesen verführten, störte sich niemand gross daran. Wenn es etwas aus dem Fall Rowling zu lernen gibt, dann vielleicht dies: Dass wir Kinderliteratur als Literatur ernstnehmen. Und uns für die Politik ihrer Poetiken interessieren.