J.K. Rowling steht massiv in der Kritik: Die Autorin der Harry Potter-Romane hatte wiederholt Cisfrauen gegen Transfrauen ausgespielt. Nach Erscheinen des neuen Krimis Troubled Blood wird diskutiert, ob auch Rowlings Werk transfeindlich sei. Höchste Zeit, einen literaturwissenschaftlichen Blick auf den Fall zu werfen

  • Christine Lötscher

    Christine Lötscher lehrt Populäre Literaturen und Medien mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendmedien am ISEK - Populäre Kulturen der Universität Zürich und ist Herausgeberin von Geschichte der Gegenwart.

Seit J.K. Rowling sich im Dezember 2019 sowie im Juni dieses Jahres auf Twitter für ein biolo­gisch deter­mi­niertes Verständnis von Geschlecht stark gemacht hat, wird die Autorin der Harry-Potter-Romane in den Sozialen Medien heftig ange­griffen. Sie sei eine TERF, eine trans­feind­liche Femi­nistin, die Trans­frauen gegen angeb­lich „rich­tige“ Frauen ausspiele. Bisher hatten die Potter-Romane in der LGBTQ+-Community viele Fans, die sich nun enttäuscht von Rowling abwenden. Deren Versuch, in einem Blog-Beitrag vom 19. Juni auf ihrer Website ihre Beweg­gründe zu erklären, machte die Sache nur noch schlimmer: Als Opfer der Cancel Culture und als Frau, die sexua­li­sierter Gewalt ausge­setzt gewesen sei, wirbt sie für Sympa­thie. Durch ihre eigenen Erfah­rungen wisse sie, dass Frauen geschützte Räume bräuchten – und dies bedeute zwin­gend die Exklu­sion von Trans­frauen. Sie meine es nur gut, betont sie in beleh­rendem Ton, gerade auch mit Trans­men­schen – und bedaure es, dass so viele junge Frauen ihr biolo­gi­sches Geschlecht nicht akzep­tieren könnten. Sie könne aber verstehen, dass die Versu­chung gross sei, aus einer extrem frau­en­feind­li­chen Gegen­wart ins andere Geschlecht zu entfliehen, anstatt zu kämpfen.

Ihre Argu­men­ta­tion ist ebenso wirr wie ideo­lo­gisch und scho­ckie­rend – etwa, wenn sie Toiletten, zu denen Trans­frauen Zugang haben, zu Gefah­ren­zonen hoch­sti­li­siert, oder wenn sie Trumps sexis­ti­sche Über­griffe sowie die Hate­speech frau­en­feind­li­cher Incels in einem Atemzug mit den Angriffen von Transaktivist:innen auf ihre Haltung nennt. Erneut besteht sie darauf, die Mensch­heit in zwei Gruppen aufzu­teilen: Männer aus dem gesamten poli­ti­schen Spek­trum, folgert sie, seien sich einig, dass Frauen zu viel Ärger machen. “Ever­y­where, women are being told to shut up and sit down, or else.” Das Verstö­rendste an ihrem Blog­bei­trag ist jedoch die Anmas­sung, mit der sie zu wissen glaubt, was für andere gut ist. Eine scharfe Analyse und eine Einord­nung in aktu­elle femi­nis­ti­sche Debatten lässt sich übri­gens in einem Inter­view mit Judith Butler nachlesen.

Bei ihren Kritiker:innen auf Insta­gram und TikTok findet sich zwar Wut und Empö­rung, aber keine Besser­wis­serei und Über­heb­lich­keit. Viele enttäuschte Fans lassen den Namen der Autorin auf den Buch­co­vern verschwinden; der Trend zur Bücher­ver­bren­nung, von dem in den Medien die Rede war, kam in den meisten Posts und Kommen­taren weniger hass­erfüllt als sarkas­tisch daher. Dennoch sorgte er für einen Aufschrei in den Feuil­le­tons: Die Cancel Culture sei nun so weit gediehen, dass man die Bücher von Autor:innen verbrenne, die unlieb­same poli­ti­sche Ansichten äusserten. Und es wird auf die mangelnde Bildung der Jugend­li­chen verwiesen, die nicht einmal wüssten, dass die Erzählin­stanz in einem Roman – ebenso wie die Äusse­rungen der Figuren – nicht deckungs­gleich seien mit den Ansichten der Autorin.

Erstaun­lich ist, dass die Feuilletonist:innen – ganz im Gegen­satz zu den meist beis­send ironi­schen, teil­weise klugen Dekon­struk­tionen von Rowlings Fanta­sy­welt auf TikTok – lieber über Cancel Culture philo­so­phieren, als Rowlings Texte einer kriti­schen Lektüre zu unter­ziehen. Denn dass die Erzählin­stanz im Text als rheto­ri­sche Figu­ra­tion zu verstehen ist, deren Funk­tion sich erst in der Lektüre entfaltet, bedeutet nicht, dass Lite­ratur unpo­li­tisch ist. Gerade popu­läre Genres wie Fantasy oder Krimi stellen sich in diskur­sive Zusam­men­hänge – die aller­dings weniger auf der Ebene der reprä­sen­tierten Inhalte und Figuren zu greifen sind, sondern im Umgang mit Erzähl­struk­turen. Im Fall einer der erfolg­reichsten Autorinnen der Gegen­wart, die mit ihren Kinder- und Jugend­bü­chern grossen Einfluss auf die Lese­so­zia­li­sa­tion mehrerer Genera­tionen hat, lohnt es sich, genau hinzuschauen.

Wie poli­tisch sind Rowlings Texte?

Ihre Krimis veröf­fent­licht Rowling unter dem Namen Robert Galbraith – und dies, obwohl sich Krimis von Frauen längst genauso gut verkaufen wie jene von männ­li­chen Autoren. Dennoch liesse sich das Pseud­onym als State­ment deuten, als Mass­nahme der tüch­tigen Geschäfts­frau, die nicht bereit ist, wegen ihres Geschlechts Nach­teile im Lite­ra­tur­be­trieb in Kauf zu nehmen. Im aktu­ellen Krimi geht es denn auch um Gerech­tig­keit für eine eigen­wil­lige Karrie­re­frau, die nicht bereit war, sich in die vorge­se­hene Rolle als Haus­frau und Mutter drängen zu lassen. In der bisher fünf­tei­ligen Reihe wird ein längst verges­sener und verjährter Fall aufge­rollt: Anna, die Tochter einer Ärztin, die eines Tages einfach verschwunden war, möchte wissen, was mit ihrer Mutter wirk­lich passiert ist.

Das Ermitt­ler­team, der Afghanistan-Veteran Cormoran Strike und seine junge Kollegin Robin Ella­cott, gehen der Sache nach. Die Erzählin­stanz folgt ihren Recher­chen Schritt für Schritt, berichtet mit einer gera­dezu buch­hal­te­ri­schen Akribie vom Fort­gang ihrer Arbeit, verliert sich im mühsamen Fort­schreiten des detek­ti­vi­schen Erkennt­nis­pro­zesses – eine lang­fä­dige, anstren­gende Lektüre. Wie bei Ermitt­lern im Gegen­warts­krimi üblich, nehmen private Sorgen und Nöte viel Raum ein, doch Strike und Ella­cott lassen sich ihre Sinne davon nicht trüben; sie glauben daran, dass ihre Methoden über jeden Zweifel erhaben sind und zwin­gend zur rich­tigen Lösung führen müssen. Man mag die dunkle Patina als nost­al­gi­schen Abge­sang ans Gross­bri­tan­nien der Hobbits und der gemüt­li­chen Pubs lesen, doch vor dem Hinter­grund der aktu­ellen Debatte erscheint vieles im Roman als Echo der rheto­ri­schen Stra­te­gien, mit denen Rowling in ihren State­ments den biolo­gi­schen Essen­tia­lismus verteidigt.

Während nämlich avan­cierte Vertreter:innen des Genres – etwa Sarah Grans Claire-DeWitt-Reihe – ihre Ermitt­ler­fi­guren in eine epis­te­mo­lo­gi­sche Krise geraten lassen und die Grenzen des krimi­na­lis­ti­schen Erzäh­lens reflek­tieren, lässt sich Galbraiths neuer Krimi mit seinem Insis­tieren auf einer Wirk­lich­keit, die mit etwas gutem Willen begriffen, und einer Wahr­heit, die rekon­stru­iert werden kann, als Plädoyer für eine längst über­holte und theo­re­tisch frag­wür­dige Idee von Aufklä­rung lesen. Das Problem des Romans ist nicht, dass ein Seri­en­mörder sich als Frau verkleidet, um auf seine Opfer weniger bedroh­lich zu wirken – es liegt tiefer.

Der didak­ti­sche Furor des Textes drückt sich nicht nur darin aus, dass die Leser:innen am mühsamen Arbeits­pro­zess des Detek­tiv­ge­spanns teil­haben. Er äussert sich auch in den Beschrei­bungen und Kommen­taren. Die Kate­go­rien scheinen nämlich klar und eindeutig defi­niert zu sein in der fiktio­nalen Welt von Trou­bled Blood. Wie sehr der Text von einer als Norm konstru­ierten weissen und hete­ro­se­xu­ellen Zentral­po­si­tion aus denkt, zeigt sich darin, dass sofort in einem Neben­satz erwähnt wird, wenn eine Figur homo­se­xuell oder schwarz ist.

Und Harry Potter?

Ironi­scher­weise sind die Harry Potter-Bücher bei ihren Leser:innen unter anderem deshalb so beliebt, weil sie sich so wunderbar gegen den Strich lesen lassen. Hier liegt viel­leicht das grösste Miss­ver­ständnis in Bezug auf die sieben Bände. Wenn die Welt der Zauberer und Hexen unend­lich viel­fältig und divers scheint, mit Wesen, die sich über Spezi­es­grenzen hinweg verstehen und lieben, kulmi­nie­rend in der Heirat von Mensch und Werwolf, so liegt das in der Struktur der Fantasy begründet. Was das Genre im Kern ausmacht, ist der Remix von Geschichten – aus der Bibel, der grie­chi­schen Mytho­logie, aus der euro­päi­schen Märchen­tra­di­tion –, auf die immer nur ange­spielt wird, die aber im Kopf der Leser:innen weiter­ge­sponnen werden können. Hinter der vermeint­lich queeren Viel­falt steht ein konser­va­tives Konzept von Iden­tität: Die Zauberer und Halb­hexen, die Werwölfe und Hauselfen sind nicht in erster Linie Indi­vi­duen, sondern vertreten eine Familie mit Geschichte und Tradi­tion. Erst wenn sie wissen, woher sie kommen und akzep­tieren, wer oder was sie sind, sind sie über­haupt in der Lage, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Die Geschichte des Prot­ago­nisten Harry Potter erzählt von nichts anderem – er muss sein Schicksal akzep­tieren und vertrauen, dass der Mantel an Mutter­liebe, den er mitbe­kommen hat, stärker ist als der Fluch, der ihn als Säug­ling getroffen hat.

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In Rowlings und Galbraiths Romanen drückt sich die Sehn­sucht nach einer heilen Welt darin aus, dass die Figuren, die ja keine Abbilder realer Menschen, sondern diskur­sive Figu­ra­tionen sind,  klar Kate­go­rien zuge­ordnet sind und bleiben, welche die Leser:innen kennen und einordnen können; sie sind Schnitt­stellen popu­lärer Erzäh­lungen. Harry ist Messias, Aben­teu­er­held, Aschen­puttel, und Strike ist ein Hard Boiled-Detektiv und ein kriegs­t­rau­ma­ti­sierter Mann à la Watson, der seine privaten Über­zeu­gungen mutig hinter sich lässt, wenn es darum geht, die Wahr­heit zu finden. Poli­tisch sind Rowlings Romane auf eine naive Weise konser­vativ: Sie konstru­ieren einen nost­al­gi­schen Raum, der vor verstö­renden (ästhe­ti­schen) Erfah­rungen und epis­te­mo­lo­gi­scher Erschüt­te­rung schützen will. Solange sie als Star der Lite­ra­tur­szene gefeiert wurde, dessen Bücher Millionen von Kindern zum Lesen verführten, störte sich niemand gross daran. Wenn es etwas aus dem Fall Rowling zu lernen gibt, dann viel­leicht dies: Dass wir Kinder­li­te­ratur als Lite­ratur ernst­nehmen. Und uns für die Politik ihrer Poetiken interessieren.