Nach den von der russischen Besatzung durchgeführten Scheinreferenden wurde am 30. September 2022 im Kreml die Annexion der ukrainischen Gebiete Cherson, Saporischija, Luhansk und Donetsk verkündet. Zu diesem Anlass hielt Vladimir Putin eine bemerkenswerte Rede. Er wandte sich darin direkt an den Westen; genauer: an jene Menschen, die angeblich unter den dortigen Eliten leiden. Ihnen sicherte er die russische Unterstützung in einem vermeintlich dekolonialen Kampf für eine „multipolare Welt“ zu. Und dann sprach er über Regenbogenfamilien, nicht-binäre Menschen und geschlechtsangleichende Eingriffe als Perversionen, gegen die sich Russland und sein Volk zur Wehr setzen würden. Er beschrieb Fortschritte bei der Gleichberechtigung queerer Menschen als „Satanismus“, und beschwor einen apokalyptischen Endkampf des „heiligen“ Russland gegen die westlichen Eliten.
Es gab bei diesem Anlass keinen Grund, über Homosexualität und Transidentität zu sprechen. Das gilt auch für die in den Medien ungleich stärker rezipierte Rede vor den Abgeordneten der Duma vom 21. Februar 2023, in der Putin gegen die kirchliche Segnung gleichgeschlechtlicher Paare und angebliche Bestrebungen ätzte, in der anglikanischen Kirche einen geschlechtsneutralen Gott einzuführen.
In beiden Reden werden diese Themen als Aspekte einer Ideologie beschrieben, die das Handeln westlicher Eliten bestimme und Russland und seine Verbündeten bedrohe. Putin greift so ein Motiv auf, dass auch in hiesigen Klagen über Gender, queerness oder wokeness regelmäßig auftaucht: es handle sich um einflussreiche, homogene Theoriegebilde, die auf eine vollständige kulturelle Umerziehung des Menschen durch eine kleine, aber mächtige Minderheit abzielten.
Der päpstliche Kampf gegen Gender
Es gibt offensichtliche Parallelen zwischen Putins Aussagen und jenen der Päpste Franziskus (Bergoglio) und Benedikt XVI. (Ratzinger) zum Thema Geschlecht. Beide beziehen sich auf Papst Johannes Paul II. (Wojtyła), dessen „Theologie des Leibes“ zwar innerhalb der Kirche als fortschrittlich galt, aber an der moralischen Verurteilung aller Sexualität außerhalb der auf Fortpflanzung ausgerichteten, heterosexuellen Kernfamilie festhielt.
Franziskus beschrieb Gender mehrfach als eine gefährliche, koloniale Ideologie, so zuletzt in einem Interview mit der argentinischen Zeitschrift La Nacion. Diese Ideologie führe in eine gleichmacherische Dystopie, und sie sei von der Seelsorge für queere Menschen scharf zu trennen (in dem Sinne, in dem das katholische Dogma zwischen der Verurteilung von Homosexualität als Praxis und der Empathie für „sündige“ homosexuelle Menschen unterscheiden will).
Ratzinger warnte schon als Bischof und später als Präfekt der Glaubenskongregation vor Gender als falscher Philosophie. In einer Weihnachtsansprache an das Kardinalskollegium in Jahr 2012 sagte er: „Das Geschlecht ist nach dieser Philosophie nicht mehr eine Vorgabe der Natur, die der Mensch annehmen und persönlich mit Sinn erfüllen muß, sondern es ist eine soziale Rolle, über die man selbst entscheidet, während bisher die Gesellschaft darüber entschieden habe. Die tiefe Unwahrheit dieser Theorie und der in ihr liegenden anthropologischen Revolution ist offenkundig.“ Die Kirche tritt als Verteidigerin der durch liberalisierte Geschlechterverhältnisse bedrohten Werte und als Beschützerin von Familie und Kindern vor vermeintlicher Indoktrination auf
Parallelen gibt es zu den Aussagen säkularer Gegner:innen der Gleichberechtigung queerer Menschen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere ein politischer Aktivismus zu nennen, der Selbstbestimmungsrechte für trans Menschen als Angriff auf Frauenrechte und Schutzräume für Frauen und Kinder darstellt. Seine Protagonist:innen kommen häufig aus dem Umfeld des sogenannten „genderkritischen Feminismus“ (wie Kathleen Stock oder J. K. Rowling) und aus dem konservativen bis extrem rechten politischen Spektrum (wie Jordan B. Peterson oder Matt Walsh), aber sie finden mitunter Zustimmung von Menschen, die sich politisch liberal oder links verorten.
Diese ideologischen Verbindungen zwischen einem neofaschistischen Diktator (Putin), konservativen religiösen Milieus und sich als feministisch verstehenden Aktivist:innen sind nicht bloß oberflächlicher Natur. Schaut man auf ihre historische Genese, so zeigt sich, dass hier strategisch politische Brücken gebaut wurden.
Ideologischer Brückenschlag
Der begriffliche Kitt zwischen diesen Positionen ist der Begriff der „Natur“ als normative Naturordnung, insbesondere als „natürliche“ Machtordnung der Geschlechter. Diese zeigt sich affirmativ, wenn die Komplementaritätsdoktrin der katholischen Kirche Männer und Frauen als von Gott füreinander und für den Zeugungsakt geschaffen begreift (eine religiöse Verbrämung eines sehr alten philosophischen Motivs). Sie äußert sich kondemnatorisch, wenn Homosexualität und Transidentität als widernatürlich bezeichnet werden. Die Rhetorik verschärft sich, wenn minderjährige Menschen in den Fokus der Debatte geraten. Mit dem moralischen Imperativ des Kinderschutzes werden dann etwa Adoptionen von gleichgeschlechtlichen Paaren oder die stützende Begleitung transidenter Jugendlicher dämonisiert.
Wie die Philosoph:innen B. R. George und Stacey Goguen zeigen, werden durch solche Dämonsierungen seit Jahrzehnten methodisch Moralpaniken erzeugt: was sich vor drei oder vier Jahrzehnten noch gegen Feministinnen und Homosexuelle richtete, wendet sich heute gegen trans Menschen. In diesen Moralpaniken spielt der Gedanke der „sozialen Ansteckung“ eine zentrale Rolle; also die Vorstellung, dass Feminismus und Homosexualität durch den Kontakt mit selbstbewussten Feministinnen oder offen homosexuell lebende Menschen weitergegeben werden können. Dieser Gedanke liegt auch den queerfeindlichen Gesetzen und Gesetzesvorhaben in Russland, Polen, Ungarn, Florida, Tennessee, Utah und vielen anderen Jurisdiktionen zugrunde: gegen „homosexuelle Propaganda“, gegen Drag Shows, gegen den freien Zugang zu Informationen und Kultur.
Er motiviert auch den Anti-Trans-Backlash, der inzwischen in vielen Ländern in den politischen Mainstream eingedrungen ist. Durch methodologisch fragwürdige Studien wie die rapid onset gender dysphoria-Umfrage von Lisa Littman, schrille Bücher wie Irreversible Damage von Abigail Shrier und auf sozialen Medien sehr aktive Reichweitenverstärker:innen wie die Autor:innen J. K. Rowling und Jordan B. Peterson wird sehr gezielt Angst geschürt vor einem „Transgenderismus“, der sich wie ein Virus verbreite.
Diese Angst speist sich aus der Gleichsetzung eines stützenden Umgangs mit trans Jugendlichen mit Manipulation, Kindesmissbrauch und der chirurgischen Verstümmelung von Minderjährigen. Sie greift ein aus der Filmgeschichte(Psycho, Dressed to Kill, oder Das Schweigen der Lämmer) bekanntes Motiv auf: der Mann, der sich als Frau verkleidet, um Frauen Gewalt anzutun. Denn in Diskussionen um Toiletten, Umkleidekabinen und Drag Shows tauchen vor allem trans Frauen auf, die dort als gefährliche „Männer in Frauenkleidern“ verächtlich gemacht werden. In Debatten über Hormontherapien, Pubertätsblocker und geschlechtsangleichende Eingriffe tauchen vor allem transmaskuline Personen auf: hier aber als „verwirrte Mädchen“, die von verantwortungslosen Mediziner:innen zu irreversiblen Eingriffen gedrängt würden.
In diesem Zusammenhang werden gerne sogenannte detransitioners zitiert, also Menschen, die manche oder alle der von ihnen gewählten Anpassungsmaßnahmen bereuen. Der Tonfall, mit dem solche Fälle von der Anti-Trans-Propaganda genutzt werden, ist geprägt von Sorge um Weiblichkeit und Fruchtbarkeit. Abgeschnittene Brüste und herausgeschnittene Gebärmütter (wie auf dem Cover von Abigail Shiers Buch) werden zum Symbol einer bösen Ideologie, die sich nicht nur an der Natur der Weiblichkeit vergeht, sondern auch das Fortbestehen der Menschheit insgesamt gefährdet.
So wird auf naturgegebene Eigenschaften verwiesen, die eine Transition nicht ändern könne. Auf der eigenen Seite die sexuelle Aggressivität des Mannes, auf der anderen Seiten die Fortpflanzungsfähigkeit und der Fortpflanzungswille der Frau. Dieser Punkt macht diese Anti-Trans-Motive anschlussfähig in unterschiedlichen politischen Lagern: Feministinnen, die sich um die Belange „biologischer Frauen“ sorgen; religiöse Milieus, die sich auf naturrechtliche Vorstellungen von Partnerschaft, Geschlechtsidentität und Fortpflanzung berufen; und nationalistische Milieus, die (mehr oder weniger verklausuliert) Familie und Fortpflanzung als zentral für das Fortbestehen einer ethnisch definierten Volksgemeinschaft begreifen, und diese durch queere Emanzipationsbewegungen bedroht sehen.
Der politische Brückenschlag geschieht durch Mainstreaming eines eigentlich randständigen Themas. Mitte der 1990er-Jahre nahmen konservative Akademiker:innen aus dem post-sowjetischen Raum erste Kontakte zu Gleichgesinnten in den Vereinigten Staaten auf, und im Umfeld der UN-Weltfrauenkonferenz in Peking erkoren katholische Hierarchen Gender zum neuen Feindbild. Stichwortgeberinnen waren Aktivist:innen wie Christina Hoff Sommers und Dale O’Leary, die den Gebrauch des englischen Begriffs gender schon damals als Teil einer sinistren politischen Verschwörung beschrieb. Viele von O’Learys Behauptungen (etwa ein von marxistischen Akademiker:innen unterwanderter Feminismus) gehören heute noch zum Standardrepertoire des Anti-Trans-Backlashes.
Ratzinger, der schon in der 1986 veröffentlichten Interviewreihe Zur Lage des Glaubens die ersten, vorsichtigen Schritte hin zur Gleichberechtigung queerer Menschen in apokalyptischen Worten beschrieb, nahm das Stichwort dankbar auf. Gender gab ihm einen handlichen Oberbegriff für all das Neue, gegen das er seine Kirche (und die Menschheit) zu verteidigen müssen meinte. Die Publizist:innen Birgit Kelle und Gabriele Kuby haben in den letzten anderthalb Jahrzehnten durch ihr Wirken dazu beigetragen, diesen katholischen Antifeminismus, der sich an einer angeblichen „Gender-Ideologie“ abarbeitet, zu popularisieren. Damit waren sie, wie US-amerikanische Antifeminist:innen vor ihnen, vor allem in Osteuropa erfolgreich, wo ihre Bücher übersetzt und sie gerne zu Vorträgen eingeladen wurden.
Von Religion zum Rechtsruck
Mit der Zeit griffen extremistische Politiker:innen die Schlagworte aus der katholischen antifeministischen Rhetorik auf. Im Deutschland der späten Nullerjahre versuchte zunächst die inzwischen bedeutungslose Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD), durch die Skandalisierung von Gender Mainstreaming Zustimmung jenseits ihrer rechtsextremen Basis zu gewinnen. Diese Strategie wurde von der Alternative für Deutschland (AfD) im Zuge ihrer zunehmenden Radikalisierung fortgeführt, um im Widerstand gegen „Gender-Gaga“ und „Frühsexualisierung“ die Partei als Vertreterin von traditionellen Werten, Familie und Kindeswohl präsentieren zu können.
Es ist der AfD gelungen, zumindest das Sprechen über Gender im politischen Mainstream zu verankern: als Aufregerthema, das regelmäßig von den Medien ausgeschlachtet wird, kann es sich inzwischen keine Politiker:in mehr leisten, keine Meinung dazu zu haben. (Ähnliches zeichnet sich für das Thema „trans“ ab; im Vereinigten Königreichist es jetzt schon der Fall, dass von führenden Politiker:innen erwartet wird, auf die ontologische Fangfrage, was eine Frau sei, eine Antwort zu haben.)
Viktor Orbán hat aus diesem Antigenderismus ein autokratisches Regierungsprogramm geschaffen: die Chiffre Gender ist der Scheitelstein eines Bedrohungsszenarios, in dem Orbán als Bewahrer „christlicher Werte“ gegen die Europäische Union und „Globalismus“ kämpft, um die nationale und kulturelle Einheit Ungarns zu bewahren. Orbán wird von vielen US-amerikanischen Republikaner:innen bewundert und ist gern gesehener Gast bei konservativen Veranstaltungen. Ron DeSantis, Gouverneur von Florida und aussichtsreicher Mitbewerber für die republikanischen Vorwahlen zur Präsidentschaftswahl 2024, führt in seinem Teilstaat einen Kreuzzug gegen queere Minderheiten und die Wissenschafts- und Meinungsfreiheit, der stark von Orbáns Politikstil inspiriert ist.
Das Beispiel Orbán zeigt auch, wie sehr sich Antifeminismus und der aktuelle Anti-Trans-Backlash auf antisemitische Denkmuster stützen. Orbán und von ihm inspirierte Populist:innen insinuieren regelmäßig, dass der jüdische Philanthrop George Soros einer der führende Köpfe hinter „Woke-Ideologie“ und „Gender-Ideologie“ sei. Dahinter steht der Gedanke einer kleinen, aber mächtigen Clique, der direkt aus dem Antisemitismus des 20. Jahrhunderts übernommen ist. Auch ohne jüdische Menschen explizit nennen zu müssen, fungiert dieser Verweis als eindeutige dogwhistle für ihre Adressat:innen. Dieser strukturelle Antisemitismus ist ein weiteres verbindendes Element zwischen nationalistischer, religiöser und „feministischer“ Trans- und Queerfeindlichkeit: hier treffen sich das Erbe des christlichen Antisemitismus, rechtsextremer Hass auf das Fremde, und das Bild des gefährlichen Mannes aus einer anderen Kultur (das vor allem gegen muslimische und schwarze Menschen in Stellung gebracht wird, aber auch antisemitische Wurzeln hat).
Zu diesen ideologischen Verbindungen kommen zahlreiche personelle und finanzielle Vernetzungen über internationale religiöse Organisationen. Wie Agnieszka Graff und Elżbieta Korolczuk (die in Geschichte der Gegenwart Russlands Kulturkrieg gegen Gender dargestellt haben) in ihrem Buch Anti-Gender Politics in the Populist Moment darstellen, spielt der World Congress of Families (WCF) hierbei eine tragende Rolle. Der WCF entstand aus dem bereits oben erwähnten Verbindungen zwischen reaktionären religiösen Milieus in Russland (und anderen post-sowjetischen Staaten) und den Vereinigten Staaten. Die 13. Ausgabe des Kongresses, die 2019 in Verona (und damit zum ersten Mal außerhalb der ehemaligen Sowjetunion) stattfand, brachte rechte Politiker:innen zusammen mit Aktivist:innen und evangelikalen, katholischen und orthodoxen Autoritäten. Dies bringt uns zurück zu Putin, denn es fließt nicht nur Propaganda, sondern auch Geld: vor allem aus den Vereinigten Staaten und Russland nach Europa und in andere Teile der Welt.
Was einst als kirchliche Kritik an einer fast nur Akademiker:innen bekannten Theorie begann, ist inzwischen zu einem internationalen, rechten Netzwerk geworden. Antifeminismus und die Dämonisierung von trans Personen sind nicht nur zentraler Bestandteil populistischer Politik in Europa, sie gehören auch zur außenpolitischen Strategie von Ländern wie Russland. Mit der Dämonisierung queerer Menschen spricht Russland gezielt konservative und rechtsextreme Kräfte in europäischen Demokratien an, um diese zu destabilisieren (zuletzt illustriert durch die Gründung einer internationalen „russophilen“ Organisation in Moskau, bei der neben Außenminister Lawrow und Konstantin Malofejew, einem politisch einflussreichen Geldgeber des World Congress of Families, auch der AfD-Funktionär Waldemar Herdt anwesend war und von Russland als Alternative zum „satanistischen Westen“ sprach).
Der Kampf der Russophilen, Reaktionären und Besorgten richtet sich, hier wie dort, religiös motiviert oder nicht, allerdings nicht gegen eine Ideologie. Er richtet sich gegen Menschen und ihr Recht auf Selbstbestimmung, heute wie vor dreißig oder fünfzig Jahren.