Sina Speit: Tiffany, Du hast im vergangenen Jahr Dein Buch Mobilizing Black Germany über die afro-deutsche Frauenbewegung in Deutschland veröffentlicht. Die afro-deutsche Frauenbewegung formierte sich Mitte der 1980er Jahre und ist mit der Geschichte der westdeutschen neuen Frauenbewegung verknüpft. 1986 gründeten sich die „ISD – Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“ und der Verein „ADEFRA e. V. – Schwarze Frauen in Deutschland“. Der Impuls dafür ging ganz wesentlich auf die karibisch-afrikanisch-US-amerikanische Aktivistin und Dichterin Audre Lorde zurück, die ab 1984 mehrere Jahre in West-Berlin lebte. Du beschreibst in deinem Buch sehr eindrücklich, welche Inspiration und Verbündete Lorde für die afro-deutschen und afro-europäischen Frauen war, denen sie begegnete.
Tiffany Florvil: Audre Lorde war ab 1984 Gastprofessorin an der Freien Universität Berlin. Sie gab hier drei Seminare, in denen sie afro-deutsche Frauen traf. Lorde suchte aktiv nach diesen Kontakten und um sie herum formte sich eine afro-deutsche Gemeinschaft. Audre Lordes Einfluss auf Schwarze Deutsche war sehr wichtig, sie half ihnen, ihr Schwarz-Sein zu begreifen und zu thematisieren. Mit ihren Ermutigungen für das Schreiben über die eigene Identität und ihren Einsatz für Menschenrechte war Audre Lorde jedoch überhaupt eine wichtige Figur für viele Menschen in der Afrikanischen Diaspora weltweit.
Die Geschichte, die ich in meinem Buch beschreibe, soll den Leser*innen das Entstehen und die Bedeutung der afro-deutschen Bewegung aufzeigen. Neben Lorde waren viele weitere Schwarze und Schwarze Deutsche sehr wichtig, es gab Aktivist*innen in Berlin, Frankfurt, Hamburg und anderen Städten. Diese deutschen Protagonistinnen des Schwarzen Feminismus sind gegenüber den US-amerikanischen – Audre Lorde, Toni Morrison oder Angela Davis – kaum bekannt.

Audre Lorde und May Ayim (1987), Quelle: FFBIZ-Archiv
SiS: Dabei wird in deinem Buch deutlich, wie wichtig die afro-deutschen Aktivist*innen nicht nur für den Schwarzen Feminismus, sondern auch als Pionier*innen der queeren Bewegung waren: So beschreibst Du die afro-deutsche Frauengruppe ADEFRA als einen Ort der queeren Identitätsbildung, warum?
TiF: Das ist ein Eindruck, der sich mir durch die Quellen offenbart hat. ADEFRA wurde von queeren Schwarzen Frauen gegründet, Jasmin Eding, Judy Gummich, Eva von Pirch, Elke Jank, Katharina Oguntoye und vielen mehr – es gab immer eine queere Perspektive in ADEFRA. Die Frauen sprachen darüber, ob sie queer waren, Heteras oder non-binary – wobei sie diese Sprache in dieser Form nicht hatten. ADEFRA war eine Organisation, in der queere Identitäten und Strategien ausprobiert werden konnten. Sie waren auch mit weißen queeren Frauen verbunden, aber ADEFRA war ihr Ort, in dem sie den Besonderheiten ihrer Identitäten als queere Schwarze Frauen nachspüren konnten. Es war ein wichtiger Ort, um gegen traditionelle deutsche Lebensformen und herkömmliches Wissen zu handeln und ihre Identitäten freier auszuprobieren, für einzelne wurde ADEFRA zum Ort einer neuer Identitätsbildung.
SiS: In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre lag die Hochphase der autonomen feministischen Projekte schon hinter ihnen und die Frauenbewegung verbreiterte und veränderte sich: Die letzte Frauen-Sommeruniversität fand 1983 statt, die „Courage“ erschien 1984 letztmalig, mit der Gründung der GRÜNEN und durch weitere Institutionalisierungen fanden die Anliegen der neuen Frauenbewegung Einzug in politische Institutionen. Als ich Dein Buch las, erschien es mir, als mache die afro-deutsche Frauenbewegung alles im Schnelldurchlauf: Die Bewusstwerdung, das Zusammenkommen in regionalen Gruppen, gleichzeitig die überregionale Vernetzung, die Kulturproduktion. Das ist doch wahnsinnig dicht in den Jahren von 1984 bis Anfang der 90er, oder? Wie siehst Du die Verbindung zu der Frauenbewegung vorher? Auf welche Ressourcen und Erfahrungen konnten die afro-deutschen Feministinnen aufbauen?
TiF: Bestimmte Frauen wie Ika Hügel-Marshall, Eva von Pirch, Helga Emde oder Katharina Oguntoye hatten schon viele Erfahrungen mit der neuen Frauenbewegung gemacht, sie waren selbst in verschiedenen Gruppen aktiv und haben das, was sie dort gelernt und getan haben, in die Gründung der afro-deutschen Bewegung mitgenommen. Insofern sehe ich da einen Zusammenhang. Aber sie haben das Wissen und die Praktiken entscheidend erweitert, durch die Thematisierung von Rassismus und Antisemitismus in vielen Seminaren und Workshops und durch ihre Verbindungen: Die afro-deutsche Frauenbewegung war natürlich mit der Schwarzen Bewegung in Deutschland verknüpft – eine wichtige Rolle spielten zum Beispiel Patrick Elcock, Vusi Mchunu, Abdul Alkalimat – und auch international. Sie stellten auch ganz neue Fragen: Durch ihre Suche nach Identität fragten sie danach, was Deutsch-Sein und Schwarz-Sein überhaupt bedeuten.
SiS: In den 1980er Jahren wurde in der neuen Frauenbewegung ja überhaupt erst explizit und öffentlich über Antisemitismus und Rassismus gesprochen. Du beziehst Dich in Deinem Buch auch auf die Erfahrungen der Schwarzen Frauen, die sich zuvor in den Frauengruppen als oft einzige Schwarze Frau entweder nicht gesehen oder ausgegrenzt gefühlt hatten.
Ich finde es so interessant und gleichzeitig so schwer nachzuvollziehen, wer wann in der neuen Frauenbewegung überhaupt dazu in der Lage war, Rassismus anzusprechen. Man sieht zu Beginn der 1980er Jahre, wie mühevoll diese Auseinandersetzung anfing und wie lange es brauchte, offen darüber sprechen zu können.
TiF: Was war Deines Erachtens der Grund dafür, dass sie sich erst in den 80er Jahren damit auseinandersetzen konnten?

Audre Lorde in Berlin, 1986, Quelle: FFBIZ-Archiv
SiS: Sie fingen theoretisch mit der Prämisse an, dass alle Frauen gleich seien, und das machte unterschiedliche Diskriminierungen zu wenig sichtbar. Dann fielen bestimmte Perspektiven, Gruppen und Personen aus der Öffentlichkeitsproduktion heraus; das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt. Ilse Lenz weist immer wieder darauf hin, dass es Migrantinnen-Gruppen schon in den 70er Jahren gab. Diese wurden aber in der linken Alternativöffentlichkeit kaum sichtbar und ihre Anliegen deswegen nicht in die Breite der Gesellschaft transportiert. Überwiegend waren es weiße Akademikerinnen, die zum Beispiel die feministischen Zeitschriften gemacht haben. Somit ging es auch zumeist um ihre Identitäten. In den 1980er Jahren kam dann erst richtig der Perspektivwechsel, das hängt auch mit dem gesellschafts- und erinnerungskulturellen Wandel zusammen. Jetzt wurde auch in der Breite der Frauenbewegung die Diskriminierung „Anderer“ erst überhaupt richtig wahrgenommen und einige begannen, sich mit ihrer eigenen Identität als Angehörige einer weißen Mehrheit und als Nachkommen der nationalsozialistischen Täter*gesellschaft auseinanderzusetzen.
TiF: Die Frauen der afro-deutschen Bewegung – unter ihnen waren auch einige weiße Frauen wie Dagmar Schultz – haben versucht, das zu thematisieren, was wir heute Intersektionalität nennen. Sie schrieben über verschiedene Diskriminierungen, über so etwas wie ‚Othering‘. Ein Zugang dazu war natürlich die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus, den Du untersuchst, aber eben nicht nur.
SiS: Du beschreibst die Protagonistinnen der afro-deutschen Frauenbewegung als ‚quotidian intellectuals‘, als Intellektuelle des Alltags. Ich stelle mir vor, dass sie besonders aus ihren eigenen, subjektiven Erfahrungen schöpften, hieraus Wissen generierten, und dass sie ganz spezifische Grenzen oder Hemmschwellen überwinden mussten, um als Schwarze deutsche Frauen intellektuell tätig zu werden. Würdest Du das als ein typisch feministisches Handlungsprinzip beschreiben oder siehst Du ganz bestimmte Unterschiede zur weißen feministischen Bewusstseinsbildung?
TiF: Das hängt sehr mit der Schwarzen diasporischen Geschichte zusammen. Die afro-deutschen Feministinnen benutzten ihre Perspektive als eine Methode, um die Welt zu begreifen. Sie verwiesen auf ihre persönlichen Erfahrungen, um Rassismus und Gender-Diskriminierungen aufzuzeigen, und wollten damit die Gesellschaft verbessern. In einem radikalen Akt haben sie auch deutsches Wissen durch ihren Aktivismus, ihre Aktivitäten und ihr Schreiben verändert. Sie zeigten, dass sie Afro-Deutsche Intellektuelle waren. Sie konnten neues, de-kolonialistisches Wissen erschaffen und es politisch anwenden.
SiS: Ein wichtiger Punkt in Deinem Buch ist, die Bewegung in ihrem internationalen Charakter einzubetten. War diese Internationalität von Anfang an gegeben, oder war das eher ein Ziel der Frauen, die in den 80er Jahren anfingen, sich zu vernetzen?
TiF: Ich würde sagen, dass es von Anfang an eine internationale Bewegung war. Die deutschen Frauen haben schon früh an internationalen Konferenzen teilgenommen und standen seitdem in Verbindung mit Frauen in den Niederlanden, Südafrika, den USA und Frankreich. Gleichzeitig war es von Beginn an für ihre Bewusstseinsbildung als Frauen der afrikanischen Diaspora wichtig, diese Verbindungen zu sehen und auf sie bauen zu können. Insbesondere Afro-Deutsche waren immer sehr international orientiert. Sie waren immer Schwarze Internationalist*innen wie W.E.B Du Bois und Shirley Graham Du Bois.
SiS: May Ayim, Katharina Oguntoye und andere haben auf die rassistischen Ausgrenzungsmechanismen in der deutschen Gesellschaft aufmerksam gemacht. Sie thematisierten und analysierten ihren gegenwärtig erlebten Rassismus in mehreren Kontexten und Traditionslinien – Nationalsozialismus, Kolonialismus, Migrationsgeschichte. Um ein Stichwort aus aktuellen Debatten zu nennen: Schufen sie damit schon ‚multidirektionale Erinnerungen‘? Waren sie ihrer Zeit voraus, wurden sie nicht gehört?

Flugblatt, Quelle: FFBIZ-Archiv
TiF: Ja, genau. Ich glaube, sie wurden nicht gehört. Sie haben in einer Form ‚multidirektionales‘ Erinnern betrieben, sie haben darüber geschrieben und gesprochen, welche Auswirkungen die Geschichte des Kolonialismus und des Nationalsozialismus auf ihre Leben hat. Das war eine schwierige Arbeit, einerseits sich das selbst anzueignen, andererseits nach außen zu tragen – über Kolonialismus wurde nichts im Schulunterricht gelernt, nichts an den Universitäten gelehrt. Es gab überhaupt keine Gelegenheit der Auseinandersetzung damit.
Mit dem Aufkommen der neuen Frauenbewegung und der Schwarzen Bewegung wurden neue historische Themen in die Öffentlichkeit gebracht, sie verdeutlichten die Notwendigkeit, sich mit dieser Geschichte zu beschäftigen. Sie machten deutlich, dass das für den Weg zu einer inklusiveren Gesellschaft notwendig war; die Diskriminierungen und Marginalisierungen sollten aufgebrochen werden.
SiS: Das sind Themen, die der „Klassiker“ der afro-deutschen Frauenbewegung, das Buch Farbe bekennen- Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, 1986 aufgebracht hat. Es ist 2020 vom Orlanda-Verlag neu aufgelegt worden!
TiF: Ich muss sagen, dass ich noch heute immer wieder Neues in Farbe bekennen finde, obwohl das Buch jetzt schon 35 Jahre alt ist. Es war nicht nur ein wichtiger Impulsgeber in der afro-deutschen Frauenbewegung, sondern es ist bis heute ein bemerkenswerter Text. Es gibt darin so viele tolle Geschichten und Gedichte zu entdecken, es ist so reichhaltig!
SiS: Was bedeutete die Wende 1989/90 für die afro-deutsche Bewegung?
TiF: Schwarze Deutsche waren von den kulturellen und politischen Veränderungen, die mit dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 und der politischen Wiedervereinigung im Oktober 1990 einhergingen, stark betroffen. Das soll nicht heißen, dass es Rassismus und Diskriminierung vor dieser Zeit nicht gab, aber die rassistische Gewalt in Deutschland wurde zu diesem Zeitpunkt sichtbarer und häufiger. Diese Gewalt existierte auch neben der politischen Rhetorik, die behauptete: „Wir sind ein Volk“. Im Jahr 1990 bildete sich das Black Unity Committee (BUC), um Vorfälle rassistischer Gewalt im ganzen Land zu dokumentieren. Diesem Komitee gehörten nicht nur Mitglieder der Schwarzen Deutschen Bewegung an, sondern viele weitere Menschen aus der größeren afrikanischen Diaspora in Deutschland. Ich diskutiere das BUC und andere Entwicklungen in meinem Buch. May Ayim thematisierte diesen Wandel sehr offen in ihrer Prosa und in Interviews, aber sie war sicherlich nicht die Einzige. ISD und ADEFRA organisierten Veranstaltungen, die sich auch mit dem neuen rassistischen Klima befassten, das auch für Immigrant*innen und nicht-weiße Deutsche besonders schwierig war. So wurde 1989/90 zu einem Moment für nachhaltigeren antirassistischen Aktivismus in der Community.
2019 hat die Schwarze deutsche Aktivistin Peggy Piesche ein Buch über die Erfahrungen von Schwarzen und People of Color in Ost und West im Jahr 1989 veröffentlicht: Labor 89 – Intersektionale Bewegungsgeschichte*n aus West und Ost. In diesem Text beschäftigt sich Peggy Piesche mit intersektionalen Perspektiven aus der Wendezeit. Im kollektiven deutschen Gedächtnis werden diese intersektionalen Perspektiven oft ignoriert. Labor 89 offeriert acht Porträts von Schwarzen, People of Color, und queeren Aktivist*innen. Diese Aktivist*innen kämpften gegen Rassismus, Sexismus, Homophobie und Ausländerfeindlichkeit in Deutschland. In einer aktuellen Arbeit befasse ich mich selber auch noch mehr mit dem ehemaligen Osten.
SiS: Du ziehst Deine Analyse bis in die 2000er Jahre und kommst am Ende kurz zur deutschen Black Lives Matter Bewegung. Die Schwarzen deutschen Aktivist*innen der 80er Jahre sind teilweise heute noch aktiv, aber in den öffentlichen Debatten um BLM 2020 oftmals unterrepräsentiert, ist mein Eindruck. Wie kommt das?
TiF: Einerseits enttäuscht mich das: Nach über 30 Jahren afro-deutscher Bewegung in Deutschland immer noch diese Diskriminierungen. Andererseits bin ich begeistert von den aktuellen Gruppen, von der wichtigen Arbeit gegen Rassismus, die sie und neue Aktivist*innen bis heute leisten. Es dauert einfach, etwas in der Gesellschaft zu bewegen. Für heutige BLM Aktivist*innen ist die internationale Vernetzung erneut sehr wichtig, ganz ähnlich wie zu Beginn der Schwarzen deutschen Bewegung. Das hilft den Aktivist*innen weiter zu machen und die Hoffnung nicht aufzugeben. Auch die Solidaritätspolitik ist sehr wichtig. Wir brauchen dieses breite Feld an Solidarität.
SiS: Ich frage mich, wo die Traditionsbildung ist. Worauf können Schwarze Deutsche heute zurückgreifen? Ist die Bewegung offenbar und bekannt genug?
Alice Hasters schreibt in ihrem Buch Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten (2019), dass sie erst spät Farbe bekennen entdeckt hat und sich gewünscht hätte, das Buch eher gelesen zu haben, um als Schwarze Deutsche von ihren „Vorgängerinnen“ gewusst zu haben.
TiF: Genau, ich glaube, die Bewegung ist eben nicht so offenbar und anerkannt – das ist das Problem. Deswegen ist mein Buch auch für die neue Generation Schwarzer Deutscher so wichtig. Ich wünsche mir, dass sie das wahrnehmen können, dass sie darin lesen können und sehen, dass sie Teil einer Geschichte und einer Gemeinschaft sind. Schwarze Menschen gibt es in Deutschland seit dem 13. Jahrhundert. Es gab Schwarze Deutsche, die sich in der Weimarer Republik für Menschenrechte und gegen Kolonialismus eingesetzt haben; sie haben auch in den 1980er Jahren gekämpft, sie kämpfen jetzt – es gibt ein breites Feld an Schwarzer deutscher Geschichte! Ich wünsche mir, dass das in Deutschland mehr wahrgenommen wird. Das hängt nicht nur mit Identität und Zugehörigkeit zusammen, sondern auch mit dem Wissen über den deutschen Nationalismus zum Beispiel. Jede*r Deutsche lernt mit der Beschäftigung der Schwarzen deutschen Geschichte etwas über sich selbst und über Deutschland. Die neuen deutschen Debatten über die Schoah und den Kolonialismus zeigen uns, wie wichtig und notwendig afro-deutsche Perspektiven sind.
Tiffany N. Florvil, Mobilizing Black Germany – Afro-German women and the making of a transnational movement (Illinois 2020)