Die Rede von der Integration ist nebulös. In einer pluralisierten Gesellschaft ist sie vor allem eine Waffe jener, die von den ‚Anderen‘ Integration, ja Anpassung verlangen, ohne selbst dieser imaginären Norm zu entsprechen. Wir sollten die Vokabel streichen.

Sie ist allge­gen­wärtig, die Rede von der „Inte­gra­tion“ und vom „Inte­grieren“. „Wir schaffen das“ (oder auch nicht) meint: „…mit der Inte­gra­tion“ (oder auch nicht). Von links bis rechts ist man sich in diesen aufge­regten Zeiten immerhin darin einig, dass „Inte­gra­tion“ an sich „notwendig“ sei und die zu uns kommenden Fremden „sich inte­grieren müssen“, streitet aber darüber, ob sie „inte­griert werden können“ oder „sich nicht inte­grieren wollen“, und so weiter.

Doch was heisst das genau? Wie viele ehema­lige ‚Fremd­worte‘ hat auch die Vokabel ‚Inte­gra­tion’ ihre sprach­ge­schicht­liche Wurzel im Latei­ni­schen, beim Substantiv inte­gratio und dem Verb inte­grare. Das latei­ni­sche Verb wird mit „wieder­her­stellen, erneuern“ über­setzt, was gleichsam von Anfang an einen verwir­renden Doppel­sinn in den Begriff einschreibt: „Wieder­her­stellen“ meint die Wieder­her­stel­lung eines zerbro­chenen „Ganzen“, so der Duden, „erneuern“ hingegen gemäss Duden das Zusam­men­fügen von Teilen zu einem neuen, künf­tigen „Ganzen“.

Wort­ge­schichten

Man könnte sagen, das ganze Problem mit der Inte­gra­tion stecke in dieser kleinen Diffe­renz, die die Bedeu­tung des Begriffs unab­weisbar spaltet, ja ihm eine konsti­tu­tive Unschärfe, eine tiefe Unein­deu­tig­keit zuweist. Diese macht sich auch in der gegen­wärtig laufenden Debatte über Flücht­linge bemerkbar. Denn man möchte doch zu gerne wissen: Bedeutet ‚Inte­gra­tion’ die Wieder­her­stel­lung eines angeb­lich oder tatsäch­lich zerbro­chenen gesell­schaft­li­chen ‚Ganzen‘ – was auch immer das sein mag? Oder geht es um die Schaf­fung einer, wiederum laut Duden, „erneu­erten“ Gesell­schaft, einer neuen Form des gesell­schaft­li­chen Zusam­men­le­bens, die sich dank Inte­gra­tion ‚im Ganzen’ von der alten, vorher­ge­henden, unter­ge­gan­genen oder zerstörten signi­fi­kant unter­scheidet? Und, weiter noch, wer ist es eigent­lich, der ‚wieder herstellt’ oder ‚neu schafft‘? Sind das dieje­nigen, welche die Fremden – und darum geht es ja – zur Inte­gra­tion auffor­dern, d.h. die so genannte Mehr­heits­ge­sell­schaft? Oder sind es jene ‚Menschen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund‘, die sich so sehr an ihre neue Umge­bung anpassen, dass sie alle Fremd­heit verlieren, und man fast glauben möchte, das alte ‚Ganze‘ liesse sich wieder­her­stellen? Die dritte, de facto wohl einzig realis­ti­sche Vari­ante liegt darin, dass sich die Fremden zwar zumin­dest ein wenig anpassen – zum Beispiel, indem sie die Sprache lernen –, dass aber genauso die Mehr­heits­ge­sell­schaft sich verän­dern muss, weil sie von den Migranten zur Inte­gra­tion in ein neues, gemein­sames ‚Ganzes‘ geführt wird. Man darf hier, stell­ver­tre­tend, gerne an die Verän­de­rungen der Koch­kultur denken.

Was also heisst Inte­gra­tion? Auf den ersten Blick ähnlich verwir­rend ist die quan­ti­ta­tive Entwick­lung der Verwen­dung des Begriffs während der letzten drei Jahr­hun­derte: Von 1700 bis ziem­lich genau 1945 war die Vokabel im Deut­schen wie etwa auch im Fran­zö­si­schen kaum in Gebrauch, dann aber steigt ihre Kurve im Google Books Ngram Viewer steil an. Das liegt nicht daran, dass Inte­gra­tion ein ‚Fremd­wort‘ war, das man bis 1945 nicht verstanden hätte; Synonyme wie ‚Einglie­de­rung‘, ‚Wieder­her­stel­lung‘‚ oder ‚Erneue­rung‘ verschwinden keines­wegs propor­tional zum Aufstieg der ‚Inte­gra­tion‘ (beim Begriff ‚Assi­mi­la­tion‘ hingegen über­wiegen natur­wis­sen­schaft­liche Verwen­dungs­weisen so sehr, dass die entspre­chende Kurve dazu keine Aussa­ge­kraft hat).

Quelle: books.google.com/ngrams

Quelle: books.google.com/ngrams

Dieser auffal­lende Kurven­ver­lauf lässt sich durchaus nach­voll­ziehen. Unmit­telbar nach dem Ende des Zweiten Welt­kriegs scheint die neu aufkom­mende Rede­weise die damals äusserst schrill geführten Ausein­an­der­set­zungen um das Schicksal von Millionen von Flücht­lingen aus dem ehema­ligen Osten des „Dritten Reichs“ sowie der „Heimat­ver­trie­benen“ aus Schle­sien und Böhmen zu reflek­tieren. Etwas später, 1954, wurde erst­mals offi­ziell von der „euro­päi­schen Inte­gra­tion“ gespro­chen. Und seit den frühen 1960er Jahren waren es die soge­nannten „Gast­ar­beiter“ aus dem euro­päi­schen Süden, deren Inte­gra­tion verhan­delt wurde. Mit der Wirt­schafts­krise von 1975 und der unfrei­wil­ligen Rück­kehr vieler „Gast­ar­beiter“ in ihre Herkunfts­länder nahm, wie der Kurven­ver­lauf nahe­legt, diese Dring­lich­keit vorüber­ge­hend wieder ab; seit der ökono­mi­schen Trend­wende um 1985 aber hält die Wort-Konjunktur von ‚Inte­gra­tion‘ bis heute unge­bro­chen an.

Sozi­al­wis­sen­schaft­liche Kritik

Diese kleine Wort­ge­schichte legt die Vermu­tung nahe, dass ‚Inte­gra­tion‘ gelinde gesagt sehr viel bedeuten kann und die Vokabel daher, einem grossen Gefäss gleich, ausge­spro­chen empfäng­lich ist für wech­selnde poli­ti­sche Konjunk­turen und Wert­hal­tungen. Man könnte auch sagen: Sie ist ein heraus­ge­ho­bener Kampf­platz, auf dem über funda­men­tale Prin­zi­pien unserer Gesell­schaften gestritten wird.

Ein unsys­te­ma­ti­scher Blick in die sozi­al­wis­sen­schaft­liche Lite­ratur zu Fragen der Zuwan­de­rung, der Inte­gra­tion oder der Assi­mi­la­tion bestä­tigt diesen Befund. So resü­miert Fried­rich Hack­mann (2015) zwar, dass in der Forschung seit den 1990er Jahren – nicht zuletzt unter dem Eindruck des euro­pa­weiten poli­ti­schen Rechts­trends – zuneh­mend ein assi­mi­la­ti­ons­theo­re­ti­sches Konzept von Inte­gra­tion vertreten werde. Dennoch wider­spre­chen diverse Studien der Auffas­sung, dass Inte­gra­tion schlicht Anpas­sung der Zuwan­derer an die Mehr­heits­ge­sell­schaft bedeuten müsse. So schreibt zum Beispiel Rose­marie Sack­mann (2004/2015), gestützt auf Unter­su­chungen in den Nieder­landen, Frank­reich und Deutsch­land: „Die Forschung zeigt, dass Inte­gra­ti­ons­pro­zesse nicht von umfas­sender Assi­mi­la­tion abhängig sind.“ Viel­mehr könnten ‚Menschen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund‘ sich auch dann sprach­lich, beruf­lich, poli­tisch und sozial mit der Mehr­heits­ge­sell­schaft vernetzen – was die Sozi­al­wis­sen­schaft, grosso modo, als ‚Inte­gra­tion‘ bezeichnet –, ohne dabei etwa ihre kultu­relle oder konfes­sio­nelle Diffe­renz aufgeben zu müssen.

In ähnlich kriti­scher Weise vertreten Nicole Wich­mann und Gianni D’Amato (2010) in einer umfas­senden Studie zur Inte­gra­ti­ons­po­litik des Kantons Basel-Stadt die These, dass das in Basel verfolgte Inte­gra­ti­ons­kon­zept Fördern und Fordern de facto auf eine deut­liche Assi­mi­la­ti­ons­an­for­de­rung hinaus­laufe. Denn gefor­dert würde viel, während die Ideen zum Fördern weit­ge­hend vage blieben. Inte­gra­tion werde daher als eine An- und Einpas­sung der Zuge­zo­genen in die städ­ti­sche Gesell­schaft verstanden – und zwar eindeutig auf Kosten der Frei­heits­rechte der Migran­tinnen und Migranten. Wichmann/D’Amato schreiben daher (in einer aller­dings proble­ma­ti­schen Verwen­dung eines homo­ge­ni­sie­renden „wir“):

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„Die Kern­frage, die eine auf dem Prinzip des Förderns und Forderns basie­rende Inte­gra­ti­ons­po­litik aufwirft, ist somit die nach dem Grad an Diffe­renz, den wir in unserer Gesell­schaft zu akzep­tieren bereit sind. Es fragt sich, wie viel Unter­wer­fung wir verlangen bzw. wie viel ‚Anders­heit‘ wir tole­rieren.“ – Nicole Wichmann/Gianni D’Amato, 2010

Das aller­dings scheint, zumin­dest im euro­päi­schen Vergleich, für die Schweiz keine Frage zu sein: „Wir“ „tole­rieren“ wenig ‚Anders­heit‘. Oder genauer noch, und durchaus paradox: Wie der im Juni 2015 der Öffent­lich­keit vorge­stellte neuste Migrant Inte­gra­tion Policy Index (MIPEX) der OECD zeigt, wollen „wir“ zwar wenig ‚Anders­heit‘, leisten selbst aber auch wenig für die Inte­gra­tion der ‚Anderen‘ – weil wir sie offenbar nur dann ‚inte­grieren‘ wollen, wenn sie sich zuvor schon selbst ‚assi­mi­liert‘ haben. Die Schweiz rangiert im MIPEX 2015 daher unter allen 38 OECD-Ländern auf Rang 21, deut­lich hinter allen west- und nord­eu­ro­päi­schen Staaten. Sie ist nur deshalb nicht noch schlechter plat­ziert, weil ihr Gesund­heits­wesen auch für Zuge­zo­gene gut zugäng­lich ist – und weil der flexi­bi­li­sierte Arbeits­markt bislang für auslän­di­sche Arbeit­neh­me­rInnen offen ist. Ansonsten sind die im MIPEX-Bericht sehr ausführ­lich doku­men­tierten Daten für die Schweiz pitoyabel; bei den Para­me­tern „family reunion“, „access to natio­na­lity“ und „anti-discrimination“ liegt das Land, leider wenig über­ra­schend, fast ganz am Schluss des Rankings.

Migration-Index Switzerland, 2015; Quelle: NZZ, auf der Basis von http://www.mipex.eu/switzerland#/filter-countries

Migration-Index Switz­er­land, 2015; Quelle: NZZ, auf der Basis von mipex.eu/switzerland#/filter-countries

Politik der Unbestimmtheit

Was also heisst Inte­gra­tion? In ‚was‘ genau sollen sich Migran­tinnen und Migranten denn eigent­lich ‚inte­grieren‘? Gesell­schaften sind nie homogen, wie die Rede von der Inte­gra­tion in mythi­sie­render Weise sugge­riert, sondern meist von tiefen Wohlstands- und Bildungs­dif­fe­renzen durch­furcht, poli­tisch gespalten und neuer­dings wieder konfes­sio­nell erregt. In all diese Konflikt­muster können sich Migran­tinnen und Migranten nicht ‚inte­grieren‘, viel­mehr werden sie zuerst einmal darin einsor­tiert. Ist daher der Migrant am untersten Ende der sozialen Stufen­leiter, ‚der Migrant‘ gar, dessen ‚Inte­gra­tion schei­tert‘, oder auch, umge­kehrt, jener ganz zuoberst, in den Chef­etagen von Gross­kon­zernen, nicht der ideale Sünden­bock? Gilt der Hass, den Migranten auf sich ziehen, wirk­lich ihnen? Oder verrät ihr Schicksal ebenso wie ihr Erfolg bloss das schmut­zige, dabei offen zu Tage liegende Geheimnis des Neoli­be­ra­lismus, dass nämlich das indi­vi­du­elle Streben, sein Leben zu verbes­sern, in einer dere­gu­lierten Wirt­schaft meist nur zur Opti­mie­rung der Chancen weniger führt?

Gesell­schaften der west­li­chen Moderne bzw. Post­mo­derne zeichnen sich neben ihren Klas­sen­dif­fe­renzen aber auch dadurch aus, dass sich jede inhalt­lich irgendwie bestimmte, positiv ausweis­bare Vorstel­lung davon, wie ‚man‘ in ihnen zu leben und sich zu verhalten habe, in mehreren kultur­re­vo­lu­tio­nären Schüben aufge­löst hat. Diese histo­risch einzig­ar­tige Plura­li­sie­rung der Lebens­stile hat sich seit dem Ende der 1960er Jahre so sehr verstärkt, dass sie heute gar als harte Norm gegen­über Migran­tinnen und Migranten erscheint („Wie würden Sie reagieren, wenn Ihr Sohn Ihnen sagt, er sei schwul?“ Achtung: Tole­ranz­falle!). Es geht nicht darum, dass Migranten ‚sich an die Gesetze halten‘ (das tun die aller­meisten von ihnen, so wie die aller­meisten anderen das auch tun), ob sie die Sprache der Mehr­heits­ge­sell­schaft lernen (sie tun es in aller Regel), oder ob sie in den Arbeits­markt inte­griert werden (dito). Die Frage ist einzig, ob die west­liche, ohnehin hete­ro­gene Mehr­heits­ge­sell­schaft die zusätz­liche, neue Diffe­renz akzep­tiert, die die Zuzüger in unsere Gesell­schaften einbringen.

Berlin-Neukölln, 2016; Bild: Philipp Sarasin

Berlin-Neukölln, 2016; Bild: Philipp Sarasin

Migran­tinnen und Migranten sind mit einer verwir­renden Politik der Unbe­stimmt­heit konfron­tiert. Die zuneh­mend härter werdende Forde­rung nach Inte­gra­tion ist nur dann klar und eindeutig, wenn sie schlicht Anpas­sung, d.h. Assi­mi­la­tion fordert, also die Aufgabe jeder Diffe­renz als Voraus­set­zung mögli­cher Akzep­tanz als Gesell­schafts­mit­glied. Die Rede von Inte­gra­tion aber bleibt ebenso nebulös wie die Antwort auf die Frage, was denn ein ‚inte­grierter Schweizer (oder Deut­scher, etc.)‘ sei. Als Unbe­stimmte aber ist sie ein macht­volles Instru­ment der Mehr­heits­ge­sell­schaft, sich nicht mit den Geltungs-, Gleichheits- und Gerech­tig­keits­an­sprü­chen der zuge­zo­genen Minder­heiten ausein­an­der­setzen zu müssen. In einer plura­li­sierten Gesell­schaft ist derje­nige mächtig, der von den ‚Anderen‘ Inte­gra­tion, ja Anpas­sung verlangen kann, ohne selbst dieser imagi­nären Norm zu entsprechen.

Es wird daher Zeit, den Begriff ‚Inte­gra­tion‘ ganz aus dem poli­ti­schen Voka­bular zu strei­chen. Die Chance, dass er im öffent­li­chen Gebrauch positiv als ‚Schaf­fung eines neuen Ganzen‘ begriffen werden könnte, ist gering. Zu mächtig sind jene, die den Begriff als Waffe verwenden, mit dem sie von den Zuwan­de­rern Unter­wer­fung einfor­dern. Wir brau­chen dieses durch und durch unbe­stimmte Wort nicht mehr. Wir alle leben vergleichs­weise fried­lich, aber auch herr­lich anonym in unseren hete­ro­genen Gesell­schaften, ohne dass uns ständig jemand auffor­dern müsste, uns gefäl­ligst zu ‚inte­grieren‘.