Milo Rau hat kürzlich mehr Dissens gefordert. Es bringe nichts, gegen Rechtspopulisten zu protestieren, man müsse sie vielmehr mit Argumenten schlagen. Ein Gespräch mit Rau über Dissens in der Öffentlichkeit, der Politik und am Theater.

  • Milo Rau

    Milo Rau ist Regis­seur, Thea­ter­autor, Essayist und Wissen­schaftler. Ab der Saison 2018/19 über­nimmt er die Direk­tion des NTGent.

Sylvia Sasse: Milo, du hast kürz­lich auf die Proteste gegen das geplante Podium in der Gess­ne­r­allee, zu dem Marc Jongen einge­laden werden sollte, mit Unver­ständnis reagiert und gefor­dert, man müsse den „Kampf annehmen, wo man ihn findet!“ Andere sagen, diese Gespräche bringen nichts, mit Ideo­logen kann man nicht disku­tieren. Dazu hat der fran­zö­si­sche Schrift­steller Édouard Louis in einem anderen Zusam­men­hang gemeint: „Ich trete mit vielen auf, deren Meinungen ich nicht teile, ich schätze die Diffe­renz. Aber ich verwei­gere mich den rechten Ideo­logen. Ich möchte nicht über Nation, Zerfall, Souve­rä­nität disku­tieren. Sondern über Ausbeu­tung, Gewalt und Unter­drü­ckung.“ Haben nicht beide Posi­tionen eine Berechtigung?

Milo Rau ist Regis­seur, Thea­ter­autor, Essayist und Wissen­schaftler. Ab der Saison 2018/19 über­nimmt er die Direk­tion des NTGent.

Milo Rau: Unbe­dingt! Aber das ist keine Frage von „Posi­tionen“, sondern es ist eine stra­te­gi­sche Frage. Politik kennt nur Gewinner und Verlierer, ob in einer Diskus­sion oder einer Präsi­dent­schafts­wahl, und da bin ich für ein Maxi­mieren linker oder aufklä­re­ri­scher Ener­gien bzw. ein Verfechter der Maxi­mal­dif­fe­renz, nicht der Mini­mal­dif­fe­renz: Warum stellt sich, um Gottes Willen, nicht einfach die ganze links-liberale Szene hinter die Gess­ne­r­allee, auch wenn die Idee zum Jongen-Podium nicht die klügste der Saison war? Was Edouard Louis angeht: Mit ihm hatte ich schon mehrere Diskus­sionen, und natür­lich könnten wir ewig drüber reden, was ein „rechter Ideo­loge“ ist und was eine „akzep­table Diffe­renz“ – und im Übrigen geht das „akzep­table“ Feld in Frank­reich unend­lich viel weiter als in Deutsch­land oder der Schweiz. Sollte er sich aber entscheiden, eine Debatte anzu­nehmen, dann stehe ich voll hinter ihm. Ob ich nun mit ihm bei der genauen Konstel­la­tion oder im Wort­laut der Ankün­di­gung einver­standen bin, ist egal. Und genauso hätten wir auch hinter der Gess­ne­r­allee stehen sollen. Die Engel auf der Messer­spitze zählen können wir nachher immer noch, denn Mehr­heiten gewinnt man nur, wenn man über seinen Schatten springt.

Dissens­format: Moskauer Prozesse, drei­tä­tige Gerichts­show 1.-3. März 2013, Sacharow-Zentrum Moskau. Es handelt sich um eine Wieder­auf­nahme dreier Gerichts­pro­zesse gegen Künstler und Kura­toren in Russ­land, also um den Dissens zwischen regie­rungs­kri­ti­schen Künst­lern und Kura­toren und regie­rungs­treuen Medi­en­ak­teueren, Kosaken, der „Putin­ju­gend“ sowie Vertre­tern der Russisch-Orthodoxen Kirche. Quelle: IIPM

Politik kennt nur Gewinner und Verlierer? Ist das nicht eher das Konzept von (rechts-)populistischen Parteien? Die Vorliebe für Volks­ab­stim­mungen oder poli­ti­sche Modelle mit zwei großen Parteien wie in Amerika produ­zieren diese Logik. Unter Politik verstehe ich eher, dass die Verhan­del­bar­keit aufrecht­erhalten bleiben muss.

Das stimmt. Aufge­klärte Politik ist der Raum, in dem „Feind­schaft“ oder über­haupt das agonale Prinzip von „Gewinnen“ und „Verlieren“ zivi­li­siert ist, in dem der „Verlierer“ (als Oppo­si­tion oder im Rahmen einer Koali­tion) seine Stimme behält – und in zwei oder vier oder fünf Jahren viel­leicht wieder am Ruder ist. Das Problem liegt nun darin, dass die „popu­lis­ti­sche“ Ausle­gung des Mehr­heits­prin­zips diese Leih-Logik der Macht ausschalten will, nach dem Motto: „Wenn wir einmal die Macht haben, geben wir sie nicht mehr her.“ Das ist, simpel gesagt, die leni­nis­ti­sche Lektion der April­thesen, Lenins „Lehre“ aus der nicht genü­gend mili­ta­ri­sierten „Commune“ und ihrem blutigen Ende, die später die rechten Popu­listen ja adap­tiert haben. Und genau deshalb vertrete ich gegen die anti­de­mo­kra­ti­sche Rechte das eben­falls anti­de­mo­kra­ti­sche Prinzip der Funda­men­tal­op­po­si­tion. Denn ist eine solche Kraft einmal an der Macht, dann ist es nahezu unmög­lich, sie wieder aus den Insti­tu­tionen zu vertreiben – ohne in einen Bürger­krieg zu geraten. Das euro­päi­sche Diskurs­mo­dell der in den grossen tradi­tio­nellen Parteien orga­ni­sierten Demo­kratie zerfällt gerade, in Frank­reich zum Beispiel hat – zum ersten Mal in der Nach­kriegs­ge­schichte! – keine der zwei führenden Parteien bei den Vorwahlen auch nur den Hauch einer Chance gehabt. Der Parti Socia­liste brach komplett in sich zusammen und Fillon, der Kandidat der Repu­bli­kaner, konnte sich ironi­scher­weise nur dank der Unter­stüt­zung aus rechts-katholischen Kreisen gerade noch aus der Affäre ziehen. Die Frage lautet also nicht: Wie können wir ein paar Jahre noch so weiter­ma­chen wie bisher? Sondern: Was können wir dem rein macchia­vel­lis­ti­schen, alle Diskurs­re­geln funda­mental außer Acht lassenden Prinzip des „Siegs um jeden Preis“ (Trumps Motto lautet ja: „Siegen ist nicht wichtig. Es ist das einzige, was zählt.“) entge­gen­setzen? Oder anders gesagt: Wie können wir – ich meine das polit­stra­te­gisch, nicht intel­lek­tuell oder ethisch – die besseren Popu­listen sein, die besseren Gewinner?

Dass klingt wie eine noch­ma­lige Drama­ti­sie­rung der Situa­tion, die schon drama­tisch genug ist. Ich kann keinen Zerfall der parla­men­ta­ri­schen Demo­kratie erkennen. In Frank­reich haben zwar nicht die alten, aber neue Parteien die Wähler­stimmen ziem­lich regel­mäßig auf sich verteilt. Doch überall dort, wo Entweder/Oder-Politik gemacht wird oder über­haupt nur zwei Parteien (mit Maxi­mal­dif­fe­renz) antreten, da sehe ich eine poli­ti­sche Gefahr, die von eben dieser Logik der Mehr­heit ausgeht. Aber kommen wir nochmal auf den Anfang zurück, auf die Frage, ob es etwas bringt, mit Rechts­po­pu­listen, Natio­na­listen etc. zu disku­tieren. Du veran­stal­test selbst auch Diskus­sionen oder Podien rund um deine Thea­ter­ar­beiten. Gehst du da auch nach dem Prinzip der „maxi­malen Diffe­renz“ vor?

Das kommt auf die ange­strebte diskur­sive Logik des jewei­ligen Events an. Ich bin ja auch ein sehr großer Fan der Mini­mal­dif­fe­renz, also im Grund aller ästhe­ti­schen und iden­ti­täts­po­li­ti­schen Fragen – zum Beispiel der Frage, was eigent­lich das Wort „Realismus“ bedeutet, wie das neue Gesicht des Kolo­nia­lismus aussieht, warum man keine Behin­derten auf der Straße sieht. Ich habe Dutzende von Panels orga­ni­siert und ausge­sessen, auf denen man sich unter grosso modo Gleich­ge­sinnten über Detail­fragen gestritten hat – und das ist wichtig! Man muss aber manchmal, denke ich, im Kampf gegen Rechts klare Front­li­nien setzen und nicht jeden Move seiner Kollegen gleich künst­le­risch bewerten. Das poli­tisch Effek­tive ist ja meist drama­tur­gisch oder ästhe­tisch uner­giebig, intel­lek­tuell etwas banal. Aber man muss auch aufpassen, dass man die Idee des „gemein­samen Feinds“, ange­sichts dessen alles andere unwichtig wird, dass man also den genuin poli­ti­schen Raum nicht auf alle anderen Diskurs­be­reiche ausdehnt.

Die Zürcher Prozesse, 2013, Gerichts­show, Theater Neumarkt, Zurich, Photo­graph: © Markus Tomsche

Ich stimme dir völlig zu in der Frage, dass man sich nicht über Details streiten sollte, wenn es in der Sache um größere und exis­ten­ti­elle Fragen geht. Für mich ist es aber keine Haar­spal­terei, linke Poli­tiker zu kriti­sieren, die Putins Politik billigen oder gar unter­stützen, das ist für mich keine linke Politik.

Dass man sich grund­sätz­lich vereinen muss „gegen Rechts“, über alle Unter­schiede hinweg, heißt nicht, dass deshalb alle poli­ti­schen Diffe­renzen unwichtig sind. Sie sind von absolut zentraler Bedeu­tung, und es ist mein aller­größtes Hobby, mich mit den unend­li­chen Verzwei­gungen der sog. linken Szene zu beschäf­tigen. Es war meines Erach­tens völlig uner­giebig, als in den letzten Monaten plötz­lich die ganze post­mar­xis­ti­sche Linke „mea culpa“ schrie und einen neuen Klas­sen­kampf an die Stelle der gerade noch ange­sagten Iden­ti­täts­po­litik stellen wollte. Dazu würde ich gern einen anderen Fran­zosen zitieren, nämlich Didier Eribon: „Was wir jeden­falls zurück­weisen sollten, ist eine substan­tia­lis­ti­sche Vorstel­lung einer sozialen Welt, in der bestimmte Kämpfe natür­li­cher oder legi­timer erscheinen als andere. Die Formen der Herr­schaft sind viel­fältig, und deshalb müssen es die Formen des Wider­standes auch sein. Die Politik besteht immer aus Ungleich­zei­tig­keiten und hete­ro­genen Entwick­lungen. Wer die Zeit­lich­keit der Politik verein­heit­li­chen will, schränkt das Feld der Mobi­li­sa­tionen ein und zensiert die dort sich äußernden Stimmen. Man muss nur an den Mai 1968 in Frank­reich zurück­denken: zehn Millionen strei­kende Arbeiter, eine starke femi­nis­ti­sche Bewe­gung, der Kampf der Einwan­derer, die Kritik am Justiz- und Gefäng­nis­system und so weiter. All diese Dinge zusammen sind die Linke.“ Soweit Eribon. Und ich sehe es genauso: Minimal- und Maxi­mal­dif­fe­renz sind gleich wichtig, gehören zusammen.

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In einigen deiner Arbeiten, in den Gerichts­pro­zessen, war die maximal mögliche Diffe­renz durch die Gegen­über­stel­lung von Anklage und Vertei­di­gung Programm. In den Moskauer Prozessen standen sich die meist linke Oppo­si­tion (Künstler, Kunst­kri­tiker, Dissi­denten zur Zeit der Sowjet­union) und die natio­na­lis­ti­sche Rechte, ergänzt von eben­falls natio­na­lis­ti­schen ortho­doxen Gläu­bigen gegen­über, im Prozess gegen die Welt­woche eben­falls eine diffuse Linke und die rechten Kumpels von der Welt­woche (Jour­na­listen und Poli­tiker). Hier passierte diese Diffe­renz nicht nur, sie wurde regel­recht aufge­führt, sie wurde zum Theater. Was hat sich dabei deiner Meinung nach gezeigt?

Diese beiden Projekte funk­tio­nierten gemäß einer sehr einfa­chen Logik: eine Funda­men­tal­op­po­si­tion, die norma­ler­weise im medialen Raum verschleiert wird (entweder indem die jeweils andere Seite krimi­na­li­siert oder die funda­men­tale Diffe­renz konsen­suell, also rheto­risch ruhig­ge­stellt wird), wird ausge­stellt. Nicht intel­lek­tuell, sondern gleichsam in Aktion, also insze­niert als Tragödie, weshalb all diese Projekte immer fünf Akte haben. Was entsteht, ist ein Live­ar­chiv der agonalen Gesten einer bestimmten poli­ti­schen Funda­men­tal­dif­fe­renz. In Russ­land und in der Schweiz ging es sehr unter­schied­lich um die Frage nach Meinungs­frei­heit – und hinter diesen Fragen zeich­nete sich die Physio­gnomie, die Gestalt einer Gesell­schaft im Streit ab. Es wurde immer wieder ange­merkt, und ich denke, das stimmt: Was den exis­ten­zi­ellen Wert der „Zürcher“ oder der „Moskauer Prozesse“ anging, war der Einsatz vergleichs­weise gering. Einmal ging es um die Kunst, ein anderes Mal um die Medien. Viel grösser war der Einsatz beim „Kongo Tribunal“: Hier ging es um die „wahre“ Gestalt eines wirt­schaft­li­chen Welt­kriegs. Trotzdem war die Verfah­rens­weise bei allen drei Projekten im Kern die gleiche.

„Das Kongo­tri­bunal“, 2015 in Baukavu (Ostkongo) und Berlin. Inter­na­tio­naler Kino­start von „Das Kongo Tribunal“ ist Herbst 2017.

Ich habe die thea­tralen Gerichts­pro­zesse auch als Auffüh­rung von Antago­nismen der jewei­ligen Gesell­schaft gesehen. Nur die „Urteile“  (die zwar drama­tur­gisch wichtig sind) haben mich gestört, sie haben das Viel­schich­tige auf zwei Posi­tionen redu­ziert und die Komple­xität der Debatte bana­li­siert. Man könnte auch sagen, dass sich die juri­di­sche Bear­bei­tung des Antago­nismus im Urteil erschöpft. Das hat nicht viel mit dem zu tun, was Chantal Mouffe, die ja in der Theater- und Kunst­szene mit ihrem Konzept des antago­nis­ti­schen Plura­lismus zur Patin für das poli­ti­sche Theater geworden ist, meint. Die Antago­nismen des Poli­ti­schen sollen bei Mouffe ja nicht aufge­hoben werden und sollen nicht spalten und nicht zerstören. Viel­mehr stellen sie Komple­xität sicher, und, dass es so etwas wie das Poli­ti­sche über­haupt gibt. Was inter­es­siert dich an diesen Gedanken von Mouffe?

Was die Urteile angeht, hast du Recht. Sie sind drama­tur­gisch extrem wichtig (da ja alles, was gesagt wird, in der Span­nung des Urteils am Ende steht), intel­lek­tuell sind sie aber unbe­frie­di­gend. Es ist wie beim berühmten MacGuffin bei Hitch­cock: Selbst ist es nichts, substanzlos, aber es treibt die Hand­lung voran. Im Moment des Urteils findet eine komplette Entdra­ma­ti­sie­rung statt, die unauf­lösbar antago­nis­ti­sche Tragödie kommt an ihr Ende – wie in der Orestie, in der Athene den Kreis­lauf der Gewalt und der Rache am Ende mit einer Abstim­mung, einem Urteil beendet. Nun lautet natür­lich die Frage, die sich das poli­ti­sche Theater stellt: Wie zivi­li­siere ich die Tragödie, ohne sie zum Still­stand zu bringen? Wenn mir diese Bemer­kung erlaubt ist, so besteht ja der Irrtum von Perfor­mern wie zum Beispiel Marina Abra­mović oder Jan Fabre darin, dass sie immer alles „wirk­lich“ tun wollen. Nur eine reale Schnitt­wunde ist eine „Verlet­zung“, nur stun­den­langes Starren ist „Kontem­pla­tion“ usw. Die Kunst ist aber, wie die demo­kra­tisch (und nicht charis­ma­tisch) verstan­dene Politik, der Ort, an dem die Dinge bloß symbo­lisch geschehen und trotzdem real sind. Es ist eben gerade nicht der Künstler, der leidet – sondern die Zuschauer sind es. Es ist eben gerade nicht der Abge­ord­nete, der Macht hat, sondern es ist seine Wählerschaft.

Das wäre dann auch deine Version von bzw. dein Inter­esse an poli­ti­scher Kunst? Die Realität bzw. der reale Effekt des Symbolischen?

Ich muss zugeben, dass mir das erst in den letzten Jahren so richtig klar­ge­worden ist und dass ich, im Dunkel der Proben­räume, einer charis­ma­ti­schen Auffas­sung des Tragi­schen anhänge – was viel­leicht unver­meid­lich ist. Chantal Mouffe habe ich 2014 kennen­ge­lernt, ihr Mann Ernesto Laclau war gerade gestorben, und sie war damals einge­laden, um nach der Brüs­seler Premiere von The Civil Wars mit mir über meine Arbeit zu disku­tieren. Sie mochte das Stück über­haupt nicht: die Ausrich­tung auf das Väter­liche (das zugleich schwach und kastriert ist), die Tran­szen­denz des Atten­tä­ters (die natür­lich leer ist), also diese ganze klein­bür­ger­liche substan­tia­lis­ti­sche post­po­li­ti­sche Depres­sion, das alles ging ihr gegen den Strich.

War der Grund für die Ableh­nung inhalt­lich oder künstlerisch?

Mouffe ist ja eine stra­te­gisch denkende Intel­lek­tu­elle, und wenn sie beispiels­weise vom „Charisma“ von Mélen­chon spricht, dann einfach als einer im popu­lis­ti­schen Zeit­alter notwen­digen Größe, die man als Linker nicht vernach­läs­sigen darf, wenn man gewinnen will. Und wie gesagt: Ums Gewinnen geht es in jeder Abstim­mung, jeder Debatte, sobald sie im poli­ti­schen Raum statt­findet – das ist ja das herr­lich (und entner­vend) Entsub­stan­tia­li­sie­rende der poli­ti­schen Rhetorik. Im poli­ti­schen Raum werden Inhalte mehr oder weniger egal, nur noch Rela­tionen zählen. Und genau deshalb mochte Mouffe, glaube ich, die Moskauer Prozesse sehr gern: Weil die Logik des Projekts darin besteht, dass alles scheinbar Basale, alles Thema­ti­sche, also alle privaten oder kollek­tiven Gefühls- und Bedeu­tungs­ri­tuale, die tradi­tio­nelle Reli­gion genauso wie die Kunst, völlig aufge­löst wird im Feld poli­ti­scher Potenzen. Die Moskauer Prozesse waren, wie du sagst, im Kern leer, als Regis­seur oder Autor war ich nur der Mode­rator, der „Komple­xität sicher­stellte“. Inhalte sind, sobald wir uns im thea­tralen oder poli­ti­schen Raum befinden, Alibis für die Entfal­tung von Dissens.

Konflikt bei den Moskauer Prozessen zwischen Theater und Behörde. Quelle: IIPM

Im Grunde ist die Demo­kratie oder das Poli­ti­sche oder auch das poli­ti­sche Theater, wenn es wie die Moskauer Prozesse funk­tio­niert, eine Art Dissens­format. Aber wenn du sagst, Inhalte seien nur das Alibi von Dissens, dann wird das Format selbst zum Inhalt. Ist das nicht eher eine Gefahr für die Demo­kratie, eine blosse Insze­nie­rung des Politischen?

Hier sind wir wieder am Anfang unseres Gesprächs: Sobald man in den poli­ti­schen Raum eintritt, der ja auch (und viel­leicht grund­le­gend) ein medialer ist, muss man die Einschrän­kungen, eben die Mini­mal­dif­fe­renzen, hinter sich lassen, die im privaten intel­lek­tu­ellen Austausch ihre Wertig­keit haben mögen. Die im tägli­chen Kampf gültigen Regeln der Antifa (die im Ausschluss alles „Faschis­ti­schen“ aus dem öffent­li­chen Raum bestehen, also in der konse­quenten Nicht­ak­zep­tanz, was natür­lich völlig sinn­voll ist) haben dann keine Gültig­keit mehr, wie auch die des sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Konsenses (die ganz im Gegen­teil darin bestehen, dass alle sich zuhören und sich respek­tieren). Das sind die Ordnungs­stra­te­gien des Alltags, aber im Moment der Real­kon­fron­ta­tion müssen an ihre Stelle die Stra­te­gien des direkten Kampfes um die Diskurs­macht treten. Anders gesagt: Als poli­ti­scher Regis­seur muss man keinen Raum der Depres­sion oder der Darstel­lung schaffen, sondern einen Raum, in dem es „drauf ankommt“. Denn Macht in einer reprä­sen­ta­tiven Demo­kratie ist eine para­doxe Potenz: Sie ist zugleich das einzige, was zählt, und das MacGuffin, das Alibi, das am Ende des Spiels zwischen den Fingern zerrinnt. Und hier liegt ja auch die Lächer­lich­keit der Politik bzw. der Kunst: Dass man immer wieder hinter diesem MacGuffin herhetzt, als könnte es einen ein für allemal erlösen.