Psychotherapie im Fernsehen? Man möchte meinen, das sei nicht möglich. Zu langwierig scheinen die Behandlungen, zu individuell die Probleme, zu sperrig die Therapeutensprache, zu ereignislos die Sitzungen – und zu wenig glänzend, zu wenig unterhaltungstauglich auch die Resultate solcher Therapien. Dabei gibt es ja durchaus Gemeinsamkeiten zwischen Psychotherapie und Film. Im Jahr 1895 postulierte Sigmund Freud den Grundsatz, man müsse Lebensgeschichten in Serien von Behandlungssitzungen erzählen, um zum Grund psychischer Leiden vorzustossen. Es war, Zufall oder nicht, dasselbe Jahr, in dem die Gebrüder Lumière in Paris die neue Technik der vielen kleinen Bilder in Serie – das Kino – erfunden hatten.
„talking cure“
Dennoch scheinen Psychotherapie und Film getrennte Welten zu sein. Während die Psychoanalyse ihre „talking cure“ seit dem frühen 20. Jahrhundert zu einer auf Serien von Gesprächssitzungen basierenden Behandlungstechnik für die – mehrheitlich – höheren Stände entwickelte, hat sich das Kino bis zum Ende des 20. Jahrhunderts zuhanden eines breiten Publikums als die dominante Form des Erzählens von allerlei auch psychischen Abgründen etabliert – allerdings beschränkt auf jeweils nur eine „Sitzung“ im dunklen Kinosaal. Ist es daher übertrieben zu sagen, dass das Kino als die suggestivste Art, uns Geschichten über – letztlich – uns selbst zu erzählen, im TV-Format der Serie gewissermassen zum zeitgleichen, vielleicht sogar gemeinsamen Ursprung mit der Psychoanalyse zurückgefunden hat, und daher ‚zu sich selbst‘?
Sind Serien nicht jener vom Zeitdruck befreite, in seiner Ungeordnetheit befreiende Strom des Erzählens, der die auf ratternden Maschinen abgespulten Bilder der Gebrüder Lumière immer schon sein wollten? Und sind beide Formen der Serie nicht überhaupt Kinder des „roman feuilleton“ des 19. Jahrhunderts, das heisst jene in Zeitungen in endlosen Fortsetzungen erschienenen grossen Romane, die wir heute zwar in einem Band lesen, die ursprünglich aber als Serie publiziert wurden, und in denen ein bürgerliches Lesepublikum die Schicksalsschläge, inneren Wandlungen und Selbstfindungsprozesse der Romanfiguren mitverfolgen konnten?
Man muss nicht behaupten, Romane, Kino und TV-Serien seien oder wirkten im eigentlichen Sinne „therapeutisch“, und auch die US-amerikanische TV-Serie In Treatment (2007-2010) ist dies natürlich nicht. Aber es war die geniale Idee des israelischen Produzenten Hagai Levi von 2005, mit seiner mehrfach ausgezeichneten TV-Serie BeTipul (hebr. für „In Behandlung“) die Serialität von psychotherapeutischen Sitzungen zur Grundlage einer TV-Serie zu machen und damit die Frage nach der Nähe von Psychoanalyse und Kino erneut aufzuwerfen. In der Adaption für den amerikanischen Sender HBO, d.h. der auf drei Staffeln weiterentwickelten und von Levi mitproduzierten Fassung von In Treatment bedeutet das konkret, dass wir in regelmässiger Folge von „Montag“ bis „Donnerstag“ die am jeweiligen Tag wiederkehrenden PatientInnen von Dr. Paul Watson (gespielt von Gabriel Byrne) erleben, einem klassisch freudianisch ausgebildeten fünfzigjährigen Psychotherapeuten in Baltimore. Am „Freitag“ hingegen begleiten wir Paul in die regelmässige Supervisions-Stunde bei Gina (Dianne Wiest) einer älteren, schon pensionierten Kollegin.

Gabriel Byrne als Dr. Paul Watson; Quelle: hbo.com
Vordergründig passiert nicht viel. Die Patientin oder der Patient – oder auch das Hilfe für seine Ehe suchende Paar – kommen zur Tür hinein, setzen oder legen sich aufs breite Sofa, meist umstandslos, aber nicht immer (was dann sehr unterhaltend ist). Paul hört zu, stellt ein paar Fragen, hört wieder zu. Er hakt ein, fragt nach, und er tut, was alle Therapeuten tun: Er „spiegelt“ das, was die Patienten gesagt haben, versucht deutlich zu machen, was sie, oft eher weniger bewusst, formuliert haben. Die Sitzungen dauern in der TV-Fiktion wohl etwa fünfzig Minuten, die einzelnen TV-Folgen jeweils aber nur dreissig, was durch die entsprechende Verdichtung den Eindruck erweckt, gleichsam ungeschnitten und real time dem Geschehen zu folgen.
Übertragung und Gegenübertragung
Selbstverständlich sind die jeweils eine Staffel langen „Behandlungen“ mit rund acht Sitzungen viel kürzer als eine reale Psychotherapie, geschweige denn eine Analyse, und natürlich haben nicht nur die PatientInnen Geschichten zu erzählen, sondern hat, um unsere Aufmerksamkeit zu fesseln, auch Paul eine zunehmend verwickelte Geschichte. Sein Behandlungszimmer befindet sich im Haus, in dem auch seine Familie lebt, und diese spannungsreiche Nähe von Privatleben und therapeutischen Raum, der nur den PatientInnen gehören soll, wird zur Bruchstelle von Pauls eigener Ehe. Die Supervision bei Gina wandelt sich daher zur Behandlungsstunde und Paul selbst zum Patienten, der sein eigenes Leben nach der Scheidung von seiner Frau und der Entfremdung von seinen Kindern wieder auf die Reihe bringen muss. Gelingt das? Paul jedenfalls wechselt in der letzten Staffel seine Therapeutin, um einen Neuanfang zu machen.
Vor allem aber sehen wir Paul bei seiner Arbeit zu. Er ist ein routinierter Therapeut, wenn auch erkennbar ein menschlich engagierter. Aber im Prinzip weiss Paul nicht, was „richtig“ ist für seine Patienten; er hat – gemäss den Grundsätzen seiner professionellen Haltung – kein vorgegebenes Rezept, wie sie ihre grossen und kleinen Lebensprobleme lösen sollen. Vielmehr bietet er sich als jene Projektionsfläche an, als die Freud den Analytiker konzipiert hatte: Auf ihn projizieren die Analysanden – bzw. die Patienten in der weniger streng organisierten Psychotherapie – ihre Verwirrung, ihre Wünsche, ihr Begehren, ihre Wut und ihr Enttäuschung, und in den Bildern, die in dieser Projektion aufleuchten (wir sind schon wieder im Kino), können oder sollen sie ihre eigenen Antworten entziffern.
Zum Glück für uns Zuschauerinnen und Zuschauer ist Paul allerdings kein perfekter Therapeut , sondern lässt sich von diesen vielfältigen „Übertragungen“ der Patientinnen und Patienten zu „Gegenübertragungen“ hinreissen – harmlosen, aber auch verheerenden. Das Spiel beginnt gleich mit einer eher verheerenden, genauer gesagt mit der klassischsten aller Komplikationen überhaupt: Laura, die seit einem Jahr bei Paul in Behandlung ist, verliebt sich in ihn – und Paul ringt eine ganze Staffel lang damit, seine erotische Gegenübertragung halbwegs in den Griff zu bekommen. Oder, zweites Beispiel: Er kann Alex gegenüber, einem penetrant auf Erfolg gebürsteten schwarzen Kampfpiloten, der kürzlich von seinem Einsatz im Irak zurückkam, seine Abneigung kaum verbergen – besonders nicht, nachdem Alex ihm ungefragt eine Kaffeemaschine schenkte, um ihm zu zeigen, wie man Patienten auf nette Weise empfängt. Einmal werden er und Alex sogar handgreiflich…

Dianne Wiest als Gina; Quelle: hbo.com
Die Dinge werden schliesslich definitiv kompliziert, als Pauls Frau von seiner Verliebtheit erfährt – was auch der Grund dafür ist, dass sich die Supervision bei Gina bald zu einer Paartherapie ausweitet. Doch das sind nur einige der vielen Figuren und ihrer jeweils komplexen Lebensgeschichten, die im Behandlungszimmer von Paul wie auf einer Bühne erscheinen. Was in der Kürze dieser wenigen Andeutungen platt klingen mag, ist in der dramaturgischen Umsetzung und dank hervorragender Schauspieler fesselnd. Das vielschichtige Gewebe von Überragung und Gegenübertragung bietet genug Stoff und Dynamik, um wie in einem Kammerspiel die Tiefen menschlicher Beziehungen auszuloten. Und es bietet auch ständig Anlass dazu, darüber nachzudenken, was diese merkwürdigen, „Psychotherapie“ genannten Exerzitien eigentlich sind. Zwar sind Pauls Gegenübertragungen oft problematisch, doch manchmal sprengen sie auch einfach die Begrenzung des psychotherapeutischen Settings hin zur schlichten Mitmenschlichkeit – beziehungsweise: Sie stellen immer wieder die Frage, wo diese Grenze verläuft und wie durchlässig sie ist oder sein soll.
Die ethische Frage
Eine Frage, die alle in der Serie ausgebreiteten Fallgeschichten durchzieht, weist in diesem Sinne über die Problematik der Gegenübertragung weit hinaus: Soll der doch ganz aufs Zuhören und das „nicht-normative“ Sprechen begrenzte Therapeut aktiv ins Leben seiner PatientInnen eingreifen, ihnen sagen, was sie zu tun oder zu lassen haben – oder soll er sich das verbieten? Einfache Antworten dazu bietet In Treatment nicht. Eine Paartherapie etwa gerät massiv in Schieflage, weil Paul, der sich von den beiden Ehepartnern vielfach provoziert fühlt, der Frau spontan zu einer Abtreibung rät – was er in ihrer Lage für das Beste hält, seinen unverblümten Rat dennoch aber sofort bereut. Bei einem anderen Paar hingegen, das sich so zerstritten hat und so sehr den je eigenen Wünschen folgt, dass ihr kleiner Junge dabei unter die Räder gerät, gibt Paul die therapeutische Distanz bewusst auf, um dem Buben zu helfen. Das ist therapeutisch fragwürdig, ethisch aber richtig.
Es ist mit anderen Worten nicht zuletzt diese ethische Dimension, die In Treatment so sehenswert macht. Wer trägt eigentlich die Verantwortung für das, was in einem Leben geschieht? Mama-Papa? Die Patientin? Oder der Therapeut? Paul und wir mir ihm werden ständig mit dieser Frage konfrontiert. An vielen Beispielen wird der Gedanke durchgespielt, dass man die verdrängten Wahrheiten der eigenen Geschichte nur anerkennen kann, wenn man bereit ist, sie als Teil der eigenen Lebensgeschichte zu akzeptieren, für die man als Erwachsener immer nur selbst die Verantwortung übernehmen kann.

Blair Underwood als Alex; Quelle: hbo.com
Das wird besonders in jener dramatischen Episode deutlich, in der Paul die schreckliche Nachricht erhält, dass Alex, der als Pilot der US-Air Force in den Irak zurückgekehrt ist, bei einem Trainingsflug tödlich verunglückte. Alex war seinerzeit zu Paul in Behandlung gekommen, weil ihn Zweifel plagten: Bei einem Kampfeinsatz hatte er ein Gebäude bombardiert, in dem Zivilisten, darunter Kinder, ums Leben kamen; war er nun „schuldig“, oder hatte er bloss seine „Dienstpflicht“ erfüllt, nur den Befehl anderer ausgeführt? Der Therapeut konnte ihm auf diese Frage keine Antwort geben. Alex löste sie für sich damit, dass er sich erneut zum Dienst meldete, und er hatte daher Paul gebeten, ihm ein positives Attest auszustellen. Paul hatte zögerlich eingewilligt – und muss jetzt nicht nur die Nachricht von Alex’ Tod entgegennehmen, sondern von dessen Vater auch erfahren, dass der Absturz des Kampfjets wahrscheinlich ein Selbstmord war.
Für den Vater ist klar, dass am Tod seines Sohnes niemand anders als Paul die Schuld trägt: Nie und nimmer hätte dieser Alex helfen dürfen, in der Therapie die quälenden Fragen der Schuld aus der Verdrängung zurückzuholen. Paul hingegen, der von Alex’ Vater mit einer Klage vor Gericht konfrontiert wird, machte sich den Vorwurf, trotz seiner Zweifel an der Dienstfähigkeit des Piloten, ihm das gewünschte Attest ausgestellt zu haben. Hatte er damit nicht seine Verantwortungspflicht gegenüber seinem Patienten verletzt? Dem Zuschauer drängt sich allerdings noch eine ganz andere Frage auf: Wer es nicht Alex selbst, der durch seinen offensichtlich bewusst herbeigeführten Tod die Entscheidung getroffen hatte, den Tod der von ihm bombardierten Kinder durch seinen eigenen Tod zu sühnen? War also die Therapie für Alex zu dem Ort geworden, wo er nicht nur sich seiner Schuld bewusst wurde, sondern wo er auch in radikaler Weise die Verantwortung für sie übernommen hatte?
In Treatment ist voll von solchen eindringlichen, das Nachdenken herausfordernden Geschichten, die an Spannung und Intensität nicht nachlassen. Und die Serie wird getragen nicht nur von den durchwegs glänzenden Schauspielern, die die Nöte und das psychische Leiden, aber auch den Witz und die Widerstände der Patientinnen und Patienten so glaubhaft und nachvollziehbar erscheinen lassen. Sie besticht durch den überragenden Gabriel Byrne als Paul, der am Schluss alle klugen Regeln zu vergessen scheint, die er als Therapeut gelernt hat – und damit einer von uns wird.