Unter Bedingungen repressiver Militärherrschaft in Lateinamerika verabschiedete sich Kunst von Leinwand und Bild und machte soziale und natürliche Räume zu ihrem Material.

  • Jens Andermann

    Jens Anderman lehrt iberoamerikanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Zürich und zuvor an Universitäten in London, Princeton, Duke, Buenos Aires und Rio de Janeiro.

Noch bis zum 7. 2. ist im Migros Museum für Gegen­warts­kunst in Zürich die Ausstel­lung Resis­tance Performed: Aesthetic Stra­te­gies under Repres­sive Regimes in Latin America zu sehen, die vor allem Doku­mente künst­le­ri­schen Wider­stands gegen die Dikta­turen in Argen­ti­nien, Chile und Brasi­lien in den 60er und 70er Jahren zeigt. Unter Bedin­gungen repres­siver Mili­tär­herr­schaft verab­schie­dete sich Kunst hier von Lein­wand und Bild und machte die sozialen und natür­li­chen Räume selbst zu ihrem Mate­rial. Poli­tisch und sozial enga­gierte Kunst­strö­mungen widmeten sich im Ange­sicht der Schlies­sung offi­zi­eller Kanäle viel­fach der perfor­ma­tiven Erschlies­sung des Landschafts-Raumes.

Quelle: anniekoh.tumblr.com

Quelle: anniekoh.tumblr.com

Am folgen­reichsten war hier das „medi­en­sub­ver­sive“ Happe­ning Tucumán Arde  (Tucumán brennt, Argen­ti­nien, 1968), das in der Zürcher Ausstel­lung reich doku­men­tiert ist. Erst­mals wurden hier die von Che Guevara formu­lierten Guerrilla-Strategien für eine aktiv in den poli­ti­schen Kampf einge­bun­dene Kunst aufge­griffen. Die Kollektiv-Aktion setzte der Beschwich­ti­gungs­kam­pagne des Mili­tär­re­gimes zur Situa­tion in der Provinz Tucumán, wo nach dem Zusam­men­bruch der inter­na­tio­nalen Zucker­preise sozialer Notstand ausge­bro­chen war, einen 4- Phasen-Plan entgegen, der das elitäre Pres­tige moderner Avant­gar­de­kunst zur Demas­kie­rung der herr­schenden Zustände nutzte. In einem ersten Besuch reisten zunächst einige Künstler aus Buenos Aires und Rosario nach Tucumán, um Kontakte mit Gewerk­schaf­tern und Akti­visten zu knüpfen und zum anderen die provin­zi­ellen Kultur­be­hörden zu umwerben, denen die bevor­ste­hende Reise einer grös­seren Gruppe als avant­gar­dis­ti­sches Expe­ri­ment der Verbin­dung von Kunst und audio­vi­su­ellen Medien vorge­stellt wurde. Der Diskurs inter­na­tio­naler Avant­gar­de­kunst wurde also bewusst als Deck­mantel („camuf­laje“) mobi­li­siert, in dessen Schutz die tatsäch­li­chen, klan­des­tinen Akti­vi­täten der Doku­men­ta­tion sozialen Elends vonstatten gehen konnten.

Unter­stützt durch die lokalen Behörden, begann die zweite Reise folge­richtig mit einer Pres­se­kon­fe­renz, in der die Künstler ihre Arbeit als „Erfah­rung der Verbin­dung ästhe­ti­scher Verfahren mit den Alltags­ak­ti­vi­täten des städ­ti­schen Lebens“ vorstellten. Während ein Teil der Gruppe im städ­ti­schen Kultur-Establishment das Inter­esse der örtli­chen Behörden auf sich zog, widmeten sich andere der „klan­des­tinen“ Doku­men­ta­tion der sozialen Krise. Nachdem das so versam­melte „Archiv“ zurück nach Rosario gebracht worden war, wollte die Gruppe in einer zweiten Pres­se­kon­fe­renz die wirk­li­chen Motive ihrer Aktion offen­legen. Dieser Über­ra­schungs­ef­fekt gelang aller­dings nur bedingt, da die Provinz­be­hörden bereits im Vorfeld Wind von einigen Akti­vi­täten der Gruppe bekommen hatten.

http://anniekoh.tumblr.com/

Quelle: anniekoh.tumblr.com

Noch während in Tucumán Mate­rial zusam­men­ge­tragen wurde, reali­sierte ein Teil der Gruppe in Rosario durch Sten­cils, Plakate und Graf­fitis eine breite Kampagne, mit der die Neugier des Publi­kums über das Kunst­mi­lieu hinaus geweckt werden sollte. Die „Ausstel­lung“ fand im Haupt­quar­tier der linken Gewerk­schaft CGT de los Argen­tinos statt, die Besu­cher­zahlen sprengten alle Rekorde. Statt einer tradi­tio­nellen Schau indi­vi­duell signierter „Werke“ wurden die Resul­tate der Recherche in Form einer multi­me­dialen Instal­la­tion präsen­tiert, die neben Infor­ma­ti­ons­ta­feln, Foto­gra­fien und Film­ma­te­rial auch mate­ri­elle und senso­riale Dimen­sionen ins Spiel brachte. Im Eingangs­be­reich mussten Besu­cher zunächst Barrieren aus Säcken mit Rohzu­cker über­winden, immer wieder auch im Dunkeln, da in der Frequenz der Kinder­sterb­lich­keit in Tucumán jeweils kurz der Strom abge­stellt wurde. In Anspie­lung auf die Schlies­sung der Zucker­raf­fi­ne­rien wurde bitterer Kaffee serviert. Mit der poli­zei­li­chen Schlies­sung der Ausstel­lung kurz nach Eröff­nung der zweiten Schau in Buenos Aires fand die Aktion alsbald ein jähes Ende. Tucumán Arde bildete den Höhe­punkt einer poli­tisch expli­ziten Akti­ons­kunst in Argen­ti­nien: viele der betei­ligten Künstler gingen bald darauf ins Exil oder in den Unter­grund, etliche zählen zu den Desa­pa­re­cidos der Diktatur Videlas, Masseras und Violas (1976-1982).

Unter den zuge­spitzten Bedin­gungen der Dikta­turen verwischten sich die Grenzen zwischen poli­ti­schen und ästhe­ti­schen Inter­ven­tionen in öffent­liche Räume zuse­hends. So können die wöchent­li­chen Schwei­ge­mär­sche der argen­ti­ni­schen Madres de la Plaza de Mayo seit April 1977 auch als perfor­ma­tive Aktionen ange­sehen werden, in welchen die weissen Kopf­tü­cher und die stille, ritua­li­sierte Klage über das Verschwinden von Töch­tern und Söhnen tradierte Vorstel­lungen von Mutter­schaft und Weib­lich­keit subversiv gegen den parti­ar­cha­li­schen Diskurs des Regimes in Stel­lung brachten. Ganz ähnlich vereinten sich Akti­ons­kunst und poli­ti­scher Wider­stand 1983 in Chile mit der vom Colec­tivo de Acciones de Arte (CADA) initi­ierten Aktion No + (Nie wieder), in der Künstler und Akti­visten überall in Sant­iago Graf­fitis mit dem „No +“-Slogan sprayten, die alsbald von Anwoh­nern mit Begriffen wie „Diktatur“, „Armut“, „Terror“ usw. vervoll­stän­digt wurden.

„No +“ war die die letzte Aktion der Gruppe um die Künstler Lotty Rosen­feld und Juan Castillo, den Sozio­logen Fernando Balcells und die Schrift­steller Diamela Eltit und Raúl Zurita. In Para no morir de hambre en el arte („Um nicht an der Kunst zu verhun­gern“, 1979) verteilte die Gruppe hundert Liter Milch an Anwohner in Armuts­vier­teln von Sant­iago; parallel dazu wurde in einer Zeit­schrift eine ganz­sei­tige weisse Seite als Anzeige geschaltet, um „sich diese weisse Seite wie die tägliche Milch vorzu­stellen / um sich jeden Winkel Chiles, dem die tägliche Milch verwehrt wird, wie weisse Seiten vorzu­stellen, die beschrieben werden müssen“.

Quelle: hemisphericinstitute.org/hemi/es/modules/item/500-cada-inversion-escena

Quelle: hemisphericinstitute.org/hemi/es/modules/item/500-cada-inversion-escena

Zum Abschluss liess das CADA einen Umzug von zehn Milch­trans­por­tern durch das Stadt­zen­trum Sant­iagos para­dieren, von einer grossen Milch­fa­brik zum Museum für Schöne Künste, dessen Eingangs­be­reich mit einem weissen Laken verhängt wurde.

Mit der Zirku­la­tion weisser Objekte und Ober­flä­chen auf unter­schied­li­chen Mate­ria­lien im öffent­lich Raum produ­zierte die Aktion so zugleich eine Refle­xion über radi­kalen sozialen Mangel und über die Bedin­gungen seiner Benen­nung und Kritik unter der Diktatur, also die Zensur dissi­denter Stimmen. In Ay Sudamérica (1981) spielte das CADA-Kollektiv direkt auf die kommu­ni­ka­tiven Formen der Mili­tär­herr­schaft an, insbe­son­dere ihren Grün­dungsakt, den Putsch vom 11. September 1973. Die Gruppe char­terte drei Flug­zeuge, um Sant­iago mit 400,000 Flug­blät­tern zu bombar­dieren, auf denen die Erwei­te­rung der mentalen Hori­zonte subjek­tiver Entfal­tung als einzig legi­time Form von Kunst ausge­rufen wurde. Wiederum wurde die Aktion durch die paral­lele Publi­ka­tion des Textes als Zeitungs­bei­lage begleitet; der kommu­ni­ka­tive Raum der Diktatur (Terror und Über­wa­chung kombi­niert mit der ideo­lo­gi­schen Arbeit der Kultur­in­dus­trie) also in einem coup d’effet für poeti­sche und ästhe­ti­sche Refle­xion angeeignet.

1979 begann Lotty Rosen­feld in Sant­iago ihre später in der Atacama-Wüste und vor dem Weissen Hauss wieder­holte Aktion Una milla de cruces en el pavi­mento (Eine Meile von Kreuzen auf dem Asphalt), bestehend aus der „Kreu­zung“ der gestri­chelten Stras­sen­mar­kie­rung mit weissen Quer­balken, die zunächst als abstrakte Subver­sion eines funk­tio­nalen Zeichen­sys­tems inter­pre­tiert werden können: durch ihre „Inver­sion“ in Plus­zei­chen werden die Stras­sen­mar­kie­rungen retro­spektiv als Minus­zei­chen gelesen, die „Umwid­mung“ prokla­miert also eine bewusst­seins­er­wei­ternde Raum-Erfah­rung anstelle der Elimi­na­tion bere­chen­barer Distanz. In der poli­ti­schen Konstel­la­tion von Gewalt und Zensur werden die Kreuze zum anderen aber unwei­ger­lich auch zum memento mori und zum Hinweis auf das zum Massen­grab entstellte Land.

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Zurita voll­zieht parallel zu den Aktionen des CADA eine Reihe monu­men­taler Einschrei­bungen sowohl in den eigenen Körper als auch in die Land­schaften von Exodus und Exil. 1982 „schreibt“ er, wiederum mit Hilfe eines gechar­terten Flug­akro­baten, in den Himmel über New York die ersten Zeilen von Anteparaíso: „Mein Gott ist Hunger“, „Mein Gott ist Schmerz“, „Mein Gott ist Abfall“; die geplante simul­tane Selbst­ver­stüm­me­lung, in welcher der Dichter frei­willig des eigenen Augen­lichts entsagen wollte (womit die „welt­weite“ Sicht­bar­ma­chung des Leidens Chiles mit dem Erblinden des lyrisch-prophetischen Ich ineins gefallen wäre) miss­lingt. 1993 kehrt Zurita das Sehver­hältnis dieser „Himmels­schrift“ um und „graviert“ in den Grund der Atacama-Wüste die mit Bull­do­zern über eine Fläche von vierzig Metern mal drei Kilo­me­tern ausge­bag­gerte Gedicht­zeile „ni pena ni miedo“ (Weder Mitleid noch Angst).

informarte.cl/proyecto-rescatara-geoglifo-ni-pena-ni-miedo/

Quelle: informarte.cl/proyecto-rescatara-geoglifo-ni-pena-ni-miedo/

Zuritas Be-Schreibung der Wüste als lyrisch-religiöser Topos von Exil und Neube­grün­dung von Gemein­schaft verweist auf Eugenio Ditt­borns Video-Performance „Historia de la Física“ (Geschichte der Physik, 1982), in der Ditt­born 350 Liter gebrauchten Moto­renöls in der Tarapaca-Wüste ausschüt­tete und in einer quasi-Pollockschen Perfor­mance über den trockenen Sand zu verteilen suchte, wobei die Zähflüs­sig­keit des Mate­rials den form­ge­benden Anstren­gungen des Künst­lers wider­stand. Zusam­men­ge­schnitten mit auto­bio­gra­phi­schen Film­auf­nahmen Ditt­borns, einschliess­lich der Geburt seines Sohnes, wird das „Befle­cken der Wüste“ hier ähnlich wie bei Zurita zur veräus­ser­lichten Meta­pher der leib­li­chen Erfah­rung einer von dikta­to­ri­scher Herr­schaft versehrten Subjektivität.

Anders als in diesen Arbeiten waren Anony­mität, Klan­des­t­in­ität und die Auflö­sung der künst­le­ri­schen „Situa­tion“ in den Alltag, noch bevor das künst­le­ri­sche Ereignis zum kommer­zia­li­sierten „Objekt“ gerinnen konnte, wich­tige Merk­male poli­ti­scher Akti­ons­kunst im Latein­ame­rika der Dikta­turen. Anders als im Wider­stand von Gewerk­schaften, Studenten- und Mensch­rechts­or­ga­ni­sa­tionen versuchte diese expe­ri­men­telle Aktions- und Perfor­mance­kunst unter Bedin­gungen exis­ten­zi­ellen Risikos der Erfah­rung einer versehrten, ihrer affek­tiven und ästhe­ti­schen Entfal­tung beraubten Subjek­ti­vität nach­zu­gehen und aus dieser heraus wider­stän­dige Prak­tiken indi­vi­du­eller und kollek­tiver Praxis zu entwi­ckeln. Kunst als „expe­ri­men­telle Ausübung von Frei­heit“ war damit immer auch schon Trüm­mer­ar­beit; ein Expe­ri­ment mit einem Nach-Leben in und mit den Trüm­mern, eine Ästhetik des Frag­men­ta­ri­schen, die auf der Nicht-Rekonstruierbarkeit und Unhin­ter­geh­bar­keit der Zäsur beharrte.