Japan ist mit einem neuen Kaiser auch in eine neue Epoche und Zeitrechnung eingetreten. Was aber bedeutet es, im Jahr 2019, in einer Zeit zu leben, die sich vom Rest der Welt unterscheidet. Eine sehr persönliche Inaugenscheinnahme.

  • Martin Dusinberre

    Martin Dusinberre lehrt seit 2015 Global­geschichte mit Schwerpunkt Asien an der Universität Zürich.

Wie Poli­tiker so lieben es auch Histo­ri­ke­rinnen und Histo­riker, vom Anbruch neuer Zeit­alter zu spre­chen: Jeder Regie­rungs­wechsel und diplo­ma­ti­sche Neube­ginn, jede Sozi­al­re­form, Inno­va­tion im Erzie­hungs­wesen oder neue Umwelt­vor­schrift hat das Poten­tial, als entschei­dende Neue­rung gewertet zu werden. Beim Nieder­schreiben dieser Zeilen, am Morgen des 1. Mai in der umtrie­bigen Stadt Fukuoka, wacht Japan aber tatsäch­lich in einem neuen Zeit­alter auf. Die Flaggen sind gesetzt. Die Regen­wolken haben sich verzogen. Ein neuer Kaiser sitzt auf dem Chrysanthemen-Thron.

Foto: Martin Dusinberre

Die Stim­mung sei wie an einem Neujahrstag, erklärt mir ein ehema­liger Lehrer beim Früh­stück: Er sei guter Laune (ii kibun). Aber wir beide wissen nicht, mit welcher Formel wir uns an diesem histo­ri­schen Tag begrüssen sollen, denn das moderne Japan kannte noch keinen impe­rialen Macht­wechsel, ohne den Tod des zuvor regie­renden Monar­chen. Auch Neujahrs­wün­sche scheinen fehl am Platz, zu einer Zeit im Jahr, in der die Kirsch­blüte bereits vorbei ist. Und ausserdem sollen unsere Worte etwas ausdrü­cken, das mehr als nur ein Jahr umfasst. «HAPPY NEW ERA» (auf Englisch) empfiehlt eine bekannte Elek­tro­han­dels­kette weiter die Strasse herunter. Wir könnten auch aufstehen, den Geist der gestern um Mitter­nacht in Tokio unter schau­kelnden Regen­schirmen versam­melten Menge aufnehmen, und uns über unsere Miso-Suppen und Gurken zurufen: «Rei-Wa! Rei-Wa!»

Was letzte Nacht im Inneren des kaiser­li­chen Palastes geschah, ist auf der einen Seite eher belanglos: Ein älterer Herr übergab seine rein symbo­li­sche Herr­schaft an den Sohn. Die Welt dreht sich weiter. «Ach ja, ich mache mir nicht wirk­lich was draus» (nani mo omowanai) war der über­ra­schende Refrain, den ich während meines einmo­na­tigen Aufent­haltes in Japan immer wieder hörte. Über­ra­schend deshalb, weil die Medien und auch Premier­mi­nister Abe Shinzō ein ganz anderes Bild zeich­neten. Abe sagte etwa am 1. April, Epochen­be­zeich­nungen «sind wichtig für die geis­tige Einheit des Japa­ni­schen Volkes».

Auf der anderen Seite aber ist der Über­gang vom Jahr 31 der Heisei-Ära («Frieden überall») zum Grün­dungs­jahr der Reiwa-Ära («verheis­sungs­volle Harmonie») wichtig, nämlich um zu verstehen, wie in Japan Vergan­gen­heiten konzep­tua­li­siert werden. Fragen Sie irgend­je­manden meines Alters nach dem Geburts­jahr der Eltern und die Antwort wird in Form der impe­rialen Zeit­rech­nung ausfallen, zum Beispiel: mein Vater ist in Shōwa 16 geboren und meine Mutter in Shōwa 23 (Shōwa bedeutet über­setzt so viel wie «erleuch­teter Friede»). Fragen Sie nach den 30ern in der Shōwa-Ära, und die meisten Leute werden ihnen vom im kollek­tiven Gedächtnis fest veran­kerten Höhe­punkt des soge­nannten Nach­kriegs­wun­ders erzählen – von einem Jahr­zehnt des städ­ti­schen Aufbaus, von Kühl­schränken in den Küchen und von Fami­lien, welche sich auf ihren neuen schwarz-weiss Fern­se­hern die Olym­pi­schen Spiele 1964 in Tokio anschauen (Shōwa 39).

Das unter­scheidet sich stark davon, in welchen Zeit­be­zügen ein Gross­teil der Euro­päer oder Nord­ame­ri­kaner über die Vergan­gen­heit spricht. Niemand, den ich in Gross­bri­tan­nien kenne, stellt seine Lebens­ge­schichte zum Beispiel in ein Verhältnis zu spezi­fi­schen Jahr­zehnten der Herr­schaft Elisa­beths II. – die «Elisa­be­tha­ni­schen 30er», wenn man so will, waren unge­fähr die 1980er-Jahre. Diese Zeit­ein­tei­lung ist nicht einzig­artig für das Verei­nigte König­reich, die Thatcher-Regierung während des Jahr­zehnts hingegen schon. Aber zu sagen, man sei «ein Kind That­chers» ist eher ein poli­ti­sches State­ment – positiv oder negativ – denn mit der Aussage zu verglei­chen, man sei ein Kind der Shōwa-Ära. Es ist sogar möglich, wie mir jemand in Tokio versi­cherte, ein Gegner von Kaisertum und Tennō-Herrschaft zu sein und gleich­zeitig stolz darauf, dass die kaiser­liche Zeit­rech­nung Japan als «verschieden vom Rest der Welt» markiert.

Der kaiser­liche Kalender bedeutet vielen Japa­ne­rinnen und Japa­nern mehr als allein sein offi­zi­eller Status. So ist die Frage, mit welcher Formel die Bevöl­ke­rung das neue Zeit­alter begrüsst, auch eine Frage danach, welche unter­schied­li­chen Inter­pre­ta­tionen des «Globalen» der gegen­wär­tigen Geschichte inhä­rent sind: Was bedeutet es auf einer persön­li­chen Ebene, in Begriffen des histo­ri­schen Gedächt­nisses, als ein Akt der Über­set­zung und als Moment­auf­nahme davon, wie Geschichte gemacht wird, in einer Zeit verschieden vom Rest der Welt zu leben?

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«Was halten Sie von Reiwa», frage ich eine Nach­barin meines Schwie­ger­va­ters, eine Frau Anfang siebzig. Sie lacht: «Ich erlebe nun schon das dritte Zeit­alter! Shōwa, dann Heisei und nun Reiwa.» Sie hält inne, hier auf der ruhigen Haupt­strasse jener Stadt, deren Bevöl­ke­rung in den Shōwa 20ern, als sie geboren wurde, aus allen Nähten geplatzt ist. «Aber das war es dann wohl auch für mich.»

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Als Heisei auf sein Ende zusteu­erte, habe ich Freunde und Bekannte in ganz Japan gebeten, mir zu erzählen, was diese Ära für sie bedeutet hat. Einige begannen dann über Ereig­nisse aus Geschichte und Vergan­gen­heit zu spre­chen. «Ich erin­nere mich an den Tod von Kaiser Shōwa», sagte eine Frau in ihren Vier­zi­gern. «In diesem Jahr ist ja dann auch die Berliner Mauer gefallen.» Andere spra­chen über Natur­ka­ta­stro­phen in dieser Zeit – Heisei zeich­nete sich durch die massiven Erdbeben von 1995 und 2011 aus – oder über den Schock der Gift­gas­at­ta­cken in der Tokioter U-Bahn von 1995, oder, was am häufigsten erwähnt wurde, das Platzen der Nachkriegs-Wirtschaftsblase 1990, gerade zu dem Zeit­punkt, als Kaiser Akihito formell die Thron­folge antrat. Japans ökono­mi­scher Nieder­gang, insbe­son­dere in den wirt­schaft­li­chen Peri­phe­rien, prägte das Zeit­alter als Ganzes.

Nach dem Tod von Kai­ser Hiro­hi­to wird 1989 im Fern­se­hen der Name der neu­en Ära bekannt­ge­ge­ben: Heisei; Quelle: asienspiegel.ch

Einige Freunde spra­chen davon, was Heisei für sie persön­lich bedeutet. «Ich habe in meiner derzei­tigen Firma im ersten Jahr von Heisei (Heisei gannen) ange­fangen», erzählte mir ein 53-jähriger Geschäfts­mann. «Mein Leben als voll­wer­tiges, arbei­tendes Mitglied der japa­ni­schen Gesell­schaft stimmt also mit der Herr­schafts­zeit seiner kaiser­li­chen Majestät überein.» Der Wechsel in ein neues Zeit­alter ist für ihn daher auch eine Gele­gen­heit, sich Gedanken über die Verflech­tung von natio­naler und indi­vi­du­eller Geschichte zu machen. Er benutzte den Begriff fushime (節目), um seine Wahr­neh­mung der neuen Phase in seinem Leben und dem der Nation zu beschreiben, wobei das erste Schrift­zei­chen des Wortes auch den Wechsel der Jahres­zeiten oder die Modu­la­tion in einer Melodie evoziert. Ein anderer Mann Mitte Vierzig bezeich­nete das neue Zeit­alter als einen «Unter­bre­chungs­punkt» (kugiri), eine Verschnauf­pause in der längeren Erzäh­lung seines Lebens.

Für mich wird Heisei immer Heisei 10 sein. Ich kam zum ersten Mal nach Japan, um hier für längere Zeit zu leben, und das war ein Schritt, der mein Leben unwi­der­ruf­lich verän­dert hat. Etwas profaner gesagt, der kurze Ausdruck Heisei 10 war für einen Japanisch-Lernenden viel einfa­cher zugäng­lich als das ausschwei­fende Neun­zehn­hun­dert­acht­und­neunzig – damals, als ich versuchte, einzelne Regen­tropfen aus der riesigen Wolke des Unwis­sens einzufangen.

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«Meine Nichte ist am 7. Januar geboren, genau an dem Tag, an dem Kaiser Shōwa von uns gegangen ist», erwähnt der Geschäfts­mann. «Mein Gross­vater väter­li­cher­seits, der in der Meiji-Ära geboren ist, schlug vor, das offi­zi­elle Geburts­datum zu ändern. Er empfand es als unge­bühr­lich, dass das Baby für eine Reinkar­na­tion Seiner Kaiser­li­chen Majestät gehalten werden könnte.»

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Die kaiser­liche japa­ni­sche Zeit­rech­nung ist Teil einer Kultur­technik, die in der Sino­sphäre während Jahr­hun­derten gebräuch­lich war. In China, dem intel­lek­tu­ellen, kultu­rellen und poli­ti­schen Herzen Asiens, wech­selte die Zeit­rech­nung auf Befehl des Kaisers, des Himmels­sohnes. Ein neues Zeit­alter begann nicht nur nach dem Tod oder bei der Abdan­kung des Herr­schers (seltener einer Herr­scherin), sondern auch bei güns­tigen oder ungüns­tigen Abschnitten im Chine­si­schen Kalender, oder zu Zeiten, wenn das Reich der Mitte Natur­ka­ta­stro­phen, zum Beispiel poli­ti­sche Unruhen, Epide­mien oder schlechte Ernten erlebte. Das japa­ni­sche Staats­wesen über­nahm diese Praxis im siebten Jahr­hun­dert, als sich der Einfluss der Tang-Herrschaft in vielen Aspekten des herr­schaft­li­chen und ritu­ellen Lebens bemerkbar machte, was bis heute in mehr oder weniger starker Ausprä­gung gilt.

Der zwei­fellos wich­tigste impe­riale Epochen-Wechsel in der modernen japa­ni­schen Geschichte fand in den späten 1860er-Jahren mit der Meiji-Restauration statt, als Rebellen aus West­japan das Tokugawa-Shogunat stürzten, und das Kaiser­reich dem damals 16-jährigen Mutsu­hito «zurück­gaben», es in ihren Worten «restau­rieren». Mein Aufent­halt in Tokio fällt mit einer wunder­baren Ausstel­lung von sati­ri­schen Druck­gra­fiken aus dieser Periode an der Inter­na­tional Chris­tian Univer­sity zusammen. Gezeichnet für die gewöhn­li­chen Bürger von Edo (Edokko) zeigen sie den Kaiser als dick­li­chen Jungen, der auf den Schul­tern oder in den Armen von Soldaten der Rebel­len­armee getragen wird. Es handelt sich um eine alles andere als respekt­volle Ikono­gra­phie – wobei der Sieg der west­li­chen Gebiete über das Shog­unat hier aller­dings nicht, wie sonst durchaus üblich, einer über­le­genen Macht aufgrund von Fürzen zuge­schrieben wird.

Eine der letzten Druck­gra­fiken in der Ausstel­lung zeigt (zumin­dest behauptet sie das, denn sie ist vor dem Ereignis entstanden) die kaiser­liche Prozes­sion, mit der der Kind-Kaiser in die Resi­denz seiner neuen «östli­chen Kapi­tale» einzog. Das Umbe­nennen von Edo in «Tō-kyō», und der Einmarsch des Kaisers in die Stadt im November 1868 waren zwei von vielen symbo­li­schen Trans­for­ma­tionen, welche den endgül­tigen Sturz der Toku­gawa ankün­digten. Eine weitere war der neue Epochen-Name, ausge­rufen im Oktober 1868: Meiji, die «strah­lende Herr­schaft». Die Sati­riker aus Edo stürzten sich umge­hend auf den Namen und änderten in einem Wort­spiel sowohl die Reihen­folge der chine­si­schen Schrift­zei­chen als auch deren Lese­rich­tung: «Was von oben nach unten gelesen ´strah­lende Herr­schaft´ bedeuten mag, heisst von unten nach oben gelesen aller­dings ‘niemand herrscht’».

Der Kaiser­thron mochte restau­riert worden sein, doch die Meiji-Bürokraten strebten Neue­rungen an. Ab 1868 sollte es nur noch eine Epochen­be­zeich­nung pro Herr­schaft geben, ein deut­li­cher Kontrast zu Kaiser Meijis Vater Kōmei, der während seiner tumult­ar­tigen Regent­schaft von 1846 bis 1867 auf nicht weniger als sieben Zeitalter-Namen zurück­blickte. Der Rück­tritt des Kaisers wurde eben­falls unter­sagt – bis Kaiser Akihito dieses Gesetz mit einer uner­war­teten poli­ti­schen Inter­ven­tion im Sommer von Heisei 28 (2016) in Frage stellte.

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Eine Kollegin führt mich durch die Waseda-Universität in Tokio. «Wann ist dieses Gebäude erbaut worden?», frage ich. «1945», antwortet sie. «So kurz nach dem Krieg?», frage ich etwas verwun­dert nach. «Nein, warte», denkt sie noch­mals über ihre Über­set­zung nach, «Ich meine 1970. Entschul­dige, ich dachte Shōwa 45.»

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In den Medien kursiert die Geschichte, dass der Kron­prinz und desi­gnierte Kaiser Naru­hito, darüber infor­miert, dass die kommende Ära den Namen «Reiwa» erhalten solle, mit einem kurzen Nicken geant­wortet habe: «Verstanden». Das war inso­fern beru­hi­gend, weil alle anderen über­haupt nichts verstanden.

Als ich selbst die Ankün­di­gung am 1. April beim Erwa­chen hörte, dachte ich bei Reiwa zunächst an das Schrift­zei­chen für das Wort meirei, was so viel wie «befehlen» bedeutet. «Befehlen» (令, rei) gefolgt von «Harmonie» (和, wa) ist eine Philo­so­phie, die ich bei der Erzie­hung meiner Kinder anwende, aller­dings bisher mit wenig prak­ti­schem Erfolg. Obwohl ich natür­lich kein Philo­loge bin, war ich nicht der einzige, der zu einer falschen Schluss­fol­ge­rung gelangt war. Laut einem Bericht in der englisch­spra­chigen Japan Times vom 3. April musste der Aussen­mi­nister berich­tigen, dass rei nichts zu tun habe mit «Ordnung» oder «befehlen», wie Ausländer fälsch­li­cher­weise ange­nommen hatten, sondern eher mit «schön» über­setzt werden müsse. Denn, guter Tradi­tion entspre­chend, wird die Bezeich­nung eines neuen Zeit­al­ters aus einem uralten lite­ra­ri­schen Werk ausge­wählt, dessen Bedeu­tung sich dem gewöhn­li­chen Mann und der gewöhn­li­chen Frau auf der Strasse (ganz zu schweigen von den Auslän­dern) nicht unbe­dingt erschliessen würde. Hier läge ein Poten­tial für Fehlinterpretationen.

Aller­dings folgte die Wahl von «Reiwa» keines­falls guter Tradi­tion. Die Verwal­tung von Premier­mi­nister Abe machte sehr deut­lich, dass mit Reiwa Neuland betreten wurde, dass dieses Mal nicht, wie sonst üblich, ein antiker chine­si­scher Text zu Rate gezogen wurde, um der neuen Epoche einen Namen zu geben, sondern die Bezeich­nung aus einem japa­ni­schen Klas­siker stammte. Es handelt sich um das Man’yōshū, die älteste und berühm­teste Antho­logie von japa­ni­schen Gedichten aus dem 8. Jahr­hun­dert, und zwar um den Vers:

初春月、気淑風

Shoshun no reigetsu ni shite, ki yoku kaze yawaragi

Während eines verheis­sungs­vollen Monats im Früh­ling ist die Luft frisch und die Brise ruhig

Der Vers bezieht sich auf ein Früh­lings­fest im Westen Japans – übri­gens nicht weit von Fukuoka gelegen – und auf das Pflaumenblütenfest.

Während Abe und einige andere umge­hend die Lesart «Schön­heit» als rich­tige Inter­pre­ta­tion verbrei­teten, was ganz zufällig mit seiner eigenen, seit langem gepflegten Phrase von Japan als «schönem Land» im Einklang steht, waren sich die Experten weniger einig. Einige betonten, dass nur einmal in der Geschichte, soweit bekannt, rei als neue Epochen­be­zeich­nung in Betracht gezogen worden war, und zwar 1864. Es hiess, Kaiser Kōmei mochte vor allem «Rei-Toku», aber das Shog­unat wies den Namen zurück, weil er impli­zierte, der Kaiser «herr­sche» über die «Toku­gawa» (was beweist, dass das Schrift­zei­chen rei eben doch die Mitbe­deu­tung ‘Befehl’ oder ‘Ermah­nung’ haben kann). Andere Experten bemerkten, dass trotz aller Beto­nung des japa­ni­schen Ursprungs der Epochen­be­zeich­nung, der entspre­chende Abschnitt aus dem Man’yōshū in klas­si­schem Chine­sisch verfasst sei – der lingua franca der ostasia­ti­schen Eliten bis zum Ende des 19. Jahr­hun­derts. Reiwa taucht sogar in einem früheren chine­si­schen Text auf, dem Wen Xuan («Auswahl gepflegter Literatur»).

Foto: Martin Dusinberre

Der Punkt ist folgender: die Wahl von Reiwa sagt uns nur wenig über die japa­ni­sche Lite­ratur des 8. Jahr­hun­derts, einer Zeit, in der das Konzept «Japan» ohnehin mehr Imagi­na­tion denn Realität war. Sie sagt uns hingegen alles über die Vorstel­lung der japa­ni­schen Führungs­riege hinsicht­lich Japans Platz im 21. Jahr­hun­dert: das Beharren auf Frieden (sogar in einer Zeit, in der Abe für eine Reform des «Frie­dens­ar­ti­kels» in der gegen­wär­tigen Verfas­sung eintritt); der Wunsch nach Abgren­zung von China; das Bestreben, die Einheit japa­ni­scher Kultur zu betonen; sowie die Botschaft an die jüngere Gene­ra­tion von Bürgern, Japan dem Rest der Welt näher zu bringen. Ironi­scher­weise ist der Kaiser bei all diesen Anliegen offenbar nur noch von sekun­därer Bedeutung.

Histo­ri­kern der Meiji-Ära (1868–1912) kommt manches davon seltsam vertraut vor. Mit den obskuren Debatten der letzten Wochen über chine­si­sche Klas­siker, über die Aneig­nung von Über­set­zungen und über neue Zeit­epo­chen, hatte auch ich zum ersten Mal einen kleinen Eindruck davon, wie es sich viel­leicht ange­fühlt haben mag, in Meiji-Japan zu leben.

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«Um ehrlich zu sein, es war wirk­lich nervig», sagt ein Mann, «ich musste jedes einzelne Doku­ment neu mit dem Schrift­zei­chen Reiwa Gannen (Reiwa Grün­dungs­jahr) datieren, was aber die meisten Programme auto­ma­tisch mit der Zahl Reiwa 1 falsch korri­gierten. So musste ich alles von Hand zurück­kor­ri­gieren auf Gannen». Ein anderer Freund zückt den Führer­schein aus seiner Brief­ta­sche. Er läuft in Heisei 32 ab. «Aber es wird nie ein Heisei 32 geben», grübelt er, «heisst das jetzt, dass er für immer gültig bleibt?»

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Fukuoka ist übersät mit Emblemen der neuen Epoche. Wohin man schaut, gibt es Flaggen mit der aufge­henden Sonne. Eine Fahne zele­briert das Grün­dungs­jahr von Reiwa und weist zugleich darauf hin, dass heute das Jahr 2679 des impe­rialen Kalen­ders ist – begonnen mit der wohl fiktiven Errich­tung des Japa­ni­schen Kaiser­reichs (660 v.u.Z.). Und vom Erha­benen geht es direkt zum Komi­schen: Es gibt Werbung für Reiwa-Süssigkeiten, für Reiwa-Vergünstigungen im Restau­rant und wie wäre es, mehr elek­tro­ni­schen Zubehör zu kaufen, um Reiwa zu feiern? Sogar Krimi­nelle feiern mit einer Adap­tion des tele­fo­ni­schen Enkel­tricks mit: Unter dem falschen Vorwand, dass für die neue Ära die Kredit­karten neu ausge­stellt werden müssten, erschwin­deln sie Kartendaten.

Zur glei­chen Zeit hängen im höhlen­ar­tigen Untergrund-Shoppingcenter von Tenjin mehrere Schilder, welche auf «GW フェア», den «Markt der Goldenen Woche» hinweisen, der die noch nie dage­we­senen zehn aufein­ander folgenden Feier­tage ankün­digt, die die Regie­rung ihren Bürgern geschenkt (oder anbe­fohlen?) hat. Im Stil eines Gemäldes der italie­ni­schen Renais­sance ergreift auf der linken Seite eine Frau eine über­grosse Eiswaffel, während auf der rechten Seite ein fromm drein­bli­ckender Mann das Schrift­zei­chen für «Reiwa» in den Händen hält. Es ist eine verwir­rende Ikono­gra­phie selbst für dieje­nigen von uns, die sich mit dem ostasia­ti­schen Gebrauch von Bildern aus der euro­päi­schen Vergan­gen­heit auskennen.

Foto: Martin Dusinberre

Des Erha­benen und Lächer­li­chen unge­achtet handelt es sich hier um wich­tige Zeichen für Histo­riker. Denn der letzte Monat war ein Mikro­kosmos dafür, wie Geschichte gemacht wird: durch die «Neuda­tie­rung» und «Über­schrei­bung» von Sprache, durch die Kommer­zia­li­sie­rung der Vergan­gen­heit ebenso wie durch ihren strit­tigen Gebrauch sowie durch Indi­vi­duen, welche versu­chen, ihr eigenes Leben in die grös­seren Narra­tive von Gesell­schaft und Staat einzubinden.

Trotz ihres recht­li­chen Status werden Epochen­be­zeich­nungen im modernen Japan wohl vermehrt über­flüssig werden, weil die digi­tale Welt im Grego­ria­ni­schen Kalender funk­tio­niert; aber sie bieten weiterhin eine zeit­liche Struktur, in die sowohl gewöhn­liche Bürge­rinnen und Bürger als auch die Regie­rungs­elite ihre viel­fäl­tigen Vorstel­lungen von Vergan­gen­heit, Gegen­wart und Zukunft einschreiben können. In einer globa­li­sierten Welt ist es nütz­lich zu bedenken, dass für manchen Menschen in Japan das Jahr 1989 nicht primär das Jahr des Mauer­falls war. Und dann, in diesem selt­samen Über­gangs­monat Mitte 2019, bemüht sich die Regie­rung darum, die Aufmerk­sam­keit ihrer Bürger zugleich auf die zeit­li­chen Impli­ka­tionen eines west­ja­pa­ni­schen Gedichtes aus dem 8. Jahr­hun­dert zu lenken, als auch auf die globale Party, die Tokio 2020 bedeuten wird. Wenn wir den Aufruf zum Schreiben «globaler» Geschichte ernst nehmen, müssen wir Histo­ri­ke­rinnen und Histo­riker mehr Aufmerk­sam­keit auf die lokalen Arti­ku­la­tionen diver­gie­render Zeit­re­gime lenken. Japan soll hier keinen Endpunkt der Anstren­gung markieren, sondern die Art und Weise, wie die Japa­ne­rinnen und Japaner ihr neues Zeit­alter begrüsst haben, kann ein sinn­voller Ausgangs­punkt sein.

Foto: Martin Dusinberre

Nach unserem gutge­launten Früh­stück bemerke ich eine Versamm­lung in einem nahe­ge­le­genen Park. Es wehen Fahnen der Japa­ni­schen Kommu­nis­ti­schen Partei – wohl eine anti-kaiserlicher Demons­tra­tion, so nehme ich an. Als wir uns dann aber nähern, sehen wir, dass es sich um eine öffent­liche Zusam­men­kunft zur Feier der Werk­tä­tigen handelt. Natür­lich! Es ist ja nicht nur der 1. Mai von Reiwa Gannen, sondern auch der welt­weite Feiertag der Arbei­ter­be­we­gung – eine Erin­ne­rung daran, dass auch andere Zeit­re­gime in die Geschichte der Gegen­wart einge­flochten sind.

Ein Mann stellt sich ans Mikro­phon: «Guten Morgen, alle zusammen», beginnt er.

Japan, 1.- 4. Mai 2019.

 (aus dem Engli­schen von David Hänggi-Aragai)