Der 1933 in Deutschland geschriebene Roman Unsere Straße hat einmal einen Klassiker der antifaschistischen Erinnerung an den Beginn des Nationalsozialismus gebildet. Heute ist er weitgehend vergessen. Warum lohnt seine Wiederlektüre zum 90. Jahrestag der „Machtergreifung“?

In der Erin­ne­rung an den 30. Januar 1933 hat in den vergan­genen zwei Jahr­zehnten vor allem ein Buch eine erstaun­liche Karriere gemacht: Die Geschichte eines Deut­schen von Sebas­tian Haffner. Im Jahr 2000 aus dem Nach­lass des bekannten Jour­na­listen und Histo­ri­kers zunächst auf deutsch, später in zahl­rei­chen Über­set­zungen veröf­fent­licht, ist das Buch ein Schlüs­sel­text der NS-Erinnerung im 21. Jahr­hun­dert geworden, der unsere Vorstel­lungen vom Beginn des Natio­nal­so­zia­lismus prägt. Neben die Beschäf­ti­gung mit den poli­ti­schen Intrigen der „NS-Machtergreifung“, der Koope­ra­ti­ons­be­reit­schaft der Eliten und lang­fris­tigen, anti­de­mo­kra­ti­schen Konti­nui­täten, die die Erin­ne­rung an 1933 über Jahr­zehnte bestimmte, stellte Haff­ners Buch eine neue Perspek­tive. Seine detail­lierten Beschrei­bungen der eigenen Reak­tionen auf die alltäg­li­chen Zumu­tungen, die sich mit Beginn der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Herr­schaft auch in seinem Leben als Berliner Jura­stu­dent einstellten, lenkten den Blick auf die zuvor kaum beach­teten „ganz normalen Deut­schen“ und ihr Handeln, mit dem die Etablie­rung der Diktatur heute vielen (auch) als Prozess kleiner, unschein­barer Schritte erscheint.

Quelle: buecher.de

In seiner genauen Beschrei­bung des klein­schrit­tigen Nach­ge­bens und Zurück­wei­chens vor den neuen Macht­ha­bern und der Arran­ge­ments, die „gewöhn­liche Privat­leute“ 1933 massen­haft mit ihnen fanden, ist sein auto­bio­gra­fi­scher Bericht ohne Frage ebenso beein­dru­ckend wie lesens­wert. Zugleich trifft sich sein Bild des Jahres 1933 aber auch in beson­derer Weise mit Betrach­tungs­weisen und Bedürf­nissen unserer Gegen­wart, aus denen heraus sich seine Popu­la­ri­sie­rung erklärt: Mit dem Heraus­stellen der Bedeu­tung vermeint­lich kleiner Alltags­ent­schei­dungen schuf das Buch eine Grund­lage dafür, die Warnungen vor einem „neuen 1933“ zu plau­si­bi­li­sieren, die sich vor allem in den Sozialen Medien an zahl­lose Nach­rich­ten­mel­dungen anhängen. Vor allem verhan­delt es aber insge­samt in der Vergan­gen­heit des Jahres 1933 eine Frage, um die poli­ti­sche Debatten der Gegen­wart viel­fach kreisen: den Einzelnen und die Mora­lität seines poli­ti­schen Alltags­han­delns. Diese Frage birgt für die Beschäf­ti­gung mit der NS-Geschichte insge­samt großes Poten­zial. Doch für eine Erin­ne­rung an den 30. Januar 1933 und das mit ihm verbun­dene Geschehen, macht es die Linse ausge­spro­chen eng und lässt Entschei­dendes außen vor.

Ein verges­sener Schlüs­sel­text: Unsere Straße von Jan Petersen

Was aus dem Blick gerät, zeigt ein anderes, ebenso aufschluss­rei­ches Buch, das einmal in ähnli­cher Weise die Erin­ne­rung an 1933 geprägt hat wie heute die Geschichte eines Deut­schen: der Roman Unsere Straße von Jan Petersen. Er ist in Verges­sen­heit geraten, lohnt anläss­lich des 90. Jahrestag des 30. Januar aller­dings unbe­dingt einer Wieder­lek­türe. Peter­sens Buch hat vieles mit der Geschichte eines Deut­schen gemeinsam. Wie Haff­ners Buch ist es ein auto­bio­gra­fi­sches, das noch in den 1930er Jahren geschrieben wurde und den Auswir­kungen des 30. Januar 1933 im Alltag seiner Prot­ago­nisten nach­geht. Und vor allem war auch Unsere Straße ein Best­seller, der in zahl­reiche Spra­chen über­setzt und von einem Millio­nen­pu­blikum gelesen wurde. Aller­dings fand dies in den ersten Nach­kriegs­jahr­zehnten auf der anderen Seite des Eisernen Vorhanges statt, wo Unsere Straße in ähnli­cher Weise zu einem anti­fa­schis­ti­schen Schlüs­sel­text wurde wie es heute die Geschichte eines Deut­schen ist. In West­deutsch­land hingegen erschien erst 1983 eine Ausgabe des Buches. Heute ist es nur noch anti­qua­risch zu erhalten.

Quelle: regikonyvek.hu

Dass Unserer Straße und die Geschichte eines Deut­schen unter­schied­liche Blicke auf das Jahr 1933 werfen, liegt an den Biogra­fien ihrer Autoren. Beide in Berlin geboren, etwa gleich alt, lebten am Beginn der 1930er Jahre noch immer in der Haupt­stadt, aus der sie im Verlauf des Jahr­zehnts wegen ihrer oppo­si­tio­nellen Haltung ins Ausland fliehen mussten. Aber sie entstammten unter­schied­li­chen Schichten. Während Sebas­tian Haffner als Sohn eines Lehrers und Beamten des preu­ßi­schen Kultus­mi­nis­te­riums sein lite­ra­ri­sches Inter­esse in die bürger­liche Wiege gelegt bekam, war Jan Petersen zu Hause kaum mit Lite­ratur in Kontakt gekommen. Sein Vater arbei­tete als Maurer. Petersen selbst war als Werk­zeug­ma­cher, Dreher und Kauf­mann tätig gewesen, bevor er Anfang der 1930er Jahre dauer­haft arbeitslos geworden war. Seine Begeis­te­rung für die Lite­ratur verdankte er der kommu­nis­ti­schen Arbei­ter­ju­gend, in der er bereits in den 1920er Jahren aktiv war. Mit 24 Jahren wurde er 1930 Mitglied der KPD und enga­gierte sich seitdem eben­falls im KPD-nahen Bund proletarisch-revolutionärer Schrift­steller. Hier stieg er bald zum Orga­ni­sa­ti­ons­leiter der Berliner Orts­gruppe auf, während seine eigenen lite­ra­ri­schen Versuche ohne größeren Erfolg blieben. Verein­zelt erschienen Artikel in der KPD-Zeitung Rote Fahne. Vor allem trug Petersen seine Texte aber in Agitprop-Spielgruppen und als Redner in den Hinter­höfen der Berliner Miets­ka­sernen vor. Zum Schrift­steller eines drei­hun­dert Seiten starken Romans wurde Jan Petersen erst durch den 30. Januar 1933.

Während im Früh­jahr 1933 die promi­nenten Mitglieder des Bundes proletarisch-revolutionärer Schrift­steller wie Bertolt Brecht, Anna Seghers oder Johannes R. Becher Hals über Kopf ins Ausland flohen, blieb Petersen in Berlin. Er entging dem Terror der SA und begann mit einigen anderen verblie­benen Mitglie­dern, die Tätig­keit des Bundes im Unter­grund wieder aufzu­nehmen. Die Gruppe verfasste Flug­schriften, verteilte sie und schmug­gelte Infor­ma­tionen ins Ausland. Zugleich begann Petersen den Anfang der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Diktatur in einem Tage­buch fest­zu­halten. Trotz der Gefahren, die diese Aufzeich­nungen für seine ille­gale Arbeit bedeu­teten, führte er sie bis in den Sommer 1934 fort und arbei­tete seine Notizen schließ­lich zu einem Roman um. Er wollte so die beschrie­benen Genoss:innen und ille­galen Struk­turen bei einer Veröf­fent­li­chung des Textes schützen. Das Manu­skript schmug­gelte er schließ­lich Ende 1934 unter aben­teu­er­li­chen Umständen über die deutsch-tschechische Grenze, wo die „im Herzen des faschis­ti­schen Deutsch­lands“ geschrie­bene „Chronik“ zur Sensa­tion wurde. Noch vor der Veröf­fent­li­chung kursierte der Text unter den Exil­schrift­stel­lern, die durch ihre frühen Fluchten häufig keine eigenen Eindrücke vom Alltag im natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutsch­land hatten. Petersen wurde so zu einer wich­tigen Infor­ma­ti­ons­quelle und unter den Exil­li­te­raten zur Berühmt­heit. 1936 erschien der Roman dann erst­mals in der Schweiz und in Russland.

Ein anderes Panorama des Jahres 1933

Das Buch beginnt am 21. Januar 1933 mit einem Spazier­gang des Erzäh­lers Jan und seiner Freunde Richard Hütting und Franz Zander durch die Wall­straße in Berlin-Charlottenburg (heute Zille­straße), die den Schau­platz des Romans bildet. In ihr leben die drei jungen Kommu­nisten, deren Geschichte das Buch bis in den Sommer 1934 verfolgt, wobei es ihre Erleb­nisse durch zahl­reiche Berichte von Freunden und Bekannten ergänzt. Sie zeugen gemeinsam von dem tiefen Einschnitt, den die Ernen­nung Hitlers zum Reichs­kanzler für die jungen Kommu­nisten und die anderen Bewohner der Wall­straße bedeutet. In ihr läuft am Mittag des 30. Januar die Nach­richt von Hitlers Ernen­nung „durch alle Wohnungen“. Am Abend finden sich die Bewohner zu einer Demons­tra­tion zusammen, die noch einmal eine „erregte Volks­menge voll Haß und Entschlos­sen­heit“ auf die Straße führt. Von ihr ist aber rasch kaum noch etwas zu spüren. Mit brutaler Gewalt setzt das neue Regime dem bishe­rigen Leben in dem Arbei­ter­quar­tier ein Ende, in der es im Verlauf des Romans immer mehr Personen aus dem Umfeld der drei Prot­ago­nisten verhaftet, foltert und ermordet – an seinem Ende schließ­lich auch Franz Zander und Richard Hütting.

Mit genauen Alltags­be­ob­ach­tungen zeichnet Peter­sens ein Panorama des Beginns der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Diktatur, das in seiner Eindring­lich­keit der Geschichte eines Deut­schen nicht nach­steht – sich aber in einer anderen Weise entfaltet. Denn der Autor rückt in seiner auto­bio­gra­fi­schen Schil­de­rung nicht den Einzelnen und seine Schwie­rig­keiten in den Mittel­punkt, ange­sichts der Drohungen des Natio­nal­so­zia­lismus mora­lisch zu handeln, die Sebas­tian Haffner umtreiben. Gegen­über dessen präzisen Beschrei­bungen gerade der inneren Konflikte, die der Beginn des Natio­nal­so­zia­lismus provo­zierte, bleiben Peter­sens Figuren psycho­lo­gisch recht sche­ma­tisch. Die drei jungen Kommu­nisten sind stets von der Rich­tig­keit ihres anti­fa­schis­ti­schen Kampfes über­zeugt, von der sie sich auch durch die Drohungen der brutalen Natio­nal­so­zia­listen nicht abbringen lassen, die im Roman vor allem als dumpfe Sadisten auftreten.

Gewalt und Ohnmacht

In der Schil­de­rung einer nächt­li­chen Wohnungs­durch­su­chung, bei der Franz Zander nur knapp einer Verhaf­tung entgeht, treffen diese Figu­ren­gruppen beson­ders deut­lich aufein­ander: Mutter und Schwester von Zander öffnen den das Trep­pen­haus herauf­pol­ternden Poli­zisten und SA-Männern die Tür. „Sie prallten zurück. Vor dem grellen Licht von elek­tri­schen Lampen. Pisto­len­läufe blitzen auf. Die vorderste Uniform stieß mit dem Fuß die Tür weit auf, sie flog Käthe gegen den Arm.“ Detail­liert schil­dert Petersen, wie die Eindring­linge die Wohnung mehr verwüsten als durch­su­chen. Wie sie „die Betten auf die Erde“ werfen, die Matratzen hoch­reißen und sie „dröh­nend fallen lassen“. Wie in der Küche das „Geschirr schep­perte“, die SA-Männer Bücher und Klei­dung aus den Schränken reißen, ein Lenin-Bild „an der Tisch­kante zerschlugen“. Ihren Anführer lässt Petersen die Frauen „anbrüllen“: Er hält ihnen „den Revolver vor die Brust“, lässt „alle Lampen“ auf die Schwester richten und „ging plötz­lich ganz dicht an die Mutter heran“. Der bild­haften Beschrei­bung der Gewalt steht im Roman die Uner­schro­cken­heit der beiden Frauen gegen­über. Als die Schwester die Tür öffnet, zittern „die Hände der Mutter, die den Mantel zusam­men­hielt, plötz­lich nicht mehr“. In den Antworten der Frauen auf die drohenden Fragen des SA-Mannes bleiben ihre Stimmen „ganz fest“ und Petersen lässt sie stets bestimmt mit Ausru­fe­zei­chen sprechen.

Diese Gegen­über­stel­lung von herum­wü­tenden SA-Sadisten und stand­hafter Kommu­nisten ist als stili­sierte Über­zeich­nung nicht zu über­sehen – auch, weil sie heutigen Leser:innen leicht aus der anti­fa­schis­ti­schen Lite­ratur bekannt ist, aus der die DDR nach 1949 einen großen Teil ihrer poli­ti­schen Legi­ti­ma­tion zog. Auch dies begrün­dete den Erfolg von Unsere Straße im Sozia­lismus. Liest man das Buch heute aller­dings bewusst als eines, das in der Zeit vor der kano­ni­schen Idea­li­sie­rung des kommu­nis­ti­schen Wider­standes entstand, entfal­tete gerade das gegen­über den Gewalt­schil­de­rungen so hilflos wirkende Bemühen des Autors, seine Prot­ago­nisten beständig als stand­hafte Helden zu portrai­tieren, eine andere Wirkung. In ihm wird eine Ohnmacht im Ange­sicht gren­zen­loser Gewalt erkennbar, mit der den Figuren in Peter­sens Romans gerade jenen Hand­lungs­spiel­raum verloren geht, um dessen rich­tigen Gebrauch Sebas­tian Haffner beständig kreist. Haffner sieht sich durch das Einbre­chen des Natio­nal­so­zia­lismus in seinem Alltag immer wieder vor Heraus­for­de­rungen gestellt, die seine „innersten Lebens­be­zirke“ heraus­for­dern und ihm „letzte Gewis­sens­ent­schei­dungen“ abver­langen, mit denen er nicht mehr bleiben kann, was er zuvor war. In der Wall­straße dringt die Gewalt hingegen ganz physisch in die innersten Lebens­be­reiche ihrer Bewohner:innen vor und es ist leicht, sich beim Lesen die Ängste, Verzweif­lung und Schreie vorzu­stellen, die etwa die beschrie­bene Haus­durch­su­chung tatsäch­lich begleitet haben. Wer sich in dieser Weise auf die Lektüre des Buchs einlässt, braucht es nicht als Schwäche zu lesen, dass Petersen von den psychi­schen Reak­tionen auf die Gewalt nicht in glei­cher Präzi­sion schreibt, wie von ihrer Bruta­lität. Das hilf­lose Bemühen des Autors, seine Figuren mit Uner­schro­cken­heit und Stand­haf­tig­keit auszu­statten, zeugt nur umso deut­li­cher davon, dass die innere Suche nach einem mora­lisch rich­tigen Verhältnis zum Natio­nal­so­zia­lismus 1933 nicht allen offenstand.

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In der Straße

Zugleich und vor allem ist Jan Petersen in anderer Hinsicht ein ausge­spro­chen präziser Beob­achter: mit Blick auf die sozialen Verän­de­rungen, die sich nach dem 30. Januar 1933 in der Wall­straße zeigen. Schon deren Topo­grafie verän­dert sich im Früh­jahr 1933 grund­le­gend. Die Arbei­ter­lo­kale, in denen Jan und seine beiden Freunde in den letzten Janu­ar­tagen noch verkehren, werden geschlossen. Das sozi­al­de­mo­kra­ti­sche „Volks­haus“ am Ende der Straße wird von der SA besetzt, zahl­reiche Stra­ßen­be­wohner dort inhaf­tiert, gefol­tert und teils getötet. Das Haus und der anlie­gende Stra­ßen­ab­schnitt werden zu einem Raum, den die drei jungen Kommu­nisten aus Angst vor Kontrollen meiden. Kommu­nis­ti­sche Wand­pa­rolen und Fahnen, die das Gesicht der bisher „roten“ Straße bestimmt haben, verschwinden. Statt­dessen tauchen mehr und mehr Haken­kreuz­fahnen und braune Uniformen auf. Im Sommer 1933 wird die Straße von Wall- in Maikowski-Straße umbe­nannt – nach einem dort in der Nacht zum 30. Januar 1933 im Nach­gang der kommu­nis­ti­schen Demons­tra­tion umge­kom­menen SA-Führer.

Die Verän­de­rungen in der räum­li­chen Ordnung und im Erschei­nungs­bild der Straße haben dabei weit­rei­chende Auswir­kungen auf das alltäg­liche Leben der jungen Kommu­nisten, die der Roman genau verfolgt. Sie sehen sich nun zu konspi­ra­tivem Verhalten und verstärktem Miss­trauen gegen­über Nach­barn und Bekannten gezwungen. Um die ille­galen Struk­turen zu schützen, grüßen sich die Freunde auf der Straße nicht mehr. Genoss:innen, die die SA sucht, müssen sich in anderen Stadt­teilen verste­cken, in die auch große Teile der poli­ti­schen Arbeit ausge­la­gert werden. Wach­sender Argwohn prägt das Verhalten gegen­über Nach­barn und denje­nigen Genossen, deren poli­ti­schen Stand­punkt man nicht mehr genau kennt. Um die drei Freunde wird es einsam. Sie geraten in einen rasanten Prozess der wach­senden Isola­tion, der sie in wenigen Wochen von jenem sozialen Umfeld entfremdet, in dem sie sich vor dem 30. Januar 1933 sicher und in gegen­sei­tiger Soli­da­rität geborgen gefühlt hatten: in ihrer Straße.

Zerstörte Soli­da­ri­täten, soziale Isolation

An ihrer poli­ti­schen Stand­fes­tig­keit ändert dieser Prozess im Roman nichts. Wenn Jan im Sommer 1933 die großen Haken­kreuz­fahnen am Char­lot­ten­burger Rathaus erblickt, vermerkt er den Hass, den „wir bei ihrem Anblick empfinden“. Aber er fragt sich nun auch, was die anderen Menschen über sie denken, die im „lärmenden Hin und Her des Werk­tages die Bürger­steige der breiten Verkehrs­straße füllen“: „Nehmen die Passanten sie schon hin? Sind sie schon etwas Alltäg­li­ches geworden, etwas, das unab­än­der­lich zu sein scheint?“ Über das, was in den Köpfen der Menschen jenseits des immer kleiner werdenden Kreises über­zeugter Kommu­nisten vor sich geht, können die Prot­ago­nisten des Romans nur noch mutmaßen.

In dieser Weise erzählt Unsere Straße nicht nur in eindrück­li­chen Bildern von der Gewalt im Früh­jahr 1933 wie es auch andere Werke der anti­fa­schis­ti­schen Exil­li­te­ratur tun. Sein beson­derer Wert liegt darin, Auswir­kungen des 30. Januar 1933 im deut­schen Alltag vorzu­führen, die ein an Sebas­tian Haffner und seiner bürger­li­chen Perspek­tive auf das Innen­leben geschulter Blick über­sieht: die Zerstö­rung von Soli­da­ri­täten, auf die sich viele Menschen am Beginn der 1930er Jahre glaubten verlassen zu können; die rasante Neuord­nung von Lebens­welten, in denen sich alles bis hinunter zu den Alltags­wegen verän­derte, die ihre Bewohner gewohnt waren; die Verun­mög­li­chung von Kommu­ni­ka­tion, die in rasantem Tempo jene Deut­schen in die soziale Isola­tion trieb, die sich wie die Prot­ago­nisten von Jan Petersen nicht mit der Diktatur arran­gieren wollten.

Allein aus der Perspek­tive der jungen Kommu­nisten der Wall­straße lässt sich die Geschichte des 30. Januar 1933 schon deshalb nicht verstehen. Aber ihr beschränkter Blick führt uns gravie­rende Lehr­stellen vor Augen, die das heutige Inter­esse am Beginn der NS-Diktatur aufweist und die mit für die Belie­big­keit verant­wort­lich sind, mit der heute vor einem „neuen 1933“ gewarnt wird.