Vladimir Putins offenkundiges Bestreben, mit schiefen historischen Thesen, aggressiver Propaganda und brutaler Gewalt ein neues russisches Großreich zu errichten, beschränkt sich nicht auf die Ukraine. Seit einiger Zeit richten sich die begehrlichen Blicke der russischen Ultranationalisten sogar auf Alaska.

  • Robert Kindler

    Robert Kindler ist Gastprofessor für Osteuropäische Geschichte an der Freien Universität Berlin. 2022 erschien „Robbenreich. Russland und die Grenzen der Macht am Nordpazifik“ in der Hamburger Edition. Auf Twitter findet man ihn unter @ro_kind
Geschichte der Gegenwart
Geschichte der Gegenwart 
Impe­riale Phan­tom­schmerzen: Neue russi­sche Blicke auf Alaska
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Dmitrij Matwejt­schew erregte Mitte März 2022 einige Aufmerk­sam­keit. Der Duma­ab­ge­ord­nete forderte öffent­lich, die USA sollten Alaska an Russ­land abtreten. Die Rück­gabe der ehema­ligen russi­schen Kolonie sei, so erklärte er, eine ange­mes­sene Kompen­sa­tion für all die Schäden, die der „vater­län­di­schen“ Wirt­schaft durch west­liche Sank­tionen entstünden. Einige US-amerikanische TV-Sender griffen die Meldung auf und Mike Dunleavy, der Gouver­neur Alaskas, twit­terte: „Good luck with that!“ Doch ange­sichts der drama­ti­schen Nach­richten vom Krieg Russ­lands gegen die Ukraine geriet das Thema rasch wieder in Verges­sen­heit. Dabei gehört die Idee, der Verkauf Alaskas an die USA im Jahr 1867 müsse – wie auch immer – rück­gängig gemacht werden, bereits seit einiger Zeit zum Grund­rau­schen des russi­schen Neoimperialismus. 

„Wir haben die Krim zurück­ge­holt, ihr müsst Alaska zurückholen!“

Insbe­son­dere seit der völker­rechts­wid­rigen Anne­xion der Krim im Jahr 2014 wird die Rück­gabe der Region von russi­schen Poli­ti­kern und Meinungs­ma­chern immer wieder thema­ti­siert. Dass viele dieser Äuße­rungen im Gewand scheinbar scherz­hafter Bemer­kungen daher­kamen (etwa, wenn Wladimir Putin das Wort­spiel „Eis-Krim“ nutzte), ermög­lichte es, das Thema zu setzen und zugleich als absurd zurück­zu­weisen.

„Wir haben die Krim zurück­ge­bracht, Ihr müsst Alaska zurück­bringen“: 2016 in der Stadt Jewpa­to­rija auf der Krim errich­tete Tafel; Quelle: ruinformer.com

Dennoch – oder gerade deshalb – fanden sich in Insze­nie­rungen und Reprä­sen­ta­tionen der neuen russi­schen Größe immer öfter auch Verweise auf das „russi­sche“ Alaska. Ganz offensiv wurde und wird dabei der Zusam­men­hang zur Halb­insel im Schwarzen Meer herge­stellt: „Wir haben die Krim zurück­ge­holt, ihr müsst Alaska zurück­holen!“ lautet etwa die Inschrift auf einer 2016 errich­teten Marmor­tafel in der Stadt Jewpa­to­rija. Manchem mögen auch noch die hellen Stimmen jener jugend­li­chen Kadetten im Ohr klingen, die 2017 in einem profes­sio­nell produ­zierten Video mit dem Titel „Onkel Wowa, wir sind mit Dir“ unter anderem davon sangen, dass sie dereinst Alaska „in den Hafen der Heimat“ zurück­führen würden. Und 2021 erklärten führende Prot­ago­nisten der russi­schen Verwal­tung auf der Krim, wenn es den USA ernst sei mit histo­ri­scher Gerech­tig­keit, sollten sie den ersten Schritt gehen und Alaska zurückgeben. 

Ökono­mi­sche Poten­ziale und „russi­sche Besitztümer“ 

Doch je lauter die Forde­rung nach einem russi­schen Alaska arti­ku­liert wurde – so etwa vom unlängst verstor­benen Enfant terrible der russi­schen Politik Wladimir Schi­ri­no­wski – desto offen­kun­diger schien es, dass es sich dabei um substanz­lose Gedan­ken­spiele handelte. Doch aus zwei Gründen wird der neo-imperiale Alas­ka­dis­kurs nun ernster genommen: Erstens wird die Region unter geostra­te­gi­schen Aspekten in den kommenden Jahr­zehnten an Bedeu­tung gewinnen. Aufgrund des Klima­wan­dels verrin­gern sich die Eismengen in den arkti­schen Meeren und es entstehen dauer­haft nutz­bare Routen, die den globalen Handel verän­dern werden. Zugleich könnten bislang unzu­gäng­liche Rohstoff­vor­kommen in der Arktis erschlossen werden. Und schließ­lich stellt das tauende Eis auch eine mili­tä­ri­sche Heraus­for­de­rung dar. Russ­land hat ökono­mi­sche sowie stra­te­gi­sche Risiken und Poten­ziale dieser gravie­renden Verän­de­rungen erkannt und baut im Zuge einer Arktis­stra­tegie seine Präsenz im Norden massiv aus. Die USA reagieren mit Manö­vern und dem Ausbau ihrer Trup­pen­prä­senz in der Region. In diesem begin­nenden „Kalten Krieg“ kommt Alaska eine zentrale Rolle zu.

Tweet der russi­schen Botschaft in Kanada vom 27.3.2022; Quelle: twitter.com

Und zwei­tens zeigt Russ­lands Krieg in der Ukraine, wie lebendig in Moskau das Denken in impe­rialen Kate­go­rien ist. Der Verweis auf die impe­riale Vergan­gen­heit Alaskas ist in diesem Zusam­men­hang nicht als konkrete Resti­tu­ti­ons­for­de­rung zu begreifen. Sie steht hier viel­mehr für ein Russ­land, das sich seiner „histo­ri­schen“ Grenzen bewusst ist. Als etwa der ameri­ka­ni­sche Präsi­dent Joe Biden am 26. März 2022 in Warschau erklärte, Russ­land begebe sich mit dem Krieg gegen die Ukraine auf den Weg zurück ins 19. Jahr­hun­dert, hieß es auf dem offi­zi­ellen Twitter-Account der russi­schen Botschaft in Kanada: Mit Blick auf Alaska sei das eine gute Idee. Dazu wurde eine histo­ri­sche Karte veröf­fent­licht, auf der die „russi­schen Besitz­tümer in Amerika“ verzeichnet waren.

Ein schlechtes Geschäft?

Solchen revi­sio­nis­ti­schen Ideen liegt die in Russ­land durchaus popu­läre These zugrunde, bei dem 1867 abge­schlos­senen Geschäft sei es nicht mit rechten Dingen zuge­gangen und Russ­land habe nach wie vor einen histo­risch begrün­deten Anspruch auf die Region. In zahl­losen Doku­men­ta­tionen, Arti­keln, Büchern und Inter­net­foren wird dieser Gedanke disku­tiert. Frag­lich scheint dabei ledig­lich, wer Schuld an dem angeb­li­chen Debakel trug: Mal wird der russi­sche Unter­händler Baron von Stoeckl bezich­tigt, sich an dem Vertrag berei­chert zu haben, mal werden die „Verräter“ in Peters­burger Minis­te­rien vermutet. Andere Autoren argu­men­tieren hingegen, das Terri­to­rium wäre ledig­lich für 99 Jahre verpachtet worden und Leonid Breschnew habe es in seiner Eigen­schaft als Gene­ral­se­kretär versäumt, berech­tigte Ansprüche geltend zu machen. Kurzum: Letzt­lich basieren all diese Theo­rien auf der Annahme, am 30. März 1867 sei nicht Alaska, sondern Russ­land „verkauft“ worden. 

“RUSSIAN STRANGER: ‘I say, little boy, do you want to trade? I’ve got a fine lot of bears, seals, icebergs and Esqui­maux – They’re no use to me, I’ll swop ’em all for those boats you’ve got.’ [Billy, like other foolish boys, jump at the idea]” – Amer­ka­ni­sche Kari­katur von 1867 gegen den Kauf von Alaska; Quelle: pinterest.com

So vertraut uns diese Denk­figur impe­rialer Zurück­set­zung und Demü­ti­gung heut­zu­tage auch erscheinen mag, die Zeit­ge­nossen hatten eine völlig andere Wahr­neh­mung der Dinge: Als das Russi­sche Impe­rium seine nord­ame­ri­ka­ni­sche Kolonie an die USA verkaufte, löste dies nicht in Russ­land, sondern in den USA erheb­li­chen Wider­spruch aus. Das Geschäft sei eine mise­rable Idee und ein fataler Fehler, hieß es in der US-amerikanischen Öffent­lich­keit. Der Kauf­preis von 7,2 Millionen Dollar sei viel zu hoch für dieses vermeint­lich wert­lose Terri­to­rium. Von „Ice-Bergia“ und „Wal-russia“ schrieben die Zeitungen. 

In Russ­land hingegen gab es kaum Proteste gegen die im kleinsten Kreis um Zar Alex­ander II. getrof­fene Entschei­dung, die einzige russi­sche Über­see­ko­lonie aufzu­geben. Im Gegen­teil: Mit diesem Schritt entle­digte sich das Impe­rium auf einen Schlag mehrerer Probleme, die seit einigen Jahren immer drän­gender geworden waren und für die sich keine Lösung abzeich­nete. Zunächst einmal erfor­derte der Unter­halt der Kolonie wesent­lich größere Mittel, als sie Gewinne einbrachte. Denn die Seeotter, deren wert­volle Felle ganz entschei­dend zur russi­schen Expan­sion in den Nord­pa­zifik beigetragen hatten, waren nach etwas mehr als einem Jahr­hun­dert russ­län­di­scher Kolo­ni­al­herr­schaft beinahe ausge­rottet. Andere Einnah­me­quellen gab es prak­tisch nicht; die Gold- und Ölvor­kommen Alaskas waren noch weit­ge­hend unbe­kannt. Doch nicht nur ökono­misch, sondern auch mili­tä­risch wurde die Kolonie unhaltbar. Die russi­schen Truppen in der Region zählten ledig­lich einige hundert Mann und hätten gegen einen ernst­haften Angriff kaum etwas ausrichten können. 

Diese Abkehr vom nord­pa­zi­fi­schen Raum war nicht zuletzt eng mit der Geschichte der Krim verbunden. Denn eine Episode des so genannten Krim­kriegs (1853-1856) spielte sich nicht am Schwarzen Meer, sondern im Nord­pa­zifik ab: 1854 atta­ckierten briti­sche und fran­zö­si­sche Kriegs­schiffe den Hafen Petro­paw­lowsk auf Kamt­schatka. Zwar wurde der Angriff abge­wehrt (ein bis heute intensiv komme­mo­riertes Ereignis), doch er zeigte auch, wie verwundbar das Impe­rium am Nord­pa­zifik war. Auch deshalb gerieten Alaska und die gesamte Region aus dem Fokus des impe­rialen Zentrums. Spätes­tens seit Beginn der 1860er Jahre rich­teten sich die Ambi­tionen Russ­lands auf die Erobe­rung Zentral­asiens und die Durch­drin­gung des Fernen Ostens. So fiel etwa die Grün­dung der Festung Wladi­wostok („Beherr­sche den Osten“) in diese Phase der impe­rialen Neuausrichtung. 

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Deutungen und Forderungen

Seit 1867 war „Russisch-Amerika“ in erster Linie ein Fall für Historiker:innen. Im Zentrum ihrer Debatten stand zumeist die Frage, ob und inwie­fern es sich bei der Über­see­ko­lonie um einen Sonder­fall russisch-imperialer Herr­schaft handelte. Dabei spielten auch die grau­same Dezi­mie­rung indi­gener Bevöl­ke­rungen auf den nord­pa­zi­fi­schen Inseln sowie die ökolo­gi­schen Folgen der rück­sichts­losen Ressour­cen­aus­beu­tung eine wich­tige Rolle. 

Im Denken von Nost­al­gi­kern und Revi­sio­nisten des Impe­riums sind solche Themen irrele­vant. Ihnen geht es um Dimen­sionen wie Macht, Größe und impe­riales Pres­tige. Der Verkauf der Kolonie stellt in dieser Perspek­tive eine Nieder­lage dar, die sich zwar nicht wett­ma­chen lässt, die aber auch nicht als endgültig aner­kannt werden kann. Daraus resul­tiert eine diskur­sive Melange, in der sich ernst­haftes histo­ri­sches Inter­esse, Droh­ge­bärden und pseudo-ironische Bemer­kungen mitein­ander verbinden. Ihren Ausdruck findet sie in terri­to­rialen Forde­rungen, dem Ruf nach der Bewah­rung des „russi­schen Erbes“  oder in der Vorstel­lung, die Geschichte der nord­ame­ri­ka­ni­schen Kolonie müsse als Geschichte russi­scher Zivi­li­sie­rungs­mis­sion und Domi­nanz geschrieben werden. 

Zumin­dest die Über­gabe Alaska an die neuen Besitzer am 18. Oktober 1867 bot dafür kein geeig­netes Anschau­ungs­ma­te­rial: Die russi­sche Flagge zerriss, als sie ein letztes Mal feier­lich einge­holt werden sollte, und Maria Maksutowa, die Frau des letzten russi­schen Gouver­neurs, fiel daraufhin in Ohnmacht. Im Logbuch des ameri­ka­ni­schen Mari­ne­schiffs, mit dem die Dele­ga­tionen beider Seiten gemeinsam zur Zere­monie ange­reist waren, hieß es am Abend dieses Tages: „No longer Russian America.“ Und dieser Satz gilt. Bis heute.