Die ukrainische Gegenwartsliteratur hat uns seit 2014, seit der Annexion der Krym und der Besetzung der Ostukraine durch prorussische Separatisten, sehr genau beschrieben, was es bedeutet, „im Krieg zu wohnen“. Jetzt sind viele Autor:innen und Künstler:innen selbst auf der Flucht. Zeit, ihnen genauer zuzuhören.

Als „Kriegs­ein­wohner“ hat Andrej Kurkov seinen Prot­ago­nisten Sergej in dem 2018 erschie­nenen Roman Graue Bienen bezeichnet. Es heißt von Sergej, dass er  an dem Krieg nicht teil­nahm, dass er aber dessen Einwohner war. Damals bezog Kurkov die Situa­tion noch auf die „graue Zone“, dem 500 Kilo­meter langen Fron­streifen in der Ostukraine. Inzwi­schen befindet sich die gesamte Bevöl­ke­rung der Ukraine in einem Krieg, den der russi­sche Präsi­dent Vladimir Putin ihnen am 24. Februar 2022 aufge­zwungen hat.

Andrej Kurkov, „Graue Bienen“, aus dem Russi­schen von Sabine Grebing und Johanna Marx (2019)

Jetzt, wo ich diesen Text schreibe, machen russi­sche Söldner Jagd auf den ukrai­ni­schen Präsi­denten Volo­dymyr Selen­skyj, fliehen Hundert­tau­sende in Rich­tung Polen, Ungarn, Rumä­nien und der Slowakei, verab­schieden sich ukrai­ni­sche Männer von ihren Fami­lien und greifen zu Waffen, obwohl sie gerade noch im Büro, an der Kasse oder in einer Vorle­sung saßen. Können wir wirk­lich nach­voll­ziehen, was das bedeutet? Ich bekomme verzwei­felte Briefe von hiesigen Studie­renden, die fragen, ob wir ihre Freunde nicht aufnehmen könnten. Es ist eigent­lich keine Zeit für Texte.

Und dennoch, wenn wir verstehen wollen, was seit 2014 in der Ukraine passiert ist, dann ist die Lite­ratur, der Film und das Theater eine verläss­liche Quelle. Sie sind Zeug:innen, sie erzählen, was kaum berichtet werden kann, sie schreiben auch dann, wenn die Medien ihre Aufmerk­sam­keit wieder auf andere Ereig­nisse richten. Sie führen uns vor, wie sehr die verwen­dete Sprache unsere Perspek­tive lenkt und wie Desin­for­ma­tion funktioniert.

Die Stimmen der Künstler:innen sind ebenso viel­fältig wie bedeutsam, und dennoch wird ihre Rolle für Protest, Wider­stand und Dissi­denz gesell­schaft­lich oft unter­schätzt. Dabei sind gerade sie dieje­nigen, die den Mut haben, öffent­lich kritisch zu sein und ihr Gesicht zu zeigen. Das gilt im Übrigen auch für so viele Künstler:innen in Russ­land und Belarus, die sich offen gegen Putin und Lukašenka stellen. Sie werden seit Jahren in Russ­land als „west­liche Agent:innen“ diffa­miert, werden in Schau­pro­zessen verur­teilt und machen trotzdem weiter.

„Bitte rettet uns nicht!“

Tanja Maljart­schuk, „Von Hasen und anderen Euro­päern: Geschichten aus Kiew“, aus dem Ukrai­ni­schen von Claudia Dathe

Bereits 2014 veröf­fent­lichte Tanja Maljarčuk, die seit 2011 in Wien lebt, in der FAZ einen Essay, in dem sie schreibt, „bitte rette uns nicht“. Sie setzte sich in dem kurzen Text mit genau jener Desin­for­ma­tion ausein­ander, mit der wir es seit Jahren aus den russi­schen Staats­me­dien zu tun haben, mit der konse­quenten „Verkeh­rung ins Gegen­teil“. Maljarčuk beschreibt schon damals, wie die Anne­xion der Krym in Russ­land konse­quent als Rettung darge­stellt wurde. Doch auch 2014 war diese Rede nicht mehr neu. Alek­sander Dugin, einer der rechts­extremen, radi­kal­na­tio­na­lis­ti­schen Polit­tech­no­logen in Russ­land, hatte schon 2008 beim Krieg gegen Geor­gien behauptet, dass „Lands­leute außer­halb der russi­schen Grenzen beschützt“ und gerettet werden müssen. Auch 2022 versu­chen die russi­schen Medien, die nicht von Krieg spre­chen dürfen und dafür den Begriff der „Speс­ope­ra­cija“ (Spezi­al­ope­ra­tion) verwenden, den russi­schen Über­fall als eine Rettungs­ak­tion darzu­stellen. Nun soll das gesamte Land von „Faschisten“ gerettet und befreit werden, wobei Putin nicht davor zurück­schreckt, den jüdi­schen ukrai­ni­schen Präsi­denten mit dem Faschis­mus­vor­wurf direkt zu adressieren.

Putin betreibt diese konse­quente Adres­sie­rung seiner Gegner als „Faschisten“ nicht erst seit gestern, und wer sich mit dem Stali­nismus ausein­an­der­ge­setzt hat weiß, dass auch Stalin seine Kritiker konse­quent „faschis­ti­sche Agenten“ nannte. Während Stalin diesen Vorwurf vor allem an das eigene Volk adres­sierte, um die reale Bedro­hung durch den Faschismus zusätz­lich innen­po­li­tisch zu nutzen, hat Putin diesen Vorwurf perfekt auf die euro­päi­sche Sensi­bi­lität zuge­schnitten, so soll – gerade in Deutsch­land – eine Soli­da­rität mit Regimekritiker:innen verhin­dert werden. Eine Verkeh­rung ins Gegen­teil ist dies auch deshalb, weil der Kreml es ist, der Rechts­po­pu­listen, Neofa­schisten und Neonazis inter­na­tional unter­stützt und finanziert.

Maljarčuk kommen­tierte 2014 in ihrem Artikel: „Du fragst dich ständig: wer hat die Faschisten auf dem Majdan in Kiew finan­ziert?“ Und antwortet ironisch: „Der ukrai­ni­sche Exprä­si­dent, den du jetzt für legitim hältst und bei dir versteckst, wollte das auch wissen und seine (oder waren es deine?) Mörder nagelten uns ans Kreuz, damit wir aufgeben und endlich gestehen.“ Maljarčuk dekon­stru­iert die Desin­for­ma­tion, indem sie zeigt, dass Russ­land niemand retten wolle, sondern seine geopo­li­ti­schen Ambi­tionen rück­sichtslos reali­siere: „Wir sind Faschisten, sagst du jetzt, Russ­land. Das wieder­holen viele deiner Söhne und Töchter, sobald sie die ukrai­ni­sche Sprache hören. Schon achtzig Jahre sind wir Faschisten, und ich frage dich, weshalb verdienen wir diese Anrede? Wie viele Konzen­tra­ti­ons­lager habe ich gebaut? Wie viele andere Völker umgebracht?“

Alltag auf Handyfilmchen

Auch der belarusisch-ukrainische Regis­seur Serhij Loznitsa fragt sich in Donbas (2018), wie die rheto­ri­sche und visu­elle Mani­pu­la­tion funk­tio­niert. Loznitsa zeigt in seinem Film Alltag und Kampf­hand­lungen im durch prorus­si­sche Sepa­ra­tisten besetzten Gebiet der Ukraine, in der so genannten Donezker Volks­re­pu­blik, jener Volks­re­pu­blik, die Putin gerade als „unab­hängig“ aner­kannt hat. Wie dieser Alltag aussieht, das weiß Loznicja vor allem aus Handy­film­chen, die Leute aus dem Donbas ins Netz gestellt haben. In seinem Film lässt er diese Szenen aus den Handy­filmen nach­stellen, mit Laien und mit profes­sio­nellen Schauspieler:innen. Die Szenen spielen im Bus, bei einer Stadt­ver­samm­lung, in einem Kran­ken­haus, bei der Grenz­kon­trolle der Sepa­ra­tisten, im Luft­schutz­keller, auf einer Hoch­zeit oder beim Komman­deur der Volksrepublik.

Insze­nierte Befra­gung auf der Strasse, Still aus Serhij Loznitsa, Donbas (2018).

Wenn man den Film schaut, weiß man nicht, dass ‚echte‘ Szenen verwendet werden. Aber was ist schon ‚echt‘? Denn Loznitsa zeigt, dass auch in der Wirk­lich­keit andau­ernd Theater gespielt wird. Menschen werden beispiels­weise dafür bezahlt, ‚Bevöl­ke­rung‘ im Kriegs­ge­biet zu spielen, oder den Dieb­stahl von Volks­ei­gentum zu insze­nieren. Gespielt wird auch der Faschis­ten­vor­wurf. In einer Szene werden junge Männer von einer alten Komman­deurin als „Faschisten“ aus dem Land, das von der „faschis­ti­schen Pest“ befallen ist, beschimpft. Als dann auch noch ein deut­scher Jour­na­list auftaucht, gibt es kein Halten mehr. Die Faschis­ten­rufe hören erst auf, als die Komman­deurin die Szene beendet: „Schluss jetzt, jetzt reicht’s mit der Verarsche“.

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Loznitsa zeigt den Faschis­mus­vor­wurf nur noch als Theater, das beliebig von den Sepa­ra­tisten zur Ernied­ri­gung des „Gegners“ einge­setzt werden kann. Das Ausspre­chen des Vorwurfs wird regel­recht zum Ritual – bei Loznitsa gezeigt in einer Szene, in der ein ukrai­ni­scher Mann mitten in der Stadt an einen Later­nen­pfahl fest­ge­bunden und mit ukrai­ni­scher Flagge um die Schul­tern und einem Schild auf dem Bauch als „Faschist“ ausge­stellt wird. Jugend­liche machen mit dem „Faschisten“ Selfies, die sie anschlie­ßend im Netz posten, am Schluss verprü­geln sie den Mann. In einem Inter­view, das Loznitsa in Die Zeit gab, bestä­tigt er, dass er auch diese Szene von einem Handy­film hat: „Das hat sich in der Realität so in einer kleinen Stadt im Bezirk Donezk zuge­tragen. Ich habe die Origi­nal­auf­nahmen als Grund­lage für diese Szene genommen.“

Die Szenen sind kaum auszu­halten. Entspre­chend sind auch die Reak­tionen auf den Film. Wie Muriel Fischer geschrieben hat, wurde der Film selbst Ziel einer Desin­for­ma­ti­ons­kam­pagne von RT Deutsch. RT warf dem Regis­seur vor, er betreibe mit erfun­denen Szenen Propa­ganda für die ukrai­ni­sche Regie­rung. Um das zu beweisen, machte RT ausge­rechnet eine ihrer typi­schen gestellten Umfragen in der Bevöl­ke­rung im Donbas. Dabei vergaßen sie wohl, dass Loznitsas Film genau mit einer solchen insze­nierten Befra­gung der Bevöl­ke­rung begann: Bezahlte Laienschauspieler:innen bezeugen, dass eine Explo­sion von gegne­ri­scher Seite zahl­reiche Menschen getötet habe.

Prinzip „Zerset­zung“

Der seit 2014 statt­fin­dende Bürger­krieg ist ein Mittel der „Zerset­zung“, jener opera­tiven Stra­tegie, die der Geheim­dienst­mann Putin zu seinem poli­ti­schen Prinzip erklärt hat.  Dieser Krieg produ­ziert inner­halb der Ukraine genau das,  wogegen er angeb­lich vorgehen möchte: Natio­na­lismus, Lingui­zismus, Hass. Unter anderem hat der Krieg bis 2022 1,5 bis zwei Millionen Binnen­flücht­linge zur Folge. Als Binnen­flücht­linge werden jene Menschen bezeichnet, die die Krym, Donezk, Luhansk oder andere Städte und Sied­lungen des Front­ge­bietes verlassen haben. Wie der Thea­ter­ma­cher Georg Genoux 2017 in einem Inter­view mit GdG schil­derte, ist voll­kommen klar, dass diese Flucht „in der ohnehin schon sozial schwa­chen Ukraine Aggres­sionen gegen die Menschen aus dem Osten“ weckt. „Oft werden Menschen aus dem Osten der Ukraine für den Krieg und das dadurch entstan­dene Elend verant­wort­lich gemacht. Und umge­kehrt sind die Flücht­linge ja auch Opfer der ukrai­ni­schen Armee, auch ukrai­ni­sche Soldaten haben ihre Häuser zerbombt.“

Theatre of Displaced People: Alik Sarda­nian, Bild: Elena Galay

Genoux und die Drama­ti­kerin Nata­lija Vorožbyt haben deshalb 2015 ein „Theatre of Displaced People“ gegründet, in dem sie die emotio­nale Anstren­gung der Flucht thema­ti­sieren und mit Flücht­lingen im Theater arbeiten. Vorožbyt hat auch Die Tage­bü­cher des Maidan aufge­führt und einen Monolog geschrieben, den sie im Unter­titel eine „Einlei­tung in die Erfah­rung des Bürger­krieges“ nennt. Sie recher­chierte im Kriegs­ge­biet und fragte sich, wie sich während des Bürger­kriegs die Gesell­schaft verwan­delt, wenn Männer (und auch Frauen) plötz­lich zu Soldat:innen oder auch zu Sepa­ra­tisten werden. Jetzt wird man sich fragen müssen, was mit einer Gesell­schaft passiert, in der die Männer zu Hause kämpfen müssen und die Frauen und Kinder aus dem Land flüchten.

Die verstö­rendsten Berichte über die Zerset­zungs­ma­schi­nerie der prorus­si­schen Sepa­ra­tisten kommen zwei­fels­ohne von Stanislav Aseev, einem Schrift­steller und Jour­na­listen, der andert­halb Jahre in der berüch­tigten „Isola­tion“ (Isol­ja­cija), einem Folter­ge­fängnis, gefangen gehalten wurde. Auf Deutsch sind seine essay­is­ti­schen Texte mit dem Titel In Isola­tion und Heller Weg. Geschichte eines Konzen­tra­ti­ons­la­gers im Donbass 2017–2019 im letzten Jahr erschienen.

Cover, „In Isola­tion.
Texte aus dem Donbass“, Edition Foto­ta­peta, Aus dem Ukrai­ni­schen und Russi­schen von Claudia Dathe und Sofiya Onufriv (2020)

Aseev schrieb zunächst unter dem Pseud­onym Stanislav Vasin für Radio Svoboda. Bei einer Recherche im Donbas­wurde er am 2. Juni 2017 vom „Minis­te­rium für Staats­si­cher­heit der Volks­re­pu­blik Donezk“ verschleppt, erst ein Gefan­gen­aus­tausch zwischen der Ukraine und den prorus­si­schen Volks­re­pu­bliken ermög­lichte seine Frei­las­sung. „In diesem Buch“, so beginnt Aseev seinen Bericht, „wird es um ein geheimes Gefängnis mitten im Zentrum von Donezk gehen. Um ein Gefängnis, das das Donezker Dachau genannt wird. Aber für die, die diesen Ort durch­lebt haben, wird das Buch nicht nur eine Erzäh­lung über ein Gefängnis sein.“

Auch Stanislav Aseev schreibt in einem gemein­samen Artikel mit dem Poli­tik­wis­sen­schaftler Andreas Umland, dass viele Beob­ach­ter „der Erzäh­lung des Kremls [vertrauen], dass der Krieg in der Ost­ukraine angeb­lich in Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen der Zen­tral­re­gie­rung in Kyiv wurzele“ und sich die Sepa­ra­tisten nur gegen ein neues „faschis­ti­sches Regime“ zur Wehr setzen. Es sei für viele nahe­lie­gender zu glauben, dass rechte ukrai­ni­sche Rand­grup­pen Über­griffe auf Ostukrainer verüben, als dass es mitten im Osten der Ukraine ein Folter­ge­fängnis gibt, in dem bis zu 80 Häft­linge, darunter auch Frauen, gequält werden. Aseev wurde das Schreiben in der „Isola­tion“ übri­gens nur erlaubt, damit man ihm die Notizen, insge­samt sechs Manu­skript­blätter, später wieder wegnehmen konnte. Also musste er seinen Text noch einmal „im Kopf schreiben“ und später aus dem Gedächtnis wieder herstellen, eine Situa­tion, die noch viele Schriftsteller:innen aus der Zeit der Sowjet­union kennen. 

Keine Rettung, keine Einladung

Yevgenia Belo­ru­sets,
Glück­liche Fälle,
aus dem Ukrai­ni­schen von Claudia Dathe (2020)

Zu lesen und zu sehen, was es bereits in den letzten sieben Jahren bedeutet hat, im Krieg zu wohnen, kann uns eine Ahnung davon geben, wie es den Menschen in der Ukraine heute geht und was auf sie zu kommt. Yevgenia Belo­ru­sets, ukrai­ni­sche Foto­grafin, Künst­lerin und Autorin, die vor kurzem ein wunder­bares Buch über Liebes­paare, Ruinen und Obdach­lose in der Ostukraine heraus­ge­bracht hat, schreibt zum Beispiel auch jetzt – trotz der Angriffe in Kyiv – täglich weiter auf face­book knappe Sätze an Freund:innen und für den Spiegel Tage­buch. Sie fragt sich im Eintrag vom 24. Februar, dem Tag der Kriegs­er­klä­rung von Putin, wann und wie das alles begann. 2014 hatte sie noch das Gefühl, von Kyiv aus in den Krieg im Osten der Ukraine einzu­reisen und aus ihm wieder ausreisen zu können. Sie schreibt: „Damals, im Jahr 2014, sagten die Leute in Kyiv: ‚Die Menschen aus dem Donbas, die ukrai­ni­schen Putin-Versteher, haben den Krieg in unser Land einge­laden.‘ Diese angeb­liche ‚Einla­dung‘ gilt seit einiger Zeit als Erklä­rung dafür, warum das absolut Unmög­liche, der Krieg mit Russ­land, plötz­lich doch möglich geworden ist.“

Doch ebenso wenig, wie die Anne­xion der Krym und nun der Angriff auf die gesamte Ukraine keine „Rettung“ ist, haben die Ostukrainer, wie Belo­ru­sets hier kommen­tiert, niemandem eine „Einla­dung“ geschickt. Es ist wichtig, sich diese Erzäh­lungen von den „Autor:innen“ der Desin­for­ma­tion nicht aufzwingen zu lassen.