„Identitätspolitik“ gilt wahlweise als liberal oder illiberal, zu links oder nicht links genug. Ein Blick in die letzten drei Jahrzehnte aber zeigt: Die Forderung, auf Themen von Kultur und Identität zu verzichten und sich auf „verteilungspolitische Gerechtigkeitsthemen“ zu konzentrieren, ist keine Alternative.

  • Thorsten Holzhauser

    Thorsten Holzhauser ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter der parteiunabhängigen Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus in Stuttgart. Er forscht zur Parteien- und Demokratiegeschichte, zur Geschichte der politischen Linken und zur Auseinandersetzung mit nationalsozialistischer Belastung und Kollaboration in den europäischen Nachkriegsdemokratien.

Das Wort „Iden­ti­täts­po­litik“ spaltet die Gemüter. In Deutsch­land hat unlängst der frühere DDR-Bürgerrechtler und Bundes­tags­prä­si­dent Wolf­gang Thierse mit seiner Kritik an einer Linken für Aufsehen gesorgt, die „Themen kultu­reller Zuge­hö­rig­keit“ über „vertei­lungs­po­li­ti­sche Gerech­tig­keits­themen“ stelle. Wenn „radi­kale Meinungs­bio­tope“ ihre grup­pen­spe­zi­fi­schen Parti­ku­lar­in­ter­essen verfolgten, so Thierse, gefähr­deten sie den gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt und ersetzten wech­sel­sei­tige Soli­da­rität durch einsei­tige Anspruchs­hal­tungen. Für seine Thesen erhielt Thierse ebenso viel Kritik wie Unter­stüt­zung. Während sich die Partei­spitze der SPD darüber sorgte, dass die Partei durch die Thesen des lang­jäh­rigen Vorsit­zenden ihrer Grund­wer­te­kom­mis­sion rück­wärts­ge­wandt erscheine, stellte sich Thierses Nach­fol­gerin Gesine Schwan an seine Seite: Sie halte „diese kollek­tiven Iden­ti­täten für die Pest“.

Die Debatte um „linke Iden­ti­täts­po­litik“ ist aber keines­wegs ein exklu­sives Thema der deut­schen Sozi­al­de­mo­kratie. Statt­dessen sind es seit Jahren Rechte und Konser­va­tive, die in unter­schied­li­cher Schärfe gegen „links­grüne“ Eliten pole­mi­sieren. Aber auch die beiden Linkspartei-Größen Sahra Wagen­knecht und ihr Ehemann Oskar Lafon­taine beklagen eine zuneh­mend auto­ri­täre „Iden­ti­täts­po­litik“ in ihrer Partei. Statt soziale Ungleich­heit, Armuts­löhne und nied­rige Renten anzu­pran­gern, so Wagen­knecht, gehe es den linken Parteien um „Lifestyle-Fragen“ und „Sensi­bi­li­täten“ einzelner Minder­heiten, die gegen die eigent­li­chen Inter­essen der Mehr­heit durch­ge­setzt würden. Damit stimmt die Linken-Politikerin in einen viel­stim­migen Chor von inter­na­tio­nalen Kritiker:innen ein, der durch immer schril­lere Töne auffällt. Während sich die Diskus­sion in den USA insbe­son­dere nach dem Wahl­er­folg Donald Trumps 2016 zu einem Höhe­punkt stei­gerte, disku­tiert die fran­zö­si­sche Öffent­lich­keit seit geraumer Zeit über den „islamo-gauchisme“ – und unter­stellt damit eine heim­liche Allianz zwischen gesell­schafts­li­be­ralen Linken und einem illi­be­ralen Islam. So unter­schied­lich die Kontexte sind, so deut­lich sind doch die Gemein­sam­keiten: Am Pranger steht jeweils eine – wahl­weise als (neo)liberal oder illi­beral beschrie­bene – „Kultur­linke“, die sich von den sprach­li­chen Codes und sozialen Inter­essen ihrer eigent­li­chen Klientel entfernt habe und für kultu­relle Sonder­in­ter­essen radi­kaler Minder­heiten kämpft. Betreibt die poli­ti­sche Linke also Kultur­kampf statt Klas­sen­kampf? Und was ist daran neu?

Progres­siver Neoliberalismus

Die Kritik schließt an eine inter­na­tio­nale wissen­schaft­liche Debatte an, die sich über Jahr­zehnte entwi­ckelt hat. Schon seit den 1970er Jahren beob­ach­teten Sozialwissenschaftler:innen wie Ronald Ingle­hart und Herbert Kitschelt in der west­li­chen Welt das Aufkommen neuer poli­ti­scher Parteien und Bewe­gungen, die sich nur schwer in ein verein­fachtes sozio­öko­no­mi­sches Links-Rechts-Schema einordnen ließen. Grüne und links­li­ber­täre Gruppen setzten vermeint­lich imma­te­ri­elle Themen wie Umwelt­schutz, Anti­ras­sismus, Frauen- und Minder­hei­ten­rechte auf die Agenda und spra­chen damit eher Akademiker:innen als Industriearbeiter:innen an. Viele sozia­lis­ti­sche und sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Parteien erkannten den sozial-emanzipativen Charakter der Themen und inte­grierten sie in ihre Program­matik. Mit weit­rei­chenden Folgen: Dass sich (frühere) Arbei­ter­par­teien um die Jahr­tau­send­wende – in unter­schied­li­chem Maße – für femi­nis­ti­sche, ökolo­gi­sche und anti­ras­sis­ti­sche Anliegen einsetzten, zugleich aber das Hohe­lied des Marktes mitsangen, führte bei vielen Kritiker:innen zu der Annahme, dass zwischen beiden Entwick­lungen ein Zusam­men­hang bestehe. Neoli­be­rale Sozi­al­po­litik und links­li­be­rale Gesell­schafts­po­litik schienen ein symbio­ti­sches Verhältnis einzu­gehen – ein Phänomen, das die ameri­ka­ni­sche Philo­so­phin Nancy Fraser mit dem Begriff des „progres­siven Neoli­be­ra­lismus“ belegt hat.

Auf der anderen Seite kamen etwa zeit­gleich in vielen euro­päi­schen Ländern neue natio­na­lis­ti­sche und frem­den­feind­liche Parteien auf, die sich ähnli­cher Mecha­nismen bedienten wie die geschmähte „Kultur­linke“. Sie poli­ti­sierten soziale Grup­pen­zu­ge­hö­rig­keit und leiteten daraus poli­ti­sche Ansprüche ab – nur ging es ihnen nicht um die rassis­tisch, sexis­tisch oder reli­giös Margi­na­li­sierten der Gesell­schaft, sondern um die weiße Mehr­heits­ge­sell­schaft. Iden­ti­täts­po­litik für Weiße also. Damit gelang es ihnen, soziale Konflikte und Ungleich­heiten inner­halb der Gesell­schaften zu ethnisch-religiösen Kultur- und Iden­ti­täts­kon­flikten umzu­deuten und auf diese Weise von den sozi­al­kul­tu­rellen Verwer­fungen zu profi­tieren, die der gesell­schaft­liche Wandel produ­ziert hat. Dass die „fort­schritt­li­chen“ Kräfte dem wenig entge­gen­zu­setzen hatten, lag auch an ihrer ideo­lo­gi­schen Verun­si­che­rung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Während der ameri­ka­ni­sche Poli­tik­wis­sen­schaftler Francis Fuku­yama Anfang der 1990er Jahre von einem „Ende der Geschichte“ sprach und damit den Sieg des Libe­ra­lismus über den Sozia­lismus meinte, sahen andere einen „Clash of Civi­liza­tions“ (S. Huntington) aufziehen, in dem der sozi­al­öko­no­mi­sche und ideo­lo­gi­sche System­kon­flikt des Ost-West-Konflikts durch einen Gegen­satz kultu­reller und reli­giöser Gemein­schaften abge­löst werde. Der Kultur­kampf war damit ausgerufen.

Erfah­rungen grun­dieren Handeln

Vor diesem Hinter­grund fordern Linke und Links­li­be­rale dies­seits und jenseits des Atlan­tiks, die Politik mit der Iden­tität besser sein zu lassen. Es handele sich um ein rechtes Thema, von dem fort­schritt­lich denkende Kräfte die Finger lassen sollten. Aber auch dies greift zu kurz und über­sieht, wie eng verflochten linke und iden­ti­täts­po­li­ti­sche Posi­tionen heute sind – und schon in der Vergan­gen­heit waren. Blickt man beispiel­haft auf die deut­sche Entwick­lung seit der Wieder­ver­ei­ni­gung, dann zeigt sich schnell eines: Nicht selten haben jene Politiker:innen, die heute die schärfste Kritik an einer angeb­lich abge­ho­benen „Kultur­linken“ üben, in der Vergan­gen­heit selbst daran mitge­wirkt, Fragen von Iden­tität und Alterität auf die poli­ti­sche Agenda zu setzen. Das gilt nicht zuletzt für Sahra Wagen­knecht, die bereits in den 1990er Jahren dem Vorstand der Linken-Vorgängerpartei PDS ange­hörte. Abge­sehen davon, dass die PDS zu keiner Zeit eine „Arbei­ter­partei“ war, sondern von Akademiker:innen wie Wagen­knecht geprägt und gewählt wurde, gehörte es nach dem Ende der DDR zu ihren maßgeb­li­chen Erfolgs­re­zepten, dass sie sozio­öko­no­mi­sche Vertei­lungs­themen und kultu­relle Iden­ti­täts­themen mitein­ander zu verknüpfen wusste.

Auch wenn sich die Partei schon damals als anti­ras­sis­tisch und femi­nis­tisch defi­nierte, ging es nach 1990 vorder­gründig um eine ganz andere Iden­tität: die der Ostdeut­schen. Im ersten Jahr­zehnt ihres Bestehens verstand sich die heutige Links­partei als Fürspre­cherin der ehema­ligen DDR-Bürger:innen und erhob nicht nur den Anspruch, ihre sozialen und ökono­mi­schen Inter­essen zu vertreten, sondern auch ihre kultu­relle Eigen­heit gegen einen über­bor­denden west­deut­schen „Kolo­nia­lismus“ zu schützen. Jede west­deut­sche Einmi­schung wiederum wurde als Angriff „der Herr­schenden“ auf die „DDR-Identität“ zurück­ge­wiesen, dies nicht zuletzt dann, wenn es um sensible Themen wie Geschichts­po­litik und justi­zi­elle Aufar­bei­tung ging. Dass West­deut­sche hier nicht mitreden konnten, weil sie die histo­ri­schen Erfah­rungen nicht teilten, war damals Konsens in der Partei. Wagen­knechts Kommu­nis­ti­sche Platt­form trug diesen Kurs stets mit und versuchte die auftre­tenden Wider­sprüche zwischen Kultur­kampf und Klas­sen­kampf zu über­spielen: Die „ostdeut­schen Inter­essen“ wurden kurzer­hand zu „anti­ka­pi­ta­lis­ti­schen“ Inter­essen erklärt.

Der ostdeut­sche Sozi­al­de­mo­krat Wolf­gang Thierse wiederum kriti­sierte diese Form der anti­west­li­chen Iden­ti­täts­po­litik schon damals und forderte Soli­da­rität statt Spal­tung. Wie die meisten Politiker:innen aus der vorma­ligen DDR nahm aber auch er nach 1990 ein „funda­men­tales Ungleich­ge­wicht“ zwischen West- und Ostdeut­schen wahr und vertei­digte die ostdeut­sche Iden­tität gegen ihre „Entwer­tung“. Seither gehört es zu den gängigen Forde­rungen ostdeut­scher Intel­lek­tu­eller und Politiker:innen, mehr Vertreter:innen Ostdeutsch­lands in poli­ti­schen Führungs­po­si­tionen zu sehen, weil sonst deren „exis­ten­zi­elle Erfah­rungen“ verloren gingen. Erfah­rungen „grun­dieren poli­ti­sches Handeln“, so Wolf­gang Thierse. Genau das aber ist die Muster­de­fi­ni­tion von Iden­ti­täts­po­litik: Kollek­tive Zuschrei­bungen und geteilte Erfah­rungen einer sozialen Gruppe werden zum Ausgangs­punkt von Inter­es­sen­po­litik, um letzt­lich mehr Aner­ken­nung und Einfluss zu erlangen.

Welche Art von Identitätspolitik?

Die in der Debatte thema­ti­sierten Wider­sprüche und Gegen­sätze rund um das Thema „Iden­ti­täts­po­litik“ sind daher nicht nur älter, sondern auch komplexer, als manchem bewusst zu sein scheint. Auch heute ist es keines­wegs so, als würden sich Kritiker:innen wie Sahra Wagen­knecht und Oskar Lafon­taine an die eigene Forde­rung halten und sich ganz auf Vertei­lungs­fragen konzen­trieren – ein Themen­ge­biet, auf dem es inner­halb der Links­partei vergleichs­weise wenig Kontro­versen gibt. Statt­dessen profi­lieren sie sich seit Jahren mit „iden­ti­täts­po­li­ti­schen“ Themen, die sie nur nicht so nennen. Schon seinen Austritt aus der SPD im Jahr 2005 verband Oskar Lafon­taine mit einem klaren gesell­schafts­po­li­ti­schen Programm: Er pole­mi­sierte gegen eine „neoli­be­rale“ Globa­li­sie­rung, die „Fremd­ar­beiter“ ins Land hole, um das Lohn­ni­veau zu drücken – und er warnte vor einer musli­mi­schen Bevöl­ke­rungs­mehr­heit und „Paral­lel­ge­sell­schaften“ in Europa, die die „kultu­relle Iden­tität“ des Konti­nents gefähr­deten. Auch Sahra Wagen­knechts wieder­holte Warnung vor den nega­tiven Folgen von Einwan­de­rung mag vielen Wähler:innen aus der Seele spre­chen, ist aber nicht weniger „Iden­ti­täts­po­litik“ als die von ihr kriti­sierte Idea­li­sie­rung von Diver­sität durch ihre inner­par­tei­li­chen Gegenspieler:innen. Iden­tity poli­tics ist gerade zum Feind­bild jener geworden, die sie mit Inbrunst betreiben.

Worum es in den Diskus­sionen geht, ist also nicht die Frage „Iden­ti­täts­po­litik: ja oder nein?“ Das Poli­tik­feld zu vermeiden, ist schlichtweg nicht möglich, weil sich auf ihm zentrale poli­ti­sche Streit­fragen der west­li­chen Gesell­schaften abspielen. Im Mittel­punkt steht statt­dessen die Frage, welche Art von Iden­ti­täts­po­litik die poli­ti­schen Parteien betreiben – und für wen. Dabei erweist sich der Gegen­satz „kultu­relle Zuge­hö­rig­keit“ vs. „Vertei­lungs­ge­rech­tig­keit“ schnell als Chimäre, geht es doch darum, die Zusam­men­hänge von Herkunft, Macht und Kapital offen­zu­legen und poli­ti­sche Konse­quenzen abzu­leiten. Dafür sind in den Debatten der letzten Wochen wich­tige Fragen gestellt worden, die sich an alle poli­ti­schen Strö­mungen richten. Kann poli­ti­sche und gesell­schaft­liche Gleich­heit dadurch erreicht werden, dass Ungleich­heiten verste­tigt werden? Ist es für einen freien Diskurs unter Glei­chen dien­lich, wenn sich die bisher Privi­le­gierten zurück­halten? Und ist es nicht eine für über­wunden geglaubte Essen­tia­li­sie­rung von Kultur, wenn diese einer bestimmten Gruppe zuge­schrieben und vor fremder Aneig­nung geschützt werden soll? Die Schlüs­sel­frage ist aber, wie es gelingt, einer Hier­ar­chi­sie­rung von Iden­ti­täten vorzu­beugen, die alte Privi­le­gien und Ungleich­heiten fort­schreibt oder neue erzeugt. Es geht also nicht um „Lifestyle“-Themen, sondern um Frei­heit und Emanzipation.

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