Das Wort „Identitätspolitik“ spaltet die Gemüter. In Deutschland hat unlängst der frühere DDR-Bürgerrechtler und Bundestagspräsident Wolfgang Thierse mit seiner Kritik an einer Linken für Aufsehen gesorgt, die „Themen kultureller Zugehörigkeit“ über „verteilungspolitische Gerechtigkeitsthemen“ stelle. Wenn „radikale Meinungsbiotope“ ihre gruppenspezifischen Partikularinteressen verfolgten, so Thierse, gefährdeten sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt und ersetzten wechselseitige Solidarität durch einseitige Anspruchshaltungen. Für seine Thesen erhielt Thierse ebenso viel Kritik wie Unterstützung. Während sich die Parteispitze der SPD darüber sorgte, dass die Partei durch die Thesen des langjährigen Vorsitzenden ihrer Grundwertekommission rückwärtsgewandt erscheine, stellte sich Thierses Nachfolgerin Gesine Schwan an seine Seite: Sie halte „diese kollektiven Identitäten für die Pest“.
Die Debatte um „linke Identitätspolitik“ ist aber keineswegs ein exklusives Thema der deutschen Sozialdemokratie. Stattdessen sind es seit Jahren Rechte und Konservative, die in unterschiedlicher Schärfe gegen „linksgrüne“ Eliten polemisieren. Aber auch die beiden Linkspartei-Größen Sahra Wagenknecht und ihr Ehemann Oskar Lafontaine beklagen eine zunehmend autoritäre „Identitätspolitik“ in ihrer Partei. Statt soziale Ungleichheit, Armutslöhne und niedrige Renten anzuprangern, so Wagenknecht, gehe es den linken Parteien um „Lifestyle-Fragen“ und „Sensibilitäten“ einzelner Minderheiten, die gegen die eigentlichen Interessen der Mehrheit durchgesetzt würden. Damit stimmt die Linken-Politikerin in einen vielstimmigen Chor von internationalen Kritiker:innen ein, der durch immer schrillere Töne auffällt. Während sich die Diskussion in den USA insbesondere nach dem Wahlerfolg Donald Trumps 2016 zu einem Höhepunkt steigerte, diskutiert die französische Öffentlichkeit seit geraumer Zeit über den „islamo-gauchisme“ – und unterstellt damit eine heimliche Allianz zwischen gesellschaftsliberalen Linken und einem illiberalen Islam. So unterschiedlich die Kontexte sind, so deutlich sind doch die Gemeinsamkeiten: Am Pranger steht jeweils eine – wahlweise als (neo)liberal oder illiberal beschriebene – „Kulturlinke“, die sich von den sprachlichen Codes und sozialen Interessen ihrer eigentlichen Klientel entfernt habe und für kulturelle Sonderinteressen radikaler Minderheiten kämpft. Betreibt die politische Linke also Kulturkampf statt Klassenkampf? Und was ist daran neu?
Progressiver Neoliberalismus
Die Kritik schließt an eine internationale wissenschaftliche Debatte an, die sich über Jahrzehnte entwickelt hat. Schon seit den 1970er Jahren beobachteten Sozialwissenschaftler:innen wie Ronald Inglehart und Herbert Kitschelt in der westlichen Welt das Aufkommen neuer politischer Parteien und Bewegungen, die sich nur schwer in ein vereinfachtes sozioökonomisches Links-Rechts-Schema einordnen ließen. Grüne und linkslibertäre Gruppen setzten vermeintlich immaterielle Themen wie Umweltschutz, Antirassismus, Frauen- und Minderheitenrechte auf die Agenda und sprachen damit eher Akademiker:innen als Industriearbeiter:innen an. Viele sozialistische und sozialdemokratische Parteien erkannten den sozial-emanzipativen Charakter der Themen und integrierten sie in ihre Programmatik. Mit weitreichenden Folgen: Dass sich (frühere) Arbeiterparteien um die Jahrtausendwende – in unterschiedlichem Maße – für feministische, ökologische und antirassistische Anliegen einsetzten, zugleich aber das Hohelied des Marktes mitsangen, führte bei vielen Kritiker:innen zu der Annahme, dass zwischen beiden Entwicklungen ein Zusammenhang bestehe. Neoliberale Sozialpolitik und linksliberale Gesellschaftspolitik schienen ein symbiotisches Verhältnis einzugehen – ein Phänomen, das die amerikanische Philosophin Nancy Fraser mit dem Begriff des „progressiven Neoliberalismus“ belegt hat.
Auf der anderen Seite kamen etwa zeitgleich in vielen europäischen Ländern neue nationalistische und fremdenfeindliche Parteien auf, die sich ähnlicher Mechanismen bedienten wie die geschmähte „Kulturlinke“. Sie politisierten soziale Gruppenzugehörigkeit und leiteten daraus politische Ansprüche ab – nur ging es ihnen nicht um die rassistisch, sexistisch oder religiös Marginalisierten der Gesellschaft, sondern um die weiße Mehrheitsgesellschaft. Identitätspolitik für Weiße also. Damit gelang es ihnen, soziale Konflikte und Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaften zu ethnisch-religiösen Kultur- und Identitätskonflikten umzudeuten und auf diese Weise von den sozialkulturellen Verwerfungen zu profitieren, die der gesellschaftliche Wandel produziert hat. Dass die „fortschrittlichen“ Kräfte dem wenig entgegenzusetzen hatten, lag auch an ihrer ideologischen Verunsicherung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Während der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama Anfang der 1990er Jahre von einem „Ende der Geschichte“ sprach und damit den Sieg des Liberalismus über den Sozialismus meinte, sahen andere einen „Clash of Civilizations“ (S. Huntington) aufziehen, in dem der sozialökonomische und ideologische Systemkonflikt des Ost-West-Konflikts durch einen Gegensatz kultureller und religiöser Gemeinschaften abgelöst werde. Der Kulturkampf war damit ausgerufen.
Erfahrungen grundieren Handeln
Vor diesem Hintergrund fordern Linke und Linksliberale diesseits und jenseits des Atlantiks, die Politik mit der Identität besser sein zu lassen. Es handele sich um ein rechtes Thema, von dem fortschrittlich denkende Kräfte die Finger lassen sollten. Aber auch dies greift zu kurz und übersieht, wie eng verflochten linke und identitätspolitische Positionen heute sind – und schon in der Vergangenheit waren. Blickt man beispielhaft auf die deutsche Entwicklung seit der Wiedervereinigung, dann zeigt sich schnell eines: Nicht selten haben jene Politiker:innen, die heute die schärfste Kritik an einer angeblich abgehobenen „Kulturlinken“ üben, in der Vergangenheit selbst daran mitgewirkt, Fragen von Identität und Alterität auf die politische Agenda zu setzen. Das gilt nicht zuletzt für Sahra Wagenknecht, die bereits in den 1990er Jahren dem Vorstand der Linken-Vorgängerpartei PDS angehörte. Abgesehen davon, dass die PDS zu keiner Zeit eine „Arbeiterpartei“ war, sondern von Akademiker:innen wie Wagenknecht geprägt und gewählt wurde, gehörte es nach dem Ende der DDR zu ihren maßgeblichen Erfolgsrezepten, dass sie sozioökonomische Verteilungsthemen und kulturelle Identitätsthemen miteinander zu verknüpfen wusste.
Auch wenn sich die Partei schon damals als antirassistisch und feministisch definierte, ging es nach 1990 vordergründig um eine ganz andere Identität: die der Ostdeutschen. Im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens verstand sich die heutige Linkspartei als Fürsprecherin der ehemaligen DDR-Bürger:innen und erhob nicht nur den Anspruch, ihre sozialen und ökonomischen Interessen zu vertreten, sondern auch ihre kulturelle Eigenheit gegen einen überbordenden westdeutschen „Kolonialismus“ zu schützen. Jede westdeutsche Einmischung wiederum wurde als Angriff „der Herrschenden“ auf die „DDR-Identität“ zurückgewiesen, dies nicht zuletzt dann, wenn es um sensible Themen wie Geschichtspolitik und justizielle Aufarbeitung ging. Dass Westdeutsche hier nicht mitreden konnten, weil sie die historischen Erfahrungen nicht teilten, war damals Konsens in der Partei. Wagenknechts Kommunistische Plattform trug diesen Kurs stets mit und versuchte die auftretenden Widersprüche zwischen Kulturkampf und Klassenkampf zu überspielen: Die „ostdeutschen Interessen“ wurden kurzerhand zu „antikapitalistischen“ Interessen erklärt.
Der ostdeutsche Sozialdemokrat Wolfgang Thierse wiederum kritisierte diese Form der antiwestlichen Identitätspolitik schon damals und forderte Solidarität statt Spaltung. Wie die meisten Politiker:innen aus der vormaligen DDR nahm aber auch er nach 1990 ein „fundamentales Ungleichgewicht“ zwischen West- und Ostdeutschen wahr und verteidigte die ostdeutsche Identität gegen ihre „Entwertung“. Seither gehört es zu den gängigen Forderungen ostdeutscher Intellektueller und Politiker:innen, mehr Vertreter:innen Ostdeutschlands in politischen Führungspositionen zu sehen, weil sonst deren „existenzielle Erfahrungen“ verloren gingen. Erfahrungen „grundieren politisches Handeln“, so Wolfgang Thierse. Genau das aber ist die Musterdefinition von Identitätspolitik: Kollektive Zuschreibungen und geteilte Erfahrungen einer sozialen Gruppe werden zum Ausgangspunkt von Interessenpolitik, um letztlich mehr Anerkennung und Einfluss zu erlangen.
Welche Art von Identitätspolitik?
Die in der Debatte thematisierten Widersprüche und Gegensätze rund um das Thema „Identitätspolitik“ sind daher nicht nur älter, sondern auch komplexer, als manchem bewusst zu sein scheint. Auch heute ist es keineswegs so, als würden sich Kritiker:innen wie Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine an die eigene Forderung halten und sich ganz auf Verteilungsfragen konzentrieren – ein Themengebiet, auf dem es innerhalb der Linkspartei vergleichsweise wenig Kontroversen gibt. Stattdessen profilieren sie sich seit Jahren mit „identitätspolitischen“ Themen, die sie nur nicht so nennen. Schon seinen Austritt aus der SPD im Jahr 2005 verband Oskar Lafontaine mit einem klaren gesellschaftspolitischen Programm: Er polemisierte gegen eine „neoliberale“ Globalisierung, die „Fremdarbeiter“ ins Land hole, um das Lohnniveau zu drücken – und er warnte vor einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit und „Parallelgesellschaften“ in Europa, die die „kulturelle Identität“ des Kontinents gefährdeten. Auch Sahra Wagenknechts wiederholte Warnung vor den negativen Folgen von Einwanderung mag vielen Wähler:innen aus der Seele sprechen, ist aber nicht weniger „Identitätspolitik“ als die von ihr kritisierte Idealisierung von Diversität durch ihre innerparteilichen Gegenspieler:innen. Identity politics ist gerade zum Feindbild jener geworden, die sie mit Inbrunst betreiben.
Worum es in den Diskussionen geht, ist also nicht die Frage „Identitätspolitik: ja oder nein?“ Das Politikfeld zu vermeiden, ist schlichtweg nicht möglich, weil sich auf ihm zentrale politische Streitfragen der westlichen Gesellschaften abspielen. Im Mittelpunkt steht stattdessen die Frage, welche Art von Identitätspolitik die politischen Parteien betreiben – und für wen. Dabei erweist sich der Gegensatz „kulturelle Zugehörigkeit“ vs. „Verteilungsgerechtigkeit“ schnell als Chimäre, geht es doch darum, die Zusammenhänge von Herkunft, Macht und Kapital offenzulegen und politische Konsequenzen abzuleiten. Dafür sind in den Debatten der letzten Wochen wichtige Fragen gestellt worden, die sich an alle politischen Strömungen richten. Kann politische und gesellschaftliche Gleichheit dadurch erreicht werden, dass Ungleichheiten verstetigt werden? Ist es für einen freien Diskurs unter Gleichen dienlich, wenn sich die bisher Privilegierten zurückhalten? Und ist es nicht eine für überwunden geglaubte Essentialisierung von Kultur, wenn diese einer bestimmten Gruppe zugeschrieben und vor fremder Aneignung geschützt werden soll? Die Schlüsselfrage ist aber, wie es gelingt, einer Hierarchisierung von Identitäten vorzubeugen, die alte Privilegien und Ungleichheiten fortschreibt oder neue erzeugt. Es geht also nicht um „Lifestyle“-Themen, sondern um Freiheit und Emanzipation.