Verdankt sich Umweltbewusstsein dem gekränkten Ego US-amerikanischer Militärpiloten? Vor sechzig Jahren sorgte ihr Protest dafür, dass Raumkapseln Sichtfenster bekamen. Die geschossenen Bilder formten unser Bewusstsein von der Verletzlichkeit des blauen Planeten. Heute beginnen Superreiche, sich diese Bilder zunutze zu machen.

  • Patrick Kilian

    Patrick Kilian ist Historiker und wurde an der Universität Zürich mit einer Arbeit über die Entwicklung der US-Raumfahrtmedizin während des Kalten Kriegs promoviert. Heute arbeitet er als Storyteller bei einer internationalen Unternehmensberatung. Er interessiert sich für Mensch-Maschine-Beziehungen und für die merkwürdigen Wege, auf denen Wissen in die Welt und den Weltraum kommt.

Blue Marble, aufge­nommen von Astro­naut Harrison Schmitt am 7. Dezember 1972; Quelle: nasa.gov

Am 7. Dezember 1972 blickte Harrison Schmitt durch den Sucher seiner 70-Millimeter-Hasselblad-Kamera und drückte ab. Vor seiner Linse befand sich unser Heimat­planet, der in 29.000 Kilo­me­tern Entfer­nung als blaue Murmel im tief­schwarzen Nichts des Welt­raums schwebte. Schmitt war zum Zeit­punkt dieser Moment­auf­nahme mit den Gedanken wahr­schein­lich längst woan­ders. Er befand sich mit Apollo 17 auf dem Weg zum Mond, den er vier Tage später als bislang letzter Mensch betreten würde. Bislang, denn aktuell arbeitet die NASA mit dem Artemis-Programm an einer Rück­kehr zum Mond. Spätes­tens 2028 soll es soweit sein, wenn die Technik und das Budget mitspielen. Mit seinem Schnapp­schuss aber traf Astro­naut Schmitt den Zeit­geist. Kurz nach der Veröf­fent­li­chung wurde die als „Blue Marble“ berühmt gewor­dene Foto­grafie von der aufkei­menden Umwelt­be­we­gung aufge­griffen und ging als Symbol für die Verletz­lich­keit und Schutz­be­dürf­tig­keit des Planeten Erde um die Welt.

Bereits seit 1966 hatte der Umwelt­ak­ti­vist Steward Brand die NASA zur Veröf­fent­li­chung eines solchen Fotos gedrängt. An Univer­si­täten verteilte er Buttons mit der Aufschrift „Why Haven’t We Seen A Photo­graph of the Whole Earth” um für seine Forde­rung zu werben. Gefragt, was diese Bilder ändern würden, antworte Brand, dass diese Fotos uns wie ein Spiegel zeigen würden, wo wir stehen und wer wir sind.

Earthrise, aufge­nommen am 24. Dezember 1967; Quelle: nasa.gov

Blue Marble war nicht die erste Ansicht der Erde aus dem Welt­raum. Bereits am Heiligen Abend 1968 war NASA-Astronaut William Anders ein ähnlich atem­be­rau­bender Schnapp­schuss gelungen. Dieser fasste den blauen Planeten im Kontrast zur unwirt­li­chen Krater­land­schaft des Monds ins Bild. „Earthrise“ landete dann auch auf dem Cover des von Brand heraus­ge­ge­benen Whole Earth Catalog, jener Bibel der US-amerikanischen Gegen­kultur, die von Steve Jobs als „Google im Paperback-Format“ gehul­digt wurde.

Die viel­fäl­tigen Effekte von „Earthrise“ und „Blue Marble“ auf unser Umwelt­be­wusst­sein wurden öfters hervor­ge­hoben. Bereits 1970 bemerkte der Philo­soph Günther Anders, dass „das entschei­dende Ereignis der Raum­flüge nicht in der Errei­chung der fernen Regionen des Welt­alls oder des fernen Mond­ge­ländes besteht, sondern darin, daß die Erde zum ersten Mal die Chance hat, sich selbst zu sehen, sich selbst so zu begegnen, wie sich bisher nur der im Spiegel sich reflek­tie­rende Mensch hatte begegnen können“. Eine Beob­ach­tung, die auch der Histo­riker Robert Poole teilt. 2008 diagnos­ti­zierte er in seinem Buch Earthrise: How Man First Saw Earth einen Wende­punkt, der unseren Fokus vom Sehn­suchtsort Welt­raum zurück auf die Erde verschob und unsere Aufmerk­sam­keit auf die Heraus­for­de­rungen vor unserer eigenen Haustür lenkte. Heraus­for­de­rungen, die heute drän­gender sind als jemals zuvor.

Um Aussicht kämpfen

Weniger bekannt ist aller­dings, dass es um ein Haar fast nicht zu diesen Foto­gra­fien gekommen wäre. Nicht weil die Astro­nauten zu langsam am Drücker waren, sondern weil die NASA-Ingenieure ursprüng­lich kein Fenster in die Raum­kap­seln einbauen wollten. Eine Entschei­dung, die einen hand­festen Konflikt mit den ersten Astro­nauten entfachte, die unbe­dingt nach einer Aussicht verlangten. In dieser Kontro­verse spie­gelt sich ein Wandel in der Bezie­hung zwischen Mensch und Maschine in der Raum­kapsel, der aus Piloten zunächst Astro­nauten und schließ­lich Foto­grafen machte.

Die Astro­nauten des Mercury-Programm; Quelle: wikipedia.org

Als die 1958 in Leben geru­fene National Aero­nau­tics and Space Admi­nis­tra­tion (kurz: NASA) das bemannte Raum­fahrt­pro­gramm „Mercury“ lancierte, war den Inge­nieuren eines klar: Fliegen würde die Raum­kapsel ein Auto­pilot und kein Astro­naut. Mehr als zehn Jahre Forschung hatten ergeben, dass Menschen zu langsam und zu unzu­ver­lässig waren, um mit den enormen Geschwin­dig­keiten und komplexen Kurs­be­rech­nungen eines Rake­ten­flugs mithalten zu können. Aus ihrer Sicht waren Astro­nauten ledig­lich Passa­giere, die es sicher in den Welt­raum und wieder zurück zur Erde zu bringen galt.

Die Inte­gra­tion eines Sicht­fens­ters, wie in Überschall-Jets, war daher nicht nur über­flüssig, sondern stellte auch ein zusätz­li­ches Risiko für die Stabi­lität dieser ohnehin schon extrem gewagten Unter­neh­mung dar. Um die Raum­kapsel gegen die enormen Druck- und Hitze­wir­kungen während des Starts und Wieder­ein­tritts in die Atmo­sphäre zu schützen, wollten sie jede zusätz­liche Schwach­stelle vermeiden. Eine gut gemeinte Absicht, die bei den auser­ko­renen Test­pi­loten aller­dings auf erbit­terten Wider­stand stieß.

Nichtstun

Der Moment, als die desi­gnierten Mercury-Astronauten zum ersten Mal auf die fens­ter­lose Raum­kapsel trafen, wurde 1983 in dem Oskar-prämierten Film The Right Stuff reinsze­niert. Die Szene zeigt das Unver­ständnis von Mili­tär­pi­loten, die plötz­lich ihrer Hand­lungs­macht als aktive Lenker ihres Schick­sals beraubt wurden. Sie fürch­teten von der US-amerikanischen Öffent­lich­keit nicht länger als todes­mu­tige Meister der Technik, sondern als Versuchs­ka­nin­chen wahr­ge­nommen zu werden. Um die Tech­niker unter Druck zu setzten, warfen sie ihr ganzes Gewicht als Medi­en­lieb­linge und Poster­boys des American Dream in die Waagschale.

Wie Tom Wolfe in der gleich­na­migen Roman­vor­lage des Hollywood-Epos darstellte, war die NASA gar nicht auf der Suche nach Drauf­gän­gern. „Was man brauchte“, so ein von Wolfe para­phra­sierter Psycho­loge aus Princeton, „wäre ein Mann, dessen Haupt­be­ga­bung das Nichtstun unter Stress“ war. Denn für die Wissen­schaftler und Inge­nieure war die Raum­kapsel ein voll­au­to­ma­ti­siertes System, in dem „der Astro­naut keinen Finger zu rühren brauchte“ – bezie­hungs­weise durfte. Eine Aussage, die in den Ohren der auser­ko­renen Mercury-Kadetten einem Affront gleichkam.

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Piloten, keine Dinosaurier

Bereits 1959 kam es zu laut­starkem Protest. Beim Jahres­treffen der ehrwür­digen Society of Expe­ri­mental Test Pilots in Los Angeles schäumte der gerade erst in den Kreis der „Mercury Seven“ aufge­nom­mene Donald „Deke“ Slayton vor Wut. „Ich kann es nicht ausstehen“, so der Air Force-Testpilot mit Kampf­erfah­rung, „wenn jemand behauptet, dass die Piloten von heute keinen Platz im Zeit­alter der Raum­fahrt haben […], wenn das wahr wäre, könnte der Flug­zeug­führer von heute sich in wenigen Jahren zu den Dino­sau­riern zählen“.

Virgil I. „Gus“ Grissom beim Einstieg in die „Liberty Bell 7“; Quelle: nasa.gov

Am Ende siegte der Bord­com­puter. Mit ihrem vehe­menten Kampf um ein Sicht­fenster waren die Astro­nauten aller­dings erfolg­reich. Ein symbo­li­sches Zuge­ständnis, das ihnen half zumin­dest in der Medi­en­öf­fent­lich­keit das Gesicht als aktive Piloten zu wahren. Beim ersten sech­zehn­mi­nü­tigen Subor­bi­tal­flug an der Grenze zum Welt­raum am 5. Mai 1961 verfügte Alan Shepard in „Freedom 7“ noch über kein zentrales Sicht­fenster. Aber als Vigil I. „Gus“ Grissom wenige Wochen später am 21. Juli des glei­chen Jahres von der Erde abhob, hatten die Inge­nieure seine „Liberty Bell 7“ endlich mit einem Fenster – und damit mit einem Ausblick – ausge­stattet. Seitdem sind Fenster ein zentraler Bestand­teil des Designs von Raum­kap­seln und Raum­sta­tionen, durch die Astro­nauten unsere Erde in den Blick nehmen können.

1,5 Millionen Fotos später

Für die Piloten boten die Fenster nicht nur Aussicht. Sie halfen ihnen maßgeb­lich, ihre neue Rolle als Astro­nauten zu finden. Um ihre Iden­tität als Kampf­pi­loten beraubt und zum Nichtstun verdammt, mussten sie sich neu erfinden. Wie der Harvard-Historiker Matthew Hersch 2012 in seinem Buch Inven­ting the American Astro­naut darstellt, verwan­delten sie sich allmäh­lich in Wissen­schaftler im Welt­raum. Sie führten Expe­ri­mente durch, sammelten Daten und beob­ach­teten. Und sie wurden begeis­terte Fotografen.

Allein während der Mercury- und Gemini-Missionen produ­zierten sie mehr als 2.500 Aufnahmen von der Erde. Die Besat­zungen von Apollo kehrten mit 11.000 Erd-Ansichten zurück. Und im Rahmen des Space-Shuttle-Programms entstanden 287.000 Ansichten von unserer Heimat. Insge­samt haben Astro­nauten bis heute etwa 1,5 Millionen Fotos von der Erde gemacht.

Astro­naut Chris Cassidy foto­gra­fiert die Erde von der Inter­na­tio­nalen Raum­sta­tion, Juni 2013

Ein Groß­teil davon entstand aus persön­li­cher Faszi­na­tion und war nicht Teil der offi­zi­ellen „Crew Earth Obser­va­tions“ (CEO) – einem Lang­zeit­pro­jekt, das die Verän­de­rungen der Erdober­fläche durch mensch­liche Einwir­kung wie beispiels­weise Urba­ni­sie­rung oder natür­liche Phäno­mene wie Hurri­canes, Über­schwem­mungen und Vulkan­aus­brüche doku­men­tiert und unter­sucht. Fest­zu­halten bleibt an dieser Stelle, dass die Unter­tei­lung der NASA in „anthro­po­gene“ und „natür­liche“ Verän­de­rungen ange­sichts der weit­rei­chenden Auswir­kungen mensch­li­cher Einfluss­nahme im Anthro­pozän etwas naiv erscheint.

Aber warum entwi­ckelten die Astro­nauten dies foto­gra­fi­sche Obses­sion von der Erde? Warum richten sie ihre Objek­tive nicht auf andere Himmels­körper und in die Weiten des Welt­alls? Aktu­elle Studien der NASA zum Verhalten und Wohl­be­finden der ISS-Besatzungen legen nahe, dass die Raum­fahrer das Foto­gra­fieren dazu nutzten, um mit der Heimat in Kontakt zu bleiben und Momente der gefühlten Einsam­keit zu meis­tern. Sie sind ebenso sehr Doku­mente einer Selbst­the­rapie wie Zeugen der drama­ti­schen Verän­de­rungen auf der Erde.

Ausblick

Durch die Fenster von Raum­schiffen wurden in den vergan­genen sechzig Jahren ganz verschie­dene Blicke geworfen. Sie zeigen einen Wandel des Typus Astro­naut, der sich vom mili­tä­ri­schen Kampf­pi­loten in einen beob­ach­tenden Wissen­schaftler verän­dert hat. Gegen­wärtig entsteht ein neuer Typus: der des super­rei­chen „Space Tourist“, der mit Hilfe der privaten Raum­fahrt­pro­gramme von Elon Musk (SpaceX), Jeff Bezos (Blue Origin) und Richard Branson (Virgin Galactic) zum Leben erweckt wurde.

Aussicht garan­tiert – Kabi­nen­ein­rich­tung der Virgin Galactic; Quelle: virgingalactic.com

Mit diesem neuen Typus verbinden sich auch ein neuer Blick und eine neue Form des Foto­gra­fie­rens im Orbit. Sie fügen das Welt­raum­er­lebnis ein in die digi­tale Selbst­in­sze­nie­rung von Insta­gram und Co, für die schon lange exklu­sive Erleb­nisse als ulti­ma­tives Status­symbol insze­niert und beein­dru­ckende Natur als Kulisse persön­li­cher Eitel­keit ausge­beutet wird. Der Welt­raum­tou­rismus treibt diese Entwick­lung nun auf die Spitze: „Ich sehe was, was du nicht siehst“ – und auch niemals so sehen wirst wie ich –, ist die Botschaft, die von den aktu­ellen Fotos aus dem Welt­raum ausgeht.

Blue Origin wirbt damit, dass jeder „Passa­gier seinen eigenen Fens­ter­platz für einen nie dage­we­senen Blick auf die Erde bekommt“, wobei die Fenster mehr als ein Drittel der Kapsel ausma­chen. Virgin Galactic hat seine Passa­gier­ka­bine mit sieb­zehn Fens­tern und sech­zehn fest­in­stal­lierten Kameras ausge­stattet, die pausenlos hoch­auf­lö­sende Bilder der Raum­schiff­be­sat­zung mit der Erde im Hinter­grund erzeugen. So versorgen sie die Space Tourists mit ausrei­chend Mate­rial, das „von den ersten Instagram-Posts bis hin zu einem schön geschnit­tenen und histo­risch bedeut­samen persön­li­chen Film“ alles abdeckt. Ein großer Spiegel bietet den Gästen außerdem die Möglich­keit sich selbst im Glanz der „natür­li­chen Leucht­kraft der Erde“ zu beobachten.

Raum­fahrt als kiti­schiger Traum der Super­rei­chen; Quelle: forbes.com

Das Zeit­alter des Welt­raum­tou­rismus ist gerade erst ange­bro­chen. Es steht jedoch zu befürchten, dass diese neuen Möglich­keiten sich drama­tisch auf unseren Blick und unser Verständnis von der Erde auswirken werden, auch wenn nur wenige an solchen Reisen teil­nehmen können. Während im 20. Jahr­hun­dert die Foto­gra­fien von US-amerikanischen Piloten und später von Forschern im Welt­raum unsere Fantasie anregten, sind es heute die Ausblicke von super­rei­chen Touristen, die unsere Imagi­na­tion davon bebil­dern, wo wir stehen und wer wird sind.