Die USA wurden und werden im Wahljahr – abgesehen von einem beispiellosen Wahlkampf – vom Tod von George Floyd, von den BLM-Protesten gegen Polizeigewalt und von der Corona-Krise aufgewühlt. Sie verbindet vor allem eines: Atemnot als Symptom einer strukturell rassistischen Gesellschaftsordnung.

  • Jürgen Martschukat

    Jürgen Martschukat ist Professor für nordamerikanische Geschichte an der Universität Erfurt. Er arbeitet vor allem über die Geschichte von Körpern, Gewalt, Geschlecht und Rassismus.

Am Abend des 25. Mai 2020 drückte der weiße Poli­zist Derek Michael Chauvin, unter­stützt von drei Kollegen, sein Knie acht Minuten und 46 Sekunden lang auf das Genick des auf dem Boden liegenden und an den Händen gefes­selten Afro­ame­ri­ka­ners George Floyd, bis dieser erstickte. „I can’t breathe“ hatte Floyd immer wieder gesagt. Protest­kund­ge­bungen und Ausschrei­tungen erfassten zunächst Minnea­polis, dann zahl­reiche weitere Städte in den gesamten USA und auch welt­weit. Wir wissen es bereits, doch es kann nicht oft genug gesagt werden: George Floyd ist nur einer von vielen African Ameri­cans, die zu Opfern von Poli­zei­ge­walt werden, die zudem nur sehr selten zur Anklage gebracht und juris­tisch verfolgt wird. Immer wieder ist es nach solchen Gewalt­taten zu Protesten gekommen. Doch dieses Mal sind die Proteste anhal­tender und sie scheinen noch grund­le­gender zu sein. In ihnen äußert sich offen­kundig noch mehr als der Zorn über und die perma­nente Angst vor Poli­zei­ge­walt. Sie richten sich zugleich gegen die dauer­hafte, viel­fäl­tige und alltäg­liche Diskri­mi­nie­rung von African Ameri­cans in der US-amerikanischen Gesell­schaft, deren Muster und immer wieder auch tödli­chen Folgen die Corona-Krise in aller Deut­lich­keit offen­bart. African Ameri­cans sind von der Epidemie deut­lich stärker betroffen. Atemnot, schreiben die Centers for Disease Control and Preven­tion des US-amerikanischen Gesund­heits­mi­nis­te­riums auf ihrer COVID-19-Informationsseite, ist Zeichen eines fort­ge­schrit­tenen und gefähr­li­chen Krank­heits­ver­laufes. George Floyds „I can’t breathe“ bringt wie kein anderer Satz auf den Punkt, dass die Benach­tei­li­gungen schwarzer Menschen in den USA zutiefst körper­lich sind und bisweilen darüber mitent­scheiden, wer leben darf und wer sterben muss. 

Quelle: abc.net

Es ist schwer, auf eine Krise wirk­lich gut vorbe­reitet zu sein. Schließ­lich weiß man nie genau, was kommen wird. Doch auch jenseits mangelnder Schutz­masken und fehlender Atem­ge­räte haben die USA in den letzten Jahr­zehnten alles getan, um als Gesell­schaft möglichst schlecht auf eine solche Krise einge­stellt zu sein. Über Jahr­zehnte hinweg sind die öffent­liche Infra­struktur und das soziale Sicher­heits­netz (so grob­ma­schig es auch immer war) abge­wi­ckelt worden. Versuche, der voll­stän­digen Ökono­mi­sie­rung des Gesund­heits­sys­tems entge­gen­zu­wirken und eine allge­meine und funk­tio­nie­rende Kran­ken­ver­si­che­rung einzu­führen, werden anhal­tend sabo­tiert. Unterm Strich steht eine zutiefst gespal­tene Gesell­schaft, die, so George Packer jüngst im Atlantic, mit einer korrupten Regie­rung und ohne natio­nale Koor­di­na­tion auf das Virus getroffen sei. Das seit Jahr­zehnten mantra­haft geprie­sene „self-government“ hat sich 2020 als voll­kommen dysfunk­tional erwiesen. Corona, betont Packer, habe Amerika nicht zerstört, aber doch offen­bart, was bereits zerstört war. 

„We are in this together“

Die USA sind mit 8.050.147 Infi­zierten und 218.599 Toten (Stand: 17.10.2020) das welt­weit am stärksten betrof­fene Land. Als sich das Virus in der zweiten März­woche 2020 mit Vehe­menz auszu­breiten begann, schien die Grund­stim­mung im Land zunächst von einem „we are in this toge­ther“ geprägt zu sein. Schließ­lich kann jeder Mensch – ob arm oder reich, queer oder straight, weib­lich oder männ­lich, weiß oder schwarz oder irgendwo zwischen all den Kate­go­rien – von dem Virus infi­ziert werden. Schon Anfang April nahm die Skepsis jedoch zu, und bald wurde deut­lich, dass das Virus alles andere als der große Gleich­ma­cher ist, sondern viel­mehr bestehende Ungleich­heiten in aller Konse­quenz sichtbar macht und reifi­ziert. Die volle Wucht der Krise trifft vor allem die Menschen, die immer hart an der Grenze zum roten Bereich agieren müssen, um zu über­leben; also dieje­nigen, die verschuldet sind und die Tilgungs­raten nicht mehr bedienen können oder deren Renten­er­spar­nisse sich im Zuge der Krise pulve­ri­sieren oder die ihre Jobs verlieren (so wie George Floyd) oder sich Heim­ar­beit nicht leisten können und trotz Erkran­kung zur Arbeit gehen. Social Distancing – z.B. Tele­ar­beit bezie­hungs­weise „Home Office“ zu betreiben oder den Liefer­ser­vice zu bestellen, statt ins Restau­rant zu gehen – ist ein Privileg, das häufig mit Haut­farbe und Herkunft korre­spon­diert. Wer bei Symptomen mit einem Hubschrauber in eines der besten Kran­ken­häuser des Landes geflogen und von einer Armada von Ärzt:innen behan­delt wird, kann relativ leicht sagen, man dürfe sein Leben nicht vom Virus domi­nieren lassen.

Quelle: icsi.org

Preka­rität und Armut sind zwar auch in den USA nicht mehr notwendig schwarz, und schwarz sein bedeutet nicht notwendig, arm zu sein, aber class und race sind doch sehr eng mitein­ander verknüpft. Inso­fern kann es letzt­lich kaum erstaunen, dass African Ameri­cans von Corona deut­lich über­pro­por­tional betroffen sind. Infektions- und Todes­raten unter schwarzen Amerikaner*innen sind mehr als doppelt so hoch wie unter weißen; ähnlich ist es bei Latin@s. Wohn-, Lern- und Arbeits­ver­hält­nisse werden als zentrale Faktoren genannt – insbe­son­dere in einer Gesell­schaft, in der die Qualität der Kran­ken­ver­si­che­rung und der Gesund­heits­ver­sor­gung eines Menschen so sehr vom Job und vom sozialem Status abhängt. Wenn also, wie Susan Sontag seit den 1970er Jahren wieder­holt argu­men­tierte, Krank­heit und Gesund­heit als Inter­pre­ta­ti­ons­modus für das Verhältnis der oder des Einzelnen zur Gesell­schaft fungieren, so zeigt Corona in den USA, dass dieses Verhältnis zutiefst klas­sis­tisch und rassis­tisch ist. 

Ökono­mi­sche Diskriminierung

Wer reich ist und über genü­gend Eigentum und Sicher­heiten verfügt, kommt zumeist gut oder zumin­dest besser durch die Krise. Kaum ein Faktor veran­kert die sozialen Diffe­renzen, die an Haut­farbe gekop­pelt sind, so nach­haltig in der US-amerikanischen Gesell­schaft, wie die Möglich­keiten bzw. Unmög­lich­keiten von African Ameri­cans, Eigentum zu bilden. Denn Unter­schiede im Eigentum sind größer und histo­risch stabiler als im Einkommen, weil sie über Gene­ra­tionen weiter­ge­geben werden. Während Afroamerikaner:innen gegen­wärtig ca. 13 % der US-amerikanischen Bevöl­ke­rung ausma­chen, besitzen sie weniger als 3 % der Eigen­tums­werte des Landes. Die Wahr­schein­lich­keit, dass eine schwarze Familie Eigentum im Wert von $ 1 Million anhäuft, ist über acht Mal geringer als bei einer weißen Familie. Oder anders herum aufge­zogen: Eine durch­schnitt­liche weiße Familie, die an der Armuts­grenze lebt, verfügt immer noch über Eigentum im Wert von ca. $ 18.000, während eine durch­schnitt­liche schwarze Familie an der Armuts­grenze nichts besitzt.

Diese Ungleich­heiten sind ein Effekt rassis­ti­scher Poli­tiken, die sich durch Jahr­hun­derte ziehen. Auch nach dem Ende der Skla­verei im Jahr 1865 wurde African Ameri­cans die Möglich­keit der Eigen­tums­bil­dung konstant vorent­halten oder erschwert. Dies begann mit dem niemals einge­lösten Verspre­chen, ehema­lige Sklav:innen mit 40 Acker Land und einem Maul­tier zu entschä­digen. Viel­mehr hielt man schwarze Farmer:innen in perma­nenter Abhän­gig­keit und trieb sie in die Verschul­dung, während man den Land­be­sitz weißer Farmers­fa­mi­lien mehr denn je förderte. Das Unrecht schrieb sich im späten 19. und frühen 20. Jahr­hun­dert in der Enteig­nung solcher African Ameri­cans fort, denen es nach dem Ende der Skla­verei gelungen war, gegen alle Widrig­keiten Eigentum zu bilden. Sie wurden durch eine Mischung von fehlender Rechts­si­cher­heit, exor­bi­tanter Besteue­rung und rassis­ti­scher Gewalt ihres Landes und anderen Eigen­tums beraubt und flohen aus dem ameri­ka­ni­schen Süden in den Norden und Westen des Landes.

Redli­ning: Die Karte der Home Owners‘ Loan Corpo­ra­tion von Brooklyn von 1938, Quelle: nytimes.com

Doch auch dort war rassis­ti­sche und ökono­mi­sche Diskri­mi­nie­rung eine etablierte Praxis. Das soge­nannte Redli­ning diente dazu, Wohn­be­zirke von Afroamerikaner:innen und ethni­schen Minder­heiten zu markieren und deren Bewohner:innen z.B. in der Kredit- und Wohn­ei­gen­tums­po­litik syste­ma­tisch zu benach­tei­ligen. Dies machte Eigen­tums­bil­dung fast unmög­lich. Ähnlich wirkte die GI Bill zur Reinte­gra­tion der Soldaten nach dem Zweiten Welt­krieg, die schwarze Vete­ranen von den gesetz­lich gewährten Privi­le­gien in der Ausbil­dung und Eigen­tums­bil­dung de facto ausschloss und so eine Ordnung segre­gierter Lebens­chancen festigte. Bis heute haben Grund­steu­er­erhö­hungen im Zuge von Gentri­fi­zie­rung und Immo­bi­li­en­spe­ku­la­tion immer wieder zu Zwangs­ent­eig­nungen und Eigen­tums­ver­lusten geführt. Auch prak­ti­zieren Banken und Versi­che­rungs­kon­zerne nach wie vor Formen des Redli­ning, die African Ameri­cans nicht mehr notwendig ausschließen, sondern auspressen. Die Histo­ri­kerin Keeanga-Yamahtta Taylor nennt das „preda­tory inclusion“.

Die anhal­tende Praxis der Eigen­tums­dis­kri­mi­nie­rung hat jüngst die Forde­rung nach Repa­ra­tionen für African Ameri­cans wieder aufleben lassen und bis in den US-Kongress geführt. Es geht dabei nicht nur um finan­zi­ellen Ausgleich (wie immer dieser aussehen könnte), sondern auch um die Aner­ken­nung des anhal­tenden Unrechts. Denn das Recht auf Eigen­tums­bil­dung ist als eines der mensch­li­chen Grund­rechte in der Ameri­ka­ni­schen Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung von 1776 fest­ge­halten. Nicht zuletzt dafür stand der „pursuit of happi­ness“ im zeit­ge­nös­si­schen Diskurs. In der Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung steht auch geschrieben, dass eine anhal­tende Verlet­zung der Rechte der Menschen einen Bruch des Gesell­schafts­ver­trags durch die Regie­rung bedeutet, und die Bevöl­ke­rung habe dann das Recht und sogar die Pflicht, diese Regie­rung zu stürzen.

Bruch des Gesellschaftsvertrags

Vor diesem Hinter­grund wirkt die Polizei tatsäch­lich wie eine Insti­tu­tion, die die gege­benen Unrechts­ver­hält­nisse aufrecht­erhält, wenn sie schwarze Männer (zumeist Männer, aber nicht nur) tötet, die sich z.B. im falschen Viertel aufhalten oder mit Falsch­geld bezahlen. Und die Justiz macht sich zu ihrem Kumpan, wenn sie die Über­griffe nicht verfolgt. Trevor Noah hat am 29. Mai 2020 in seiner Daily Social Distancing Show die Proteste und die Ausschrei­tungen als Reak­tionen auf den anhal­tenden Bruch des Gesell­schafts­ver­trages gegen­über African Ameri­cans durch Polizei und Justiz erklärt. Diese würden nicht-weiße Bürger:innen eben nur viel zu selten schützen und sich viel­mehr wie eine Besat­zungs­macht geben. Frei­lich reicht auch der Poli­zei­terror histo­risch weit zurück, bis zu den Patrouillen der Skla­verei oder zu den vielen brutalen Lynch­morden seit dem späteren 19. Jahr­hun­dert, bei denen Mitglieder von Polizei und Justiz den Mob eher anführten, als dessen Opfer zu schützen. Er mani­fes­tiert sich durch das 20. Jahr­hun­dert hindurch in der verbrei­teten Poli­zei­folter und -schi­kane. Heute treibt die Polizei vor allem schwarze Männer in ihrem Alltag in die perma­nente Flucht und in ein Leben in Atemnot, weil sie oft zumeist klei­nere Verfahren anhängig haben und wegen Zahlungs­säu­mig­keit, Drogen- oder Verkehrs­de­likten nicht Opfer des US-amerikanischen Gefäng­nis­sys­tems werden wollen. Und wer on the run ist, kann kein Zuhause und keine Familie aufbauen, keinen festen Job annehmen, keine Kran­ken­ver­sor­gung in den Notfall­zen­tren der Kran­ken­häuser in Anspruch nehmen, nicht sein Wahl­recht ausüben und schon gar nicht auf die Hilfe von Polizei und Justiz bauen, um Konflikte zu regeln.

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Quelle: www.independent.co.uk

Die Poli­zei­ge­walt, die Corona-Krise und die Verletz­bar­keit der afro­ame­ri­ka­ni­schen Commu­nity müssen zusam­men­ge­dacht werden. Gemeinsam führen sie vor, wie die rassis­ti­schen Struk­turen und Prak­tiken auf viel­fäl­tige Weise tödlich sein können. Die Proteste auf den Straßen sind nicht nur deshalb so wuchtig und anhal­tend, weil die Tötung George Floyds so grausam, so will­kür­lich und eine Vorfüh­rung poli­zei­li­chen Terrors im Gefühl souve­räner Macht war, sondern auch, weil sie mit der brutalen Offen­le­gung der rassis­tisch diskri­mi­nie­renden Gesell­schafts­ord­nung durch das Corona-Virus zusammenfällt. 

Atemnot, so könnte man sagen, ist für African Ameri­cans in den USA der Normal­zu­stand. In einer Zeit, in der sich der Präsi­dent des Landes als Hüter weißer Vorherr­schaft gebart, ist die Situa­tion noch weiter zuge­spitzt. Denn „White Supre­macy“, schreibt die COVID-19 Task Force des Center for the Study of Racism, Social Justice & Health der Univer­sity of Cali­fornia in Los Angeles, „is the most signi­fi­cant public health problem throug­hout the history of this country“.

 

Eine erste Version dieses Textes ist erschienen in: Michael Volkmer / Karin Werner (Hg.), Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspek­tiven für die Zukunft. Biele­feld: tran­script, 2020