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Die ‚huma­ni­täre Tradi­tion‘: Histo­ri­sche Anmer­kungen zu einem schil­lernden Begriff

Ange­sichts der nicht abreis­senden Flucht­be­we­gungen aus dem Nahen und Mitt­leren Osten berufen sich sowohl Befür­worter einer offenen Flücht­lings­po­litik als auch Anhänger eines restrik­tiven Vorge­hens auf die ‚huma­ni­täre Tradi­tion‘ der Schweiz. Während die einen an Mensch­lich­keit appel­lieren, um möglichst viele Flücht­linge aufzu­nehmen, verweisen andere mit Stolz auf diese Errun­gen­schaft, die nur durch Zurück­hal­tung bewahrt werden könne. Dabei handelt es sich um Argu­men­ta­ti­ons­muster, die seit den 1980er Jahren vermehrt in poli­ti­schen Debatten der Schweiz anzu­treffen sind. Im aktu­ellen Abstim­mungs­kampf über die Durch­set­zungs­in­itia­tive sind es mehr­heit­lich die Initia­tiv­gegner, die meist wenig reflek­tiert an die ‚huma­ni­täre Tradi­tion‘ der Schweiz appel­lieren. Wie sind diese sich ausschlies­senden Verwen­dungen möglich? Erklä­rungen bietet ein Blick in die noch junge Geschichte der Vorstel­lung, die Schweiz besitze eine ‚huma­ni­täre Tradi­tion‘. Sie führt uns insbe­son­dere in die Zeit des Zweiten Welt­kriegs und des Kalten Kriegs und in das Neben­ein­ander von offenen und restrik­tiven Posi­tionen inner­halb der Flüchtlingspolitik.

Die Begriffs­bil­dung ‚huma­ni­täre Tradi­tion‘ führt zurück in die Zeit des Zweiten Welt­kriegs, in der restrik­tive Posi­tionen vorherrschten. Es waren die Archi­tekten der Geis­tigen Landes­ver­tei­di­gung, die die ‚huma­ni­täre Tradi­tion‘ zu einer Art immer­wäh­rendem volks­ge­mein­schaft­li­chem Handeln der Schweiz stili­sierten. Auf dem so bezeich­neten ‚Höhenweg‘ der Landes­aus­stel­lung von 1939 in Zürich verkün­deten sie: „Die Schweiz als Zufluchtsort Vertrie­bener, das ist unsere edle Tradi­tion. Das ist nicht nur unser Dank an die Welt für den jahr­hun­derte langen Frieden, sondern auch beson­deres Aner­kennen der grossen Werte, die uns der heimat­lose Flücht­ling von jeher gebracht hat“. Die Realität aller­dings sah mit dem J-Stempel für jüdi­sche deut­sche Emigranten sowie dem Grund­satz, Flücht­linge aus ‚Rasse‘-Gründen nicht als poli­ti­sche Flücht­linge zu betrachten, völlig anders aus. Wenig später wurde mit dem Versuch der totalen Grenz­sperre diese repres­sive, ja menschen­ver­ach­tende Politik sogar noch verschärft.

Edouard Castres, Bourbaki-Panorama, 1881; Quelle: Wikipedia

Ebenso verkürzt wie verklä­rend ist es, aus den zahl­rei­chen Prak­tiken der Aufnahme von Einzel- und Grup­pen­flücht­lingen seit der Frühen Neuzeit, insbe­son­dere jedoch während des langen 19. Jahr­hun­derts, eine jahr­hun­dert­lange ‚huma­ni­täre Tradi­tion‘ zu konstru­ieren. Von einer einheit­li­chen schwei­ze­ri­schen Asyl­po­litik vor dem Ersten Welt­krieg kann nicht die Rede sein. Die Aufnahme von Flücht­lingen lag in der Kompe­tenz der Kantone, und diese besassen völlig unter­schied­liche, teil­weise sich wider­spre­chende Motive und Inter­essen, die sich in der konkreten Ausge­stal­tung der Flücht­lings­auf­nahme nieder­schlugen. Nahmen die einen protes­tan­ti­sche Glau­bens­flücht­linge oder poli­ti­sche Frei­heits­kämpfer auf, beher­bergten andere Geflo­hene der Fran­zö­si­schen Revo­lu­tion und Roya­listen. Gestärkt wurde der Ruf der Schweiz als ‚Hort der Mensch­lich­keit‘ im 19. Jahr­hun­dert nament­lich durch die Schaf­fung des Inter­na­tio­nalen Komi­tees vom Roten Kreuz (IKRK) 1863 in Genf. Als – so das idea­li­sierte Bild – unpar­tei­ische, neutrale und unab­hän­gige Orga­ni­sa­tion erschien und erscheint das IKRK wie keine andere Insti­tu­tion welt­weit als Garant ‚huma­ni­tärer Prin­zi­pien‘, und die Schweiz gleichsam als deren ‚Heimat‘.

Doch zurück ins mitt­lere Drittel des 20. Jahr­hun­derts. Die anti­se­mi­ti­sche Flücht­lings­po­litik der Schweiz zwischen 1933 und 1945 lässt sich nicht alleine durch äussere Faktoren, wie den Natio­nal­so­zia­lismus und den Zweiten Welt­krieg, verstehen, viel­mehr sie ist das Produkt einer genuin schwei­ze­ri­schen Bevöl­ke­rungs­po­litik. Diese verfolgte seit dem Ende des Ersten Welt­kriegs das erklärte Ziel, die Zuwan­de­rung in die Schweiz stark zu beschränken und durch eine ‚quali­ta­tive Auswahl‘ zu kontrol­lieren. Damit beauf­tragt war die im Jahre 1917 neu gegrün­dete Frem­den­po­lizei. Aufgrund vorge­stellter Bedro­hungs­lagen der Massen­zu­wan­de­rungen aus Osteu­ropa, der Angst vor dem Bolsche­wismus sowie tradierter Feind­bilder entwi­ckelte die Frem­den­po­lizei bald eine eigent­liche anti­jü­di­sche Fixie­rung. Diese Fixie­rung bestimmte die Niederlassungs- und Einbür­ge­rungs­po­litik zwischen 1918 und 1933 und prägte ebenso die Flücht­lings­po­litik nach der ‚Macht­er­grei­fung‘ der Natio­nal­so­zia­listen in Deutschland.

Quelle: watson.ch

Ziel der Bundes­be­hörden war es, nicht nur die Zahl der Flücht­linge so tief wie möglich zu halten, sondern deren dauer­haften Aufent­halt, wenn immer möglich, zu verhin­dern, indem man etwa die beruf­liche Inte­gra­tion erschwerte. Folge­richtig verstand sich die Schweiz zur Zeit des Natio­nal­so­zia­lismus als Transit- oder Durchgangs-, jedoch nicht als Aufnah­me­land. Um die Einwan­de­rung von Juden zu erschweren, drängten die Schweizer Behörden bei Verhand­lungen mit dem Deut­schen Reich 1938 darauf, dass die Pässe der ‚nicht-arischen‘ Bevöl­ke­rung im Reich wie erwähnt durch den J-Stempel kennt­lich zu machen seien.

Als der Schweizer Beob­achter die helve­ti­sche Mitver­ant­wor­tung für die Einfüh­rung des anti­se­mi­ti­schen J-Stempels 1954 publik machte und dadurch die schon während des Krieges viru­lente Kritik an der Flücht­lings­po­litik lauter wurde, beauf­tragte der Bundesrat den Basler Rechts­pro­fessor Karl Ludwig, einen Bericht zu verfassen. Ludwig legte die damals vorlie­genden Fakten offen und kriti­sierte auf diese Weise die offi­zi­elle Politik, ohne selbst scharf urteilen zu müssen. Die mit den durch den Ludwig-Bericht (Die Flücht­lings­po­litik der Schweiz seit 1933 bis zur Gegen­wart, 1957) ausge­lösten Debatten über grund­sätz­liche Fragen des Asyl­rechts passten gut zum neuen Zeit­geist des Anti­kom­mu­nismus, der sich als ‚Anti-Totalitarismus‘ verstand. Als im Spät­herbst 1956 und im Früh­jahr 1957 nach der Nieder­schla­gung des Aufstandes in Ungarn durch sowje­ti­sche Truppen Tausende in die Schweiz flüch­teten, reagierte die Schweiz ganz anders als noch wenige Jahre zuvor im Welt­krieg und nahm in unkom­pli­zierter Weise rasch Tausende von Flücht­lingen aus Ungarn auf.

Will­kom­mens­kultur 1956, Quelle: tageswoche.ch

Diese Wende in der schwei­ze­ri­schen Flücht­lings­po­litik war markant. Die NZZ, die 1938 noch davor warnte, zu viel „fremdes Holz“ einzu­führen, hielt am 10. November 1956 vor dem Eindruck der Flücht­linge aus Ungarn program­ma­tisch fest: „Im Namen der Mensch­lich­keit fordern wir, dass der Mensch­lich­keit die Bahn frei­ge­geben wird.“ Auch der Bundesrat zeigte sich mit der Aufnahme der unga­ri­schen Flücht­linge willens, nach aussen ein Zeichen zu setzten, das dazu beitragen sollte, die Flücht­lings­po­litik des Zweiten Welt­kriegs vergessen zu machen. Er gewährte den Flücht­lingen Blei­be­recht, solange es diese wünschten. Anders als in der Vergan­gen­heit sollte kein Druck zur Weiter­reise oder zur Heim­kehr ausgeübt werden. Bei einer Heim­reise würden die Kosten über­nommen, bei einer Weiter­reise diese mit dem Aufnah­me­land geteilt. Die Schweiz, die 1955 die Genfer Flücht­lings­kon­ven­tion von 1951 rati­fi­ziert hatte, verstand sich nun als Aufnah­me­land. Neue Wege ging der Bundesrat auch bei der beruf­li­chen Inte­gra­tion der Flücht­linge, die er so rasch wie möglich einzu­glie­dern suchte. Er betonte, dass die schwei­ze­ri­sche Asyl­praxis in der Vergan­gen­heit zu stark unter dem Einfluss der Frem­den­po­lizei stand. Doch nun müsse es darum gehen, „die Asyl­ge­wäh­rung nicht nur unter den Gesichts­punkten der Frem­den­po­lizei, sondern auch als huma­ni­täres und poli­ti­sches Problem von ausser­or­dent­li­cher Bedeu­tung“ zu behan­deln. Zusam­men­fas­send brachte der Bundesrat die flücht­lings­po­li­ti­schen Posi­tionen der Schweiz auf die Formel, dass die offene und gross­her­zige Aufnahme von Flücht­lingen nicht bloss „Tradi­tion“, sondern „staats­po­li­ti­sche Maxime“ der Schweiz sei.

Die im Februar 1957 formu­lierten „staats­po­li­ti­schen Maximen“, eine offene Asyl­praxis zu gewähr­leisten, traf ohne Zweifel auf die unga­ri­schen Flücht­linge zu. Doch in ihrem Schatten und vor dem Hinter­grund der Suez­krise im Herbst 1956 versuchte zur glei­chen Zeit eine im Vergleich zu den Ungarn kleine Gruppe von rund 200 jüdi­schen Flücht­lingen aus Ägypten in die Schweiz zu gelangen. Diese jüdi­schen Flücht­linge bekamen die tradi­tio­nelle restrik­tive Politik der Frem­den­po­lizei zu spüren. Der dama­lige Leiter der Frem­den­po­lizei Elmar Mäder infor­mierte den Präsi­denten des Schwei­ze­ri­schen Israe­li­ti­schen Gemein­de­bundes Georges Brunschvig, dass eine Einreise ägyptisch-jüdischer Flücht­ling genehm sei, sofern die Weiter­reise nach Israel gesi­chert werde und die Jewish Agency für die Reise­kosten von der Schweiz nach Israel aufkomme. Für den vorüber­ge­henden Aufent­halt müsse der Joint (American Jewish Joint Distri­bu­tion Committe) aufkommen, jene Orga­ni­sa­tion, die bereits während des Zweiten Welt­kriegs die Betreuung jüdi­scher Flücht­linge in der Schweiz mass­geb­lich mitfi­nan­ziert hatte. Wie während des Zweiten Welt­kriegs verstand sich die Schweiz für jüdi­sche Flücht­linge aus Ägypten nicht als Aufnahme-, sondern als Tran­sit­land und erklärte, dass einzelne Fami­lien aus „Über­frem­dungs­gründen uner­wünscht“ seien. Zudem mussten jüdi­sche Orga­ni­sa­tion die Kosten selbst tragen. Georges Brunschvig verlangte, dass die Schweiz, die jüdi­schen Flücht­linge aus Ägypten gleich behan­deln müsse wie unga­ri­sche Flücht­linge, doch Mäder entgeg­nete, „dass sich die Situa­tion nicht ganz verglei­chen lasse“. In der Folge entwi­ckelt sich ein jahre­lang dauernder Rechts­streit, indem die Bundes­be­hörden schliess­lich ihre anti­se­mi­ti­schen Posi­tionen über­dachten und aufgaben.

Mit diesem Beispiel soll nicht behauptet werden, dass die Schweiz zwischen 1956 und den 1980er Jahren nicht eine grund­sätz­lich offene Asyl­po­litik betrieben hätte. Doch sollte nicht vergessen werden, dass die Flücht­lings­po­litik stets mit gesell­schaft­li­chen, ökono­mi­schen und poli­ti­schen Oppor­tu­ni­täten verknüpft waren. Die restrik­tive Posi­tion der Behörden bekamen in der Folge vorerst Flücht­linge aus Chile oder Alge­rien zu spüren, während bei Tibe­tern, bei Tsche­chen und Slowaken ähnlich verfahren wurde, wie bei der Aufnahme unga­ri­scher Flüchtlinge.

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Der Blick zurück zeigt, dass die ‚huma­ni­täre Tradi­tion‘ eine Erfin­dung der Geis­tigen Landes­ver­tei­di­gung war, und zwar als diskur­sives Gegen­stück zu einer restrik­tiven Flücht­lings­praxis. Bei der infla­tio­nären, zuweilen völlig unkri­ti­schen Verwen­dung des poli­ti­schen Schlag­worts tut man gut daran, sich die Genese zu verge­gen­wär­tigen. Mehr Vorsicht wäre auch bei den Schlag­wör­tern ‚offene Grenzen‘, und ‚Asyl­tra­di­tion des 19. Jahr­hun­derts‘ geboten.