Befürworter wie Gegner einer restriktiven Flüchtlingspolitik berufen sich auf die ‚humanitäre Tradition‘ der Schweiz. Zu Recht? Ein Blick in die kurze Geschichte dieser ‚Tradition‘ klärt auf.

  • Patrick Kury

    Patrick Kury ist Historiker und unterrichtet an den Universitäten Luzern und Bern. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zur jüdischen Geschichte, zur Geschichte der Migration und der Konstruktion nationaler Identitäten.

Ange­sichts der nicht abreis­senden Flucht­be­we­gungen aus dem Nahen und Mitt­leren Osten berufen sich sowohl Befür­worter einer offenen Flücht­lings­po­litik als auch Anhänger eines restrik­tiven Vorge­hens auf die ‚huma­ni­täre Tradi­tion‘ der Schweiz. Während die einen an Mensch­lich­keit appel­lieren, um möglichst viele Flücht­linge aufzu­nehmen, verweisen andere mit Stolz auf diese Errun­gen­schaft, die nur durch Zurück­hal­tung bewahrt werden könne. Dabei handelt es sich um Argu­men­ta­ti­ons­muster, die seit den 1980er Jahren vermehrt in poli­ti­schen Debatten der Schweiz anzu­treffen sind. Im aktu­ellen Abstim­mungs­kampf über die Durch­set­zungs­in­itia­tive sind es mehr­heit­lich die Initia­tiv­gegner, die meist wenig reflek­tiert an die ‚huma­ni­täre Tradi­tion‘ der Schweiz appel­lieren. Wie sind diese sich ausschlies­senden Verwen­dungen möglich? Erklä­rungen bietet ein Blick in die noch junge Geschichte der Vorstel­lung, die Schweiz besitze eine ‚huma­ni­täre Tradi­tion‘. Sie führt uns insbe­son­dere in die Zeit des Zweiten Welt­kriegs und des Kalten Kriegs und in das Neben­ein­ander von offenen und restrik­tiven Posi­tionen inner­halb der Flüchtlingspolitik.

Die Begriffs­bil­dung ‚huma­ni­täre Tradi­tion‘ führt zurück in die Zeit des Zweiten Welt­kriegs, in der restrik­tive Posi­tionen vorherrschten. Es waren die Archi­tekten der Geis­tigen Landes­ver­tei­di­gung, die die ‚huma­ni­täre Tradi­tion‘ zu einer Art immer­wäh­rendem volks­ge­mein­schaft­li­chem Handeln der Schweiz stili­sierten. Auf dem so bezeich­neten ‚Höhenweg‘ der Landes­aus­stel­lung von 1939 in Zürich verkün­deten sie: „Die Schweiz als Zufluchtsort Vertrie­bener, das ist unsere edle Tradi­tion. Das ist nicht nur unser Dank an die Welt für den jahr­hun­derte langen Frieden, sondern auch beson­deres Aner­kennen der grossen Werte, die uns der heimat­lose Flücht­ling von jeher gebracht hat“. Die Realität aller­dings sah mit dem J-Stempel für jüdi­sche deut­sche Emigranten sowie dem Grund­satz, Flücht­linge aus ‚Rasse‘-Gründen nicht als poli­ti­sche Flücht­linge zu betrachten, völlig anders aus. Wenig später wurde mit dem Versuch der totalen Grenz­sperre diese repres­sive, ja menschen­ver­ach­tende Politik sogar noch verschärft.

Edouard Castres, Bourbaki-Panorama, 1881; Quelle: Wikipedia

Edouard Castres, Bourbaki-Panorama, 1881; Quelle: Wikipedia

Ebenso verkürzt wie verklä­rend ist es, aus den zahl­rei­chen Prak­tiken der Aufnahme von Einzel- und Grup­pen­flücht­lingen seit der Frühen Neuzeit, insbe­son­dere jedoch während des langen 19. Jahr­hun­derts, eine jahr­hun­dert­lange ‚huma­ni­täre Tradi­tion‘ zu konstru­ieren. Von einer einheit­li­chen schwei­ze­ri­schen Asyl­po­litik vor dem Ersten Welt­krieg kann nicht die Rede sein. Die Aufnahme von Flücht­lingen lag in der Kompe­tenz der Kantone, und diese besassen völlig unter­schied­liche, teil­weise sich wider­spre­chende Motive und Inter­essen, die sich in der konkreten Ausge­stal­tung der Flücht­lings­auf­nahme nieder­schlugen. Nahmen die einen protes­tan­ti­sche Glau­bens­flücht­linge oder poli­ti­sche Frei­heits­kämpfer auf, beher­bergten andere Geflo­hene der Fran­zö­si­schen Revo­lu­tion und Roya­listen. Gestärkt wurde der Ruf der Schweiz als ‚Hort der Mensch­lich­keit‘ im 19. Jahr­hun­dert nament­lich durch die Schaf­fung des Inter­na­tio­nalen Komi­tees vom Roten Kreuz (IKRK) 1863 in Genf. Als – so das idea­li­sierte Bild – unpar­tei­ische, neutrale und unab­hän­gige Orga­ni­sa­tion erschien und erscheint das IKRK wie keine andere Insti­tu­tion welt­weit als Garant ‚huma­ni­tärer Prin­zi­pien‘, und die Schweiz gleichsam als deren ‚Heimat‘.

Doch zurück ins mitt­lere Drittel des 20. Jahr­hun­derts. Die anti­se­mi­ti­sche Flücht­lings­po­litik der Schweiz zwischen 1933 und 1945 lässt sich nicht alleine durch äussere Faktoren, wie den Natio­nal­so­zia­lismus und den Zweiten Welt­krieg, verstehen, viel­mehr sie ist das Produkt einer genuin schwei­ze­ri­schen Bevöl­ke­rungs­po­litik. Diese verfolgte seit dem Ende des Ersten Welt­kriegs das erklärte Ziel, die Zuwan­de­rung in die Schweiz stark zu beschränken und durch eine ‚quali­ta­tive Auswahl‘ zu kontrol­lieren. Damit beauf­tragt war die im Jahre 1917 neu gegrün­dete Frem­den­po­lizei. Aufgrund vorge­stellter Bedro­hungs­lagen der Massen­zu­wan­de­rungen aus Osteu­ropa, der Angst vor dem Bolsche­wismus sowie tradierter Feind­bilder entwi­ckelte die Frem­den­po­lizei bald eine eigent­liche anti­jü­di­sche Fixie­rung. Diese Fixie­rung bestimmte die Niederlassungs- und Einbür­ge­rungs­po­litik zwischen 1918 und 1933 und prägte ebenso die Flücht­lings­po­litik nach der ‚Macht­er­grei­fung‘ der Natio­nal­so­zia­listen in Deutschland.

Quelle: watson.ch

Quelle: watson.ch

Ziel der Bundes­be­hörden war es, nicht nur die Zahl der Flücht­linge so tief wie möglich zu halten, sondern deren dauer­haften Aufent­halt, wenn immer möglich, zu verhin­dern, indem man etwa die beruf­liche Inte­gra­tion erschwerte. Folge­richtig verstand sich die Schweiz zur Zeit des Natio­nal­so­zia­lismus als Transit- oder Durchgangs-, jedoch nicht als Aufnah­me­land. Um die Einwan­de­rung von Juden zu erschweren, drängten die Schweizer Behörden bei Verhand­lungen mit dem Deut­schen Reich 1938 darauf, dass die Pässe der ‚nicht-arischen‘ Bevöl­ke­rung im Reich wie erwähnt durch den J-Stempel kennt­lich zu machen seien.

Als der Schweizer Beob­achter die helve­ti­sche Mitver­ant­wor­tung für die Einfüh­rung des anti­se­mi­ti­schen J-Stempels 1954 publik machte und dadurch die schon während des Krieges viru­lente Kritik an der Flücht­lings­po­litik lauter wurde, beauf­tragte der Bundesrat den Basler Rechts­pro­fessor Karl Ludwig, einen Bericht zu verfassen. Ludwig legte die damals vorlie­genden Fakten offen und kriti­sierte auf diese Weise die offi­zi­elle Politik, ohne selbst scharf urteilen zu müssen. Die mit den durch den Ludwig-Bericht (Die Flücht­lings­po­litik der Schweiz seit 1933 bis zur Gegen­wart, 1957) ausge­lösten Debatten über grund­sätz­liche Fragen des Asyl­rechts passten gut zum neuen Zeit­geist des Anti­kom­mu­nismus, der sich als ‚Anti-Totalitarismus‘ verstand. Als im Spät­herbst 1956 und im Früh­jahr 1957 nach der Nieder­schla­gung des Aufstandes in Ungarn durch sowje­ti­sche Truppen Tausende in die Schweiz flüch­teten, reagierte die Schweiz ganz anders als noch wenige Jahre zuvor im Welt­krieg und nahm in unkom­pli­zierter Weise rasch Tausende von Flücht­lingen aus Ungarn auf.

Willkommenskultur 1956, Quelle: tageswoche.ch

Will­kom­mens­kultur 1956, Quelle: tageswoche.ch

Diese Wende in der schwei­ze­ri­schen Flücht­lings­po­litik war markant. Die NZZ, die 1938 noch davor warnte, zu viel „fremdes Holz“ einzu­führen, hielt am 10. November 1956 vor dem Eindruck der Flücht­linge aus Ungarn program­ma­tisch fest: „Im Namen der Mensch­lich­keit fordern wir, dass der Mensch­lich­keit die Bahn frei­ge­geben wird.“ Auch der Bundesrat zeigte sich mit der Aufnahme der unga­ri­schen Flücht­linge willens, nach aussen ein Zeichen zu setzten, das dazu beitragen sollte, die Flücht­lings­po­litik des Zweiten Welt­kriegs vergessen zu machen. Er gewährte den Flücht­lingen Blei­be­recht, solange es diese wünschten. Anders als in der Vergan­gen­heit sollte kein Druck zur Weiter­reise oder zur Heim­kehr ausgeübt werden. Bei einer Heim­reise würden die Kosten über­nommen, bei einer Weiter­reise diese mit dem Aufnah­me­land geteilt. Die Schweiz, die 1955 die Genfer Flücht­lings­kon­ven­tion von 1951 rati­fi­ziert hatte, verstand sich nun als Aufnah­me­land. Neue Wege ging der Bundesrat auch bei der beruf­li­chen Inte­gra­tion der Flücht­linge, die er so rasch wie möglich einzu­glie­dern suchte. Er betonte, dass die schwei­ze­ri­sche Asyl­praxis in der Vergan­gen­heit zu stark unter dem Einfluss der Frem­den­po­lizei stand. Doch nun müsse es darum gehen, „die Asyl­ge­wäh­rung nicht nur unter den Gesichts­punkten der Frem­den­po­lizei, sondern auch als huma­ni­täres und poli­ti­sches Problem von ausser­or­dent­li­cher Bedeu­tung“ zu behan­deln. Zusam­men­fas­send brachte der Bundesrat die flücht­lings­po­li­ti­schen Posi­tionen der Schweiz auf die Formel, dass die offene und gross­her­zige Aufnahme von Flücht­lingen nicht bloss „Tradi­tion“, sondern „staats­po­li­ti­sche Maxime“ der Schweiz sei.

Die im Februar 1957 formu­lierten „staats­po­li­ti­schen Maximen“, eine offene Asyl­praxis zu gewähr­leisten, traf ohne Zweifel auf die unga­ri­schen Flücht­linge zu. Doch in ihrem Schatten und vor dem Hinter­grund der Suez­krise im Herbst 1956 versuchte zur glei­chen Zeit eine im Vergleich zu den Ungarn kleine Gruppe von rund 200 jüdi­schen Flücht­lingen aus Ägypten in die Schweiz zu gelangen. Diese jüdi­schen Flücht­linge bekamen die tradi­tio­nelle restrik­tive Politik der Frem­den­po­lizei zu spüren. Der dama­lige Leiter der Frem­den­po­lizei Elmar Mäder infor­mierte den Präsi­denten des Schwei­ze­ri­schen Israe­li­ti­schen Gemein­de­bundes Georges Brunschvig, dass eine Einreise ägyptisch-jüdischer Flücht­ling genehm sei, sofern die Weiter­reise nach Israel gesi­chert werde und die Jewish Agency für die Reise­kosten von der Schweiz nach Israel aufkomme. Für den vorüber­ge­henden Aufent­halt müsse der Joint (American Jewish Joint Distri­bu­tion Committe) aufkommen, jene Orga­ni­sa­tion, die bereits während des Zweiten Welt­kriegs die Betreuung jüdi­scher Flücht­linge in der Schweiz mass­geb­lich mitfi­nan­ziert hatte. Wie während des Zweiten Welt­kriegs verstand sich die Schweiz für jüdi­sche Flücht­linge aus Ägypten nicht als Aufnahme-, sondern als Tran­sit­land und erklärte, dass einzelne Fami­lien aus „Über­frem­dungs­gründen uner­wünscht“ seien. Zudem mussten jüdi­sche Orga­ni­sa­tion die Kosten selbst tragen. Georges Brunschvig verlangte, dass die Schweiz, die jüdi­schen Flücht­linge aus Ägypten gleich behan­deln müsse wie unga­ri­sche Flücht­linge, doch Mäder entgeg­nete, „dass sich die Situa­tion nicht ganz verglei­chen lasse“. In der Folge entwi­ckelt sich ein jahre­lang dauernder Rechts­streit, indem die Bundes­be­hörden schliess­lich ihre anti­se­mi­ti­schen Posi­tionen über­dachten und aufgaben.

Mit diesem Beispiel soll nicht behauptet werden, dass die Schweiz zwischen 1956 und den 1980er Jahren nicht eine grund­sätz­lich offene Asyl­po­litik betrieben hätte. Doch sollte nicht vergessen werden, dass die Flücht­lings­po­litik stets mit gesell­schaft­li­chen, ökono­mi­schen und poli­ti­schen Oppor­tu­ni­täten verknüpft waren. Die restrik­tive Posi­tion der Behörden bekamen in der Folge vorerst Flücht­linge aus Chile oder Alge­rien zu spüren, während bei Tibe­tern, bei Tsche­chen und Slowaken ähnlich verfahren wurde, wie bei der Aufnahme unga­ri­scher Flüchtlinge.

Sie können uns unter­stützen, indem Sie diesen Artikel teilen: 

Der Blick zurück zeigt, dass die ‚huma­ni­täre Tradi­tion‘ eine Erfin­dung der Geis­tigen Landes­ver­tei­di­gung war, und zwar als diskur­sives Gegen­stück zu einer restrik­tiven Flücht­lings­praxis. Bei der infla­tio­nären, zuweilen völlig unkri­ti­schen Verwen­dung des poli­ti­schen Schlag­worts tut man gut daran, sich die Genese zu verge­gen­wär­tigen. Mehr Vorsicht wäre auch bei den Schlag­wör­tern ‚offene Grenzen‘, und ‚Asyl­tra­di­tion des 19. Jahr­hun­derts‘ geboten.