Spricht Björn Höcke wie Adolf Hitler? ZDF-Journalisten haben sich darüber mit dem Thüringer AfD-Chef gestritten. Aber welche Rolle spielten Begriffe wie „Lebensraum“ und „Entartung“ für den Nationalsozialismus überhaupt? Und was lässt sich heute an ihnen erkennen? Eine Einordnung.

Die Idee war nicht neu. Zwei Jahre ist es her, da veröf­fent­lichte das Online­ma­gazin Vice auf seiner Webseite ein Quiz, bei dem die Spieler insge­samt 12 Zitate ihren Urhe­bern zuordnen sollen: „Wer hat’s gesagt, Höcke oder Hitler?“ Vor zwei Wochen hat dann ein Fern­seh­team des ZDF dieses Spiel mit zwei Bundes­tags­ab­ge­ord­neten der Alter­na­tive für Deutsch­land gespielt und deren Antworten in einem Inter­view Björn Höcke vorge­spielt – mit erwart­barem Ergebnis: Die beiden Abge­ord­neten erkannten das ihnen vorge­legte Zitat des Thüringer AfD-Chefs und Vorsit­zenden der rechts­ra­di­kalen Partei­grup­pie­rung „Der Flügel“ nicht; sie tippten eher auf Adolf Hitler. Danach gefragt, wie es denn sein könne, dass selbst seine Partei­freunde im Bundestag nicht in der Lage seien, sein Zitat zu erkennen, geriet Höcke ins Rudern, schwa­dro­nierte über vermeint­liche Bedeu­tungen von Begriffen wie „Entar­tung“ und „Lebens­raum“. Schließ­lich brachen er und sein Pres­se­spre­cher das Inter­view („stark emotio­na­li­siert“) ab.

Als das ZDF das Inter­view veröf­fent­lichte, war die Scha­den­freude über das geplatzte Inter­view groß. Das Gespräch selbst hingegen hielt kaum etwas Inter­es­santes bereit, bis auf den einen Moment noch zu Beginn des Inter­views, als sich Björn Höcke mit den Worten verteidigte:

„Ja, was ist alles NS? Wer defi­niert, was NS ist? Ich glaube nicht, dass es eine allge­mein gültige Defi­ni­tion dessen gibt, was NS-Diktion, was NS-Sprache ist. Ich glaube keiner, der einen gewissen, auch wissen­schaft­li­chen Anspruch hat, würde sich zutrauen, zu sagen, das ist jetzt NS-Sprache.“

Ist das tatsäch­lich so? Lässt sich wirk­lich nicht defi­nieren, wann eine Sprache „natio­nal­so­zia­lis­tisch“ ist? Und wenn dies so wäre: Bedeutet dies, dass „Entar­tung“ und „Lebens­raum“ eigent­lich neutrale Begriffe sind, wie Höcke meinte – vom „Lebens­raum der Rotmi­lanen“ werde ja auch gesprochen.

Unscharfes Denken

Nun: Ja und nein. Die Sache ist kompli­ziert. Spielen wir doch selbst einmal das Spiel: „Der Mensch ist schlecht. Zu dem, was wir unter gege­benen Verhält­nissen gut nennen, machen den Menschen erst Auslese und Erzie­hung. Auslese, Erzie­hung und Ausmerze sind die Maßnahmen, die in Zukunft die Strafe im Wesent­li­chen ersetzen werden.“ Wer hat es nun gesagt, Höcke oder Hitler? Die Antwort lautet: keiner von beiden. Das Zitat stammt von Fritz Dehnow, einem Rechts­an­walt, der in der Weimarer Repu­blik als Essayist und Schrift­steller verschie­dene Vorschläge für ein libe­rales Straf­recht unter­brei­tete, bevor er als „Jude“ 1933 seine Arbeit als Rechts­an­walt verlor und 1936 aus Deutsch­land floh. Dass sich das Zitat dennoch gut in die Reihe der Aussagen einfügt, die Vice für sein Quiz zusam­men­stellte, veran­schau­licht einen Umstand, den die Ideen­ge­schichte zum Natio­nal­so­zia­lismus schon lange kennt. Ob man biolo­gis­ti­sche Kate­go­rien wie „Auslese“ oder „Ausmerze“, den Begriff des „Lebens­raums“, um den Höcke und die ZDF-Journalisten stritten, oder andere welt­an­schau­liche Kate­go­rien und Konzepte des Natio­nal­so­zia­lismus nimmt: eine „natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Welt­an­schauung“ im Sinne eines eigen­stän­digen Denk­sys­tems lässt sich hinter ihnen nicht ausmachen.

Erstens war nichts von diesem welt­an­schau­li­chen Denken exklusiv für die NS-Bewegung, oder in ihr erfunden worden, sondern weit verbreitet in der natio­na­lis­ti­schen Rechten der Weimarer Repu­blik (und auch jenseits von ihr). Und zwei­tens weist dieses Denken mit seinen vielen Konzepten und Begriffen zugleich in so viele unter­schied­liche Rich­tungen, dass es sich nicht zu einer Einheit zusam­men­fügt. Das welt­an­schau­liche Denken des Natio­nal­so­zia­lismus war nicht geprägt durch ein eindeu­tiges und struk­tu­riertes Set an Ideen, zu dem sich heutige poli­ti­sche Aussagen anhand von bestimmten Formu­lie­rungen in eine klare Nähe oder Distanz setzen lassen. Es war bestimmt durch schlag­wort­hafte Unschärfe, die den poli­ti­schen Aufstieg der NS-Bewegung während der Weimarer Repu­blik entschei­dend förderte; erst durch sie konnte die NSDAP zum Sammel­be­cken für ganz unter­schied­liche Wähler­gruppen werden.

Natio­nal­so­zia­listen erkennen oder verstehen

Natio­nal­so­zia­listen waren deshalb schon während der Weimarer Repu­blik nicht an ihrem Denken oder den ideo­lo­gi­schen Worten verläss­lich zu iden­ti­fi­zieren, die sie gebrauchten. Sie waren in diesem Sinne nicht zu verstehen – aber sie waren öffent­lich als Natio­nal­so­zia­listen zu erkennen. Denn worüber die NS-Bewegung sehr wohl verfügte, war eine eindeu­tige Symbol­sprache: die braunen Uniformen, die die Mitglied­schaft in SA oder NSDAP anzeigten; die Haken­kreuz­fahne, die Nazis aus ihren Fens­tern hängten; poli­ti­sche Prak­tiken wie die soge­nannten „Propa­gan­da­mär­sche“, mit denen die NS-Bewegung eine eigene Demons­tra­ti­ons­form erfand. Nicht an ihren Worten, an ihrem Auftreten waren die Natio­nal­so­zia­listen zu erkennen. Der Histo­riker Per Leo hat diesen Umstand einmal in eine einpräg­same Wendung gefasst: „Natio­nal­so­zia­list sein hieß, sich als ‚Nazi‘ zeigen“. Genau deshalb fiel es  poli­ti­schen Beob­ach­tern während der Weimarer Repu­blik nicht schwer, die Natio­nal­so­zia­listen von anderen poli­ti­schen Akteuren zu unter­scheiden, aber sehr wohl zu bestimmen, was diese eigent­lich dachten.

Als dann im Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichs­kanzler ernannt wurde, entfal­tete das span­nungs­reiche Verhältnis von Erkennen und Verstehen eine ganz neue Bedeu­tung: Mit seinem umfas­senden Macht­an­spruch verdrängte das NS-Regime in kurzer Zeit und mit massiver Gewalt jegli­chen anderen poli­ti­schen Stand­punkt aus dem öffent­li­chen Raum. Ob in den Massen­me­dien, auf wissen­schaft­li­chen Kongressen oder in den Versamm­lungen von Kanin­chen­züch­tern und sons­tigen Vereinen: überall sollten nur noch solche Personen auftreten und Funk­tionen tragen, die sich offen zu dem neuen Regime bekannten, und das hieß eben gerade: sich als Natio­nal­so­zia­list zu zeigen.

Worte im natio­nal­so­zia­lis­ti­schen „Welt­an­schau­ungs­feld“ 1933-1945

Auch nach 1933 bedeu­tete dies vor allem sich eine bestimmte Symbol­sprache zu eigenen zu machen und diese schloss nun neben Uniform und Haken­kreuz­fahne auch bestimmte Worte ein: In einer Situa­tion, in der das Adjektiv „natio­nal­so­zia­lis­tisch“ nicht mehr eine poli­ti­sche Posi­tion neben anderen kenn­zeich­nete, sondern die Norm für dasje­nige, was öffent­lich gesagt werden konnte, wurden auch Begriffe zu „Etiketten“, die man sich anheften konnte, um als Natio­nal­so­zia­list erkennbar zu sein. Welchen grund­le­genden Effekt dies für die „natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Welt­an­schauung“ hatte, erläu­terte der Histo­riker Lutz Raphael schon vor 20 Jahren mit einer hilf­rei­chen Meta­pher. Statt von NS-Ideologie spricht er für die Jahre von 1933 bis 1945 von einem „Welt­an­schau­ungs­feld“, das „poli­tisch kontrol­liert“ war, aber intel­lek­tuell offen. Fest­ge­legt war dieses Feld nicht auf konkrete Ideen, sondern auf bestimmte Begriffe – Volk, Führer, Nation, Rasse, Lebens­raum, Gemein­schaft –, deren Bedeu­tung weit­ge­hend unklar war. Sie luden dazu ein, sich selbst Gedanken zu ihrer Bedeu­tung zu machen, was gerade für die Mobi­li­sie­rung von Wissen­schaften und Intel­lek­tu­ellen nach 1933 entschei­dend war: Sie stritten intensiv darüber, was die Kern­be­griffe des Natio­nal­so­zia­lismus eigent­lich bedeuten sollten und formu­lierten damit auch inner­halb der kontrol­lierten Öffent­lich­keit der NS-Diktatur sehr unter­schied­liche poli­ti­sche oder philo­so­phi­sche Vorstel­lungen. Anders als viele heute noch immer glauben, zwang das NS-Regime der deut­schen Gesell­schaft nicht eine Ideo­logie auf, sondern eine bestimmte Sprache. In ihr konnte nicht mehr alles gesagt werden. Das Feld hatte klare Grenzen, die mit Poli­zei­ge­walt bewacht wurden. Trotzdem blieb ein breites Spek­trum unter­schied­li­cher Posi­tionen formulierbar.

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Entna­zi­fi­zierte Sprache und vereindeu­tigte NS-Begriffe

Versucht man also defi­ni­to­risch zu greifen, was die Sprache des Natio­nal­so­zia­lismus war, steht man vor einem Problem: Zwar lassen sich durchaus bestimmte Begriffe und Formu­lie­rungen ausma­chen, die das Spre­chen im Natio­nal­so­zia­lismus prägten. Aber diese Sprache war gerade nicht in dem Sinne „natio­nal­so­zia­lis­tisch“, dass sie an eindeu­tige Denk­in­halte geknüpft war, derer man heute Björn Höcke und andere über­führen will, wenn man ihnen ihre Ähnlich­keiten zur Sprache von Hitler und Co. vorhält.  Ist  es also kein Problem, Worte, wie „Lebens­raum“, oder „Entar­tung“ zu verwenden? Handelt es sich um ganz normale, neutrale Begriffe? Natür­lich nicht. Aber dies zeigt sich weniger durch den Blick in die Vergan­gen­heit, als entlang der Frage, was es heute heißt, mit ihnen zu spre­chen. So viel­deutig die Sprache des Natio­nal­so­zia­lismus bis zu seinem Ende war, so sehr verän­derte und vereindeu­tigte sich die Bedeu­tung vieler ihrer Worte nach 1945, indem ihnen die massive Gewalt einge­schrieben wurde, die die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Herr­schaft entfes­selte. „Ausmerzen“ etwa mochte in der Weimarer Repu­blik noch ein meta­pho­ri­sches Wort gewesen sein, das eine beson­ders entschlos­sene und grund­sätz­liche Heran­ge­hens­weise an ein Problem meinen konnte. Nach den natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Massen­morden an Juden und Sinti und Roma, an den sowje­ti­schen Kriegs­ge­fan­genen, Behin­derten und an anderen Menschen war unüber­sehbar, dass der Begriff ganz wört­lich verstanden werden musste: als Bezeich­nung für syste­ma­ti­sches Töten.

Dieses Einschreiben der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Gewalt in einzelne Begriffe war Teil der Bemü­hungen nach 1945, zu einer poli­ti­schen Sprache zurück­zu­finden, mit der sich unter­schied­liche poli­ti­sche Stand­punkte auch wieder an einzelnen Worten zeigen konnten und die in Distanz zum Natio­nal­so­zia­lismus stand. Diese Entste­hung einer „entna­zi­fi­zierten Sprache“ war ein schwie­riger Akt, bei dem sich ange­sichts der viel­fäl­tigen Verflech­tungen ganz unter­schied­li­cher Worte und Ideen im Welt­an­schau­ungs­feld des Natio­nal­so­zia­lismus kein klarer Schnitt machen ließ. Viel­mehr kam es darauf an zu trennen, welche Worte aus den poli­ti­schen Debatten der Jahre 1933 bis 1945 man noch verwenden und welche man verdammen wollte. Diese Tren­nung blieb unsauber und ist dafür verant­wort­lich, dass wir in der poli­ti­schen Sprache heute Ausdrücke wie „Lebens­raum“ und „Entar­tung“ meiden, von „Guide“ und „Work­camp“ statt von „Führer“ und „Arbeits­lager“ spre­chen, uns aber zugleich Begriffe wie „Nation“ oder „Gemein­schaft“  selbst­ver­ständ­lich erscheinen, auch wenn sie in der Sprache des Natio­nal­so­zia­lismus keinen anderen Stel­len­wert besaßen als „Rasse“ oder „Volk“. Die Entna­zi­fi­zie­rung der Sprache, die bestimmte Worte zum Ausdruck einer natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ideo­logie erklärte und andere für die poli­ti­sche Sprache der Bundes­re­pu­blik rettete, war durchaus will­kür­lich und ließ auch deshalb viel Raum für die Konti­nuität von Einstel­lungen und Denk­mus­tern. Wie 1933 musste auch 1945 niemand sein Denken völlig verän­dern, um in der Nach­kriegs­zeit anzu­kommen. Zugleich machte es aber erst die künst­liche Tren­nung in „normale“ und „natio­nal­so­zia­lis­ti­sche“ Begriffe nach 1945 möglich, dass sich Menschen bewusst in die neue, demo­kra­ti­sche Gesell­schaft einordnen konnten oder sich offen als „Nazi“ zeigten. Wer Teil der Bundes­re­pu­blik sein wollte, wußte, dass er bestimmte Worte und Symbole nicht verwenden durfte. Wer dies tat, bezog offen eine rechts­extreme Position.

Natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Sprache heute

An dieser Konstel­la­tion hat sich nichts geän­dert. Und sie lässt sich nicht einfach über­gehen: Dass in der Weimarer Repu­blik auch libe­rale Juristen von „Auslese“ und „Ausmerzen“ spra­chen, dass sich im Natio­nal­so­zia­lismus selbst hinter Begriffen wie „Rasse“ ganz unter­schied­liche, auch nicht biolo­gis­ti­sche Ausle­gungen verbargen, all das ändert nichts daran, dass in der poli­ti­schen Sprache der Gegen­wart Begriffe wie „Lebens­raum“ und „Entar­tung“ schlicht keine neutralen Worte sind. Als poli­ti­sche Begriffe ist ihnen die Erin­ne­rung an die natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Schre­cken einge­schrieben, auch wenn sich in der Vergan­gen­heit keine so klare Bedeu­tung finden lässt, wie es der Vergleich von Höcke und Hitler sugge­riert. In dieser Konstel­la­tion lassen sich das Höcke‘sche Denken und die Gefahren, die es birgt, nicht verstehen, wenn man versucht, seine „natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Worte“ frei­zu­legen. Dafür braucht es eine Lektüre, die nicht nach „eindeu­tigen Stellen“ sucht, sondern schlicht aufdeckt, was Höcke mit seinen „proble­ma­ti­schen“ wie „unpro­ble­ma­ti­schen“ Worten sagt. An der Einord­nung seiner Gedanken kann dabei kein Zweifel bestehen: Wer heute von „Lebens­raum“ und „Entar­tung“ spricht, bezieht Posi­tion – selbst dann, wenn er danach wie Björn Höcke wort­reich beteuert, es gar nicht so gemeint zu haben. Um Höcke als den Rechts­extremen zu erkennen, der er ist, braucht es nicht den Nach­weis, dass hinter seinen Worten Hitler lauert. Er zeigt sich ja.