Es ist eine Binsenweisheit, dass Hilfe, so wichtig sie für das Überleben einzelner ist, die Welt nicht besser macht. Es ist gut und richtig, einem Obdachlosen ein Bett für die Nacht zu geben, schrieb Bertolt Brecht in seinem Gedicht „Das Nachtlager“. Allerdings, so Brecht weiter, werde dadurch „die Welt nicht anders, […] das Zeitalter der Ausbeutung nicht verkürzt“. Tatsächlich ist häufig genug sogar das Gegenteil der Fall. Wenn Hilfe bestehendes Elend nur abfedert, kann sie ungewollt dazu beitragen, eben jene Verhältnisse zu stabilisieren, die Hilfe immer wieder aufs Neue erforderlich machen. Um diesem Dilemma zu entkommen, erscheint mir ein Konzept zentral, das Hilfe zugleich verteidigt, kritisiert und zu überwinden versucht, wobei diese Gleichzeitigkeit von Verteidigen, Kritisieren und Überwinden von Hilfe für das gesamte Spektrum des helfenden Handelns gilt: von der Sozialarbeit über die therapeutische Praxis bis hin zur humanitären Not- und Entwicklungshilfe. Am Beispiel der Hilfe für Flüchtlinge sei dies nachfolgend erläutert.
Asymmetrische Hilfe – ungleiche Rechte
Selbstverständlich ist das solidarische Engagement, das so viele Menschen den zu uns Geflüchteten entgegenbringen, etwas ganz Wunderbares, etwas, das es unbedingt zu verteidigen gilt und das wir angesichts der um sich greifenden Fremdenfeindlichkeit gar nicht hoch genug schätzen können. Aber dies Engagement steckt auch voller Tücken, die immer in den Beziehungen zwischen Helfenden und Hilfssuchenden auftreten: unbewusste Projektionen etwa, ambivalente Haltungen, zu hohe und sich widersprechende Erwartungen und Rettungsphantasien. Aber die Probleme resultieren auch aus den unterschiedlichen Positionen, die Flüchtlinge und Helfende im gesellschaftlichen Kontext einnehmen. Allen Bemühungen um ein gleichberechtigtes Verhältnis zum Trotz, spiegeln sich in den Begegnungen mit Flüchtlingen immer auch reale Asymmetrien und große soziale Gegensätze, die entscheidend durch unterschiedliche Rechtspositionen bestimmt sind.

Veranstaltung der Silent University in Mühlheim. Die Silent University wurde 2012 von dem kurdischen Künstler Ahmet Öğüt initiiert, Quelle: facebook
Die Menschen, die zu uns kommen, sind nicht nur gezeichnet von Kriegs- und Elendserfahrungen, sondern auch von einem weitgehenden Verlust ihrer Rechte. Viele sind nur ‚geduldet‘ und nicht wenige stehen unter dem permanenten Druck, jederzeit abgeschoben werden zu können. Unter solchen Umständen sind Misstrauen und abwartende Haltungen nur zu gut zu verstehen. Wie kann man traumatisierte Menschen behandeln, wenn schon morgen ihre Abschiebung droht?
In seinem Essay „Das nordafrikanisches Syndrom“ hat Frantz Fanon auf die Gefahren hingewiesen, die in solchen Umständen lauern. Als junger Arzt in der französischen Kolonialverwaltung Algeriens konnte er beobachten, wie seine Kollegen auf die nordafrikanischen Patientinnen und Patienten reagierten, nämlich fast immer mit Unverständnis. Letztere wollten partout kein eindeutiges Krankheitsbild schildern, sondern bestanden auf diffusen Schmerzen, die sie weder organisch noch zeitlich lokalisieren wollten. Den Ärzten, die in westlicher Medizin ausgebildet waren, galten die Patienten als verstockt bzw. als eingebildete Kranke, die nur aus Faulheit in die Behandlung kämen. Wie Fanon kritisierte, waren die Ärzte nicht imstande, das diffuse Leiden der Menschen als eine vollkommen einleuchtende Antwort auf eine zutiefst inhumane Kolonialgesellschaft zu entschlüsseln. Stattdessen diagnostizierten sie ein vermeintliches „nordafrikanisches Syndrom“, das ihnen als Bestätigung ihrer rassistischen Vorurteile diente.
Fehlende Verständigung

„Theatre of displaced people“ in der Ukraine, initiiert 2015 von Natalija Vorozhbyt und Georg Genoux.
Die Verständigung, so Fanon, sei letztlich deshalb gescheitert, weil Helfende und Hilfesuchende über keine gemeinsame Sprache verfügten, die die kolonialen Machtverhältnisse, in denen sie ganz unterschiedliche Positionen einzunehmen hatten, zu erfassen vermocht hätte. An diesen Umständen hat sich bis heute kaum etwas geändert. Die Spaltung der Welt in einen wirtschaftlich, politisch und kulturell dominanten globalen Norden und die Zonen des Elends, der Perspektivlosigkeit und der Demütigung, den globalen Süden. Globaler Norden und globaler Süden sind politische, keine geographischen Begriffe, denn längst gibt es den „Süden“ auch im Norden. Mit der zunehmenden Spaltung ist die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache, die Jürgen Habermas nach den Terroranschlägen von 9/11 angemahnt hatte, immer unwahrscheinlicher geworden. Dabei geht es weniger um die Frage nach gemeinsamen Begriffen, sondern vielmehr um die wechselseitige Bereitschaft, einen Dialog zu führen, auch und gerade wenn dieser Dialog eine bestehende Gemeinsamkeit nicht bereits voraussetzen kann. Ohne eine solche Dialogbereitschaft aber wird es nicht gelingen, jene gesellschaftliche Kraft zu entwickeln, die dem globalen Krisengeschehen Einhalt gebieten könnte.
Während sich – um es salopp zu formulieren – die Sprache transnationaler Konzerne an Zielen wie Wachstum und Rendite orientiert, ist eine Verständigung darüber, wie die bestehende kulturelle Vielfalt respektiert und die wirtschaftlichen und politischen Krisen überwunden werden können, viel schwieriger zu erzielen. Das multiple Krisengeschehen, das wir gegenwärtig erleben, ist vor alle eine Folge der heute sowohl zwischen als auch innerhalb der Länder dramatisch anwachsenden sozialen Ungleichheit bei gleichzeitigem Zerfall öffentlicher, dem Gemeinwohl verpflichteter Institutionen. Die Statistiken und Studien, die das belegen, füllen inzwischen ganze Bibliotheken.
Rassismus ohne Rasse – Existenz in der Krise

Das selbstverwaltete Bildungsprojekt „Autonome Schule“ in Zürich, Quelle: bildung-fuer-alle.ch
Weniger gut untersucht ist, was diese Entwicklung mit den Menschen anrichtet. Vor allem mit denjenigen, denen die Liberalisierung der Märkte nicht ein Mehr an Wohlstand gebracht hat, sondern in erster Linie soziale Verunsicherung. Für nicht wenige stellt sich die Idee der Freiheit heute als eine Art Vogelfreiheit dar: als ein Leben bar jeder gesellschaftlichen Teilhabe, ohne soziale Anerkennung und Perspektive, im ständigen Gefühl, nicht gebraucht zu werden, überflüssig zu sein. Es sollte nicht verwundern, dass sich unter solchen Umständen Wut und Verzweiflung breitmachen. Zumal das zynische Credo des Neoliberalismus, ‚wenn jede und jeder an sich denkt, ist auch an alle gedacht‘, eben nahelegt, dass nicht nur der Erfolg, sondern auch das Scheitern selbst zu verantworten ist. Tatsächlich gilt heute vielen – allen voran den Boulevardmedien – Bildungsferne, Armut, der Verlust eigener Lebensgrundlagen sowie das wachsende Unbehagen als selbstverschuldet. Doch wie kommt man aus Zynismus oder Resignation heraus?
Auch Helfer, Hilfsorganisationen und Hilfesuchende sind nicht vor resignativen Sichtweisen gefeit; entsprechend hat sich die vermeintliche Alternativlosigkeit auch in die Konzeptionen von Hilfe eingeschlichen. Der utopische Überschwang, den viele Hilfsorganisationen bei ihrer Gründung in den 1960er und 1970er Jahren noch verspürten, ist einer pragmatischen Haltung gewichen, die kaum mehr verändern möchte und oftmals nur noch Überlegungen anzubieten hat, wie Menschen sich für eine Existenz in der Krise fit machen können. Was bedeutet das für die Unterstützung von Flüchtlingen? Natürlich ist es wichtig, den Menschen, die zu uns geflohen sind, dabei zu helfen, wieder Fuß zu fassen. Doch was meint eigentlich Integration? Sollen die Menschen, die zu uns kommen, möglichst rasch Teil einer Gesellschaft werden, die mit ihrer imperialen Lebensweise maßgeblich für die Zerstörung von Lebensgrundlagen in aller Welt und damit die Flucht von Menschen Verantwortung trägt? Überspitzt formuliert: Ist alles wieder gut, wenn es uns gelingt, Flüchtlingen das bereits von Fanon beschriebene Dilemma „turn white or disappear“ aufzuzwingen?
Reflexive Hilfe
Der kritische Blick auf die Hilfe muss sehr viel tiefer gehen. Hilfe unterliegt nicht nur der Gefahr, zu einer Art Reparaturbetrieb zu werden, der für den Erhalt des Status Quo zu sorgen hat, sondern sie kann auf einer latenten Spur auch längst überwunden geglaubte koloniale Übergriffe transportieren. Statt gemeinsam über alternative weltgesellschaftliche Verhältnisse nachzudenken, sind viele Helferinnen und Helfer doch davon überzeugt, dass das eigene Entwicklungsmodell das bestmögliche ist. All das spricht nicht gegen Hilfe, aber umso mehr für eine reflexive Hilfe, eine, die um ihre Grenzen weiß.
Diese Grenze wird allerdings nur erkennbar und spürbar, wenn ein Prozess gegenseitiger Verständigung angestrebt wird. Um diesen Prozess zu fördern, braucht es Räume für Begegnungen, die den Austausch, das permanente Gespräch als Grundlage für Veränderungen auf beiden Seiten zulassen. Jenseits von vermachteten Kommunikationsplattformen wie Facebook et al., bedarf es der Schaffung einer unabhängigen „transnationalen Öffentlichkeit“, um die Fragen, die uns auf dem Weg zu anderen, zu solidarischen Weltverhältnisse begleiten werden, schließlich auch beantworten zu können: die Frage nach der Bedeutung und künftigen Verteilung von Arbeit; die Frage, wie Wachstum und Ent-Wachstum global balanciert werden können; die Frage nach alternativen Ökonomien; die Frage der demokratischen Konstitution gesellschaftlicher Daseinsvorsorge; die Frage einer ästhetischen Bildung, die die Menschen nicht bloß als Konsumenten von marktkonformen Produkten begreift, die Frage, wie sich die ‚Anerkennung der Anderen in ihrer Andersheit‘, mit dem Beharren auf der Idee universeller Menschenrechte und dem Grundsatz der Unantastbarkeit der Menschenwürde verhält. Um diese Fragen zu beantworten, lohnt es sich, zuallererst den Satz des Psychoanalytikers, Ethnologen und Schriftstellers Paul Parin ernst zu nehmen: „Wenn es uns gelänge zu zeigen, dass es auch anders geht, dann hätten wir schon viel geleistet.“