Kann Hilfe mehr als ein Reparaturbetrieb sein, der Gestrandete, Geflüchtete und Bedürftige fit für die Krise macht? Die Kritik an Hilfe und Hilfsorganisationen ist wichtig – ebenso nötig sind aber auch die Organisationen selbst.

  • Thomas Gebauer

    Thomas Gebauer ist Diplom-Psychologe und Geschäftsführer der sozialmedizinischen Entwicklungshilfe- und Menschenrechtsorganisation medico international mit Sitz in Frankfurt am Main. Er ist Mitbegründer der Internationalen Kampagne zum Verbot von Landminen (ICBL), die 1997 in Oslo mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, und Träger der Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt.

Es ist eine Binsen­weis­heit, dass Hilfe, so wichtig sie für das Über­leben einzelner ist, die Welt nicht besser macht. Es ist gut und richtig, einem Obdach­losen ein Bett für die Nacht zu geben, schrieb Bertolt Brecht in seinem Gedicht „Das Nacht­lager“. Aller­dings, so Brecht weiter, werde dadurch „die Welt nicht anders, […] das Zeit­alter der Ausbeu­tung nicht verkürzt“. Tatsäch­lich ist häufig genug sogar das Gegen­teil der Fall. Wenn Hilfe bestehendes Elend nur abfe­dert, kann sie unge­wollt dazu beitragen, eben jene Verhält­nisse zu stabi­li­sieren, die Hilfe immer wieder aufs Neue erfor­der­lich machen. Um diesem Dilemma zu entkommen, erscheint mir ein Konzept zentral, das Hilfe zugleich vertei­digt, kriti­siert und zu über­winden versucht, wobei diese Gleich­zei­tig­keit von Vertei­digen, Kriti­sieren und Über­winden von Hilfe für das gesamte Spek­trum des helfenden Handelns gilt: von der Sozi­al­ar­beit über die thera­peu­ti­sche Praxis bis hin zur huma­ni­tären Not- und Entwick­lungs­hilfe. Am Beispiel der Hilfe für Flücht­linge sei dies nach­fol­gend erläutert.

Asym­me­tri­sche Hilfe – ungleiche Rechte

Selbst­ver­ständ­lich ist das soli­da­ri­sche Enga­ge­ment, das so viele Menschen den zu uns Geflüch­teten entge­gen­bringen, etwas ganz Wunder­bares, etwas, das es unbe­dingt zu vertei­digen gilt und das wir ange­sichts der um sich grei­fenden Frem­den­feind­lich­keit gar nicht hoch genug schätzen können. Aber dies Enga­ge­ment steckt auch voller Tücken, die immer in den Bezie­hungen zwischen Helfenden und Hilfs­su­chenden auftreten: unbe­wusste Projek­tionen etwa, ambi­va­lente Haltungen, zu hohe und sich wider­spre­chende Erwar­tungen und Rettungs­phan­ta­sien. Aber die Probleme resul­tieren auch aus den unter­schied­li­chen Posi­tionen, die Flücht­linge und Helfende im gesell­schaft­li­chen Kontext einnehmen. Allen Bemü­hungen um ein gleich­be­rech­tigtes Verhältnis zum Trotz, spie­geln sich in den Begeg­nungen mit Flücht­lingen immer auch reale Asym­me­trien und große soziale Gegen­sätze, die entschei­dend durch unter­schied­liche Rechts­po­si­tionen bestimmt sind.

Veranstaltung der Silent University in Mühlheim. Die Silent University wurde 2012 von dem kurdischen Künstler Ahmet Öğüt initiiert, Quelle: facebook

Veran­stal­tung der Silent Univer­sity in Mühl­heim. Die Silent Univer­sity wurde 2012 von dem kurdi­schen Künstler Ahmet Öğüt initi­iert, Quelle: facebook

Die Menschen, die zu uns kommen, sind nicht nur gezeichnet von Kriegs- und Elends­er­fah­rungen, sondern auch von einem weit­ge­henden Verlust ihrer Rechte. Viele sind nur ‚geduldet‘ und nicht wenige stehen unter dem perma­nenten Druck, jeder­zeit abge­schoben werden zu können. Unter solchen Umständen sind Miss­trauen und abwar­tende Haltungen nur zu gut zu verstehen. Wie kann man trau­ma­ti­sierte Menschen behan­deln, wenn schon morgen ihre Abschie­bung droht?

In seinem Essay „Das nord­afri­ka­ni­sches Syndrom“ hat Frantz Fanon auf die Gefahren hinge­wiesen, die in solchen Umständen lauern. Als junger Arzt in der fran­zö­si­schen Kolo­ni­al­ver­wal­tung Alge­riens konnte er beob­achten, wie seine Kollegen auf die nord­afri­ka­ni­schen Pati­en­tinnen und Pati­enten reagierten, nämlich fast immer mit Unver­ständnis. Letz­tere wollten partout kein eindeu­tiges Krank­heits­bild schil­dern, sondern bestanden auf diffusen Schmerzen, die sie weder orga­nisch noch zeit­lich loka­li­sieren wollten. Den Ärzten, die in west­li­cher Medizin ausge­bildet waren, galten die Pati­enten als verstockt bzw. als einge­bil­dete Kranke, die nur aus Faul­heit in die Behand­lung kämen. Wie Fanon kriti­sierte, waren die Ärzte nicht imstande, das diffuse Leiden der Menschen als eine voll­kommen einleuch­tende Antwort auf eine zutiefst inhu­mane Kolo­ni­al­ge­sell­schaft zu entschlüs­seln. Statt­dessen diagnos­ti­zierten sie ein vermeint­li­ches „nord­afri­ka­ni­sches Syndrom“, das ihnen als Bestä­ti­gung ihrer rassis­ti­schen Vorur­teile diente.

Fehlende Verstän­di­gung

Mitglieder des Theaters: vl.n.re.: Natalija Vorozbyt, Georg Genoux,

Theatre of displaced people“ in der Ukraine, initi­iert 2015 von Nata­lija Vorozhbyt und Georg Genoux.

Die Verstän­di­gung, so Fanon, sei letzt­lich deshalb geschei­tert, weil Helfende und Hilfe­su­chende über keine gemein­same Sprache verfügten, die die kolo­nialen Macht­ver­hält­nisse, in denen sie ganz unter­schied­liche Posi­tionen einzu­nehmen hatten, zu erfassen vermocht hätte. An diesen Umständen hat sich bis heute kaum etwas geän­dert. Die Spal­tung der Welt in einen wirt­schaft­lich, poli­tisch und kultu­rell domi­nanten globalen Norden und die Zonen des Elends, der Perspek­tiv­lo­sig­keit und der Demü­ti­gung, den globalen Süden. Globaler Norden und globaler Süden sind poli­ti­sche, keine geogra­phi­schen Begriffe, denn längst gibt es den „Süden“ auch im Norden. Mit der zuneh­menden Spal­tung ist die Entwick­lung einer gemein­samen Sprache, die Jürgen Habermas nach den Terror­an­schlägen von 9/11 ange­mahnt hatte, immer unwahr­schein­li­cher geworden. Dabei geht es weniger um die Frage nach gemein­samen Begriffen, sondern viel­mehr um die wech­sel­sei­tige Bereit­schaft, einen Dialog zu führen, auch und gerade wenn dieser Dialog eine bestehende Gemein­sam­keit nicht bereits voraus­setzen kann. Ohne eine solche Dialog­be­reit­schaft aber wird es nicht gelingen, jene gesell­schaft­liche Kraft zu entwi­ckeln, die dem globalen Krisen­ge­schehen Einhalt gebieten könnte.

Während sich – um es salopp zu formu­lieren – die Sprache trans­na­tio­naler Konzerne an Zielen wie Wachstum und Rendite orien­tiert, ist eine Verstän­di­gung darüber, wie die bestehende kultu­relle Viel­falt respek­tiert und die wirt­schaft­li­chen und poli­ti­schen Krisen über­wunden werden können, viel schwie­riger zu erzielen. Das multiple Krisen­ge­schehen, das wir gegen­wärtig erleben, ist vor alle eine Folge der heute sowohl zwischen als auch inner­halb der Länder drama­tisch anwach­senden sozialen Ungleich­heit bei gleich­zei­tigem Zerfall öffent­li­cher, dem Gemein­wohl verpflich­teter Insti­tu­tionen. Die Statis­tiken und Studien, die das belegen, füllen inzwi­schen ganze Bibliotheken.

Rassismus ohne Rasse – Exis­tenz in der Krise

Das selbstverwaltete Bildungsprojekt "Autonome Schule" in Zürich, Quelle: bildung-fuer-alle.ch

Das selbst­ver­wal­tete Bildungs­pro­jekt „Auto­nome Schule“ in Zürich, Quelle: bildung-fuer-alle.ch

Weniger gut unter­sucht ist, was diese Entwick­lung mit den Menschen anrichtet. Vor allem mit denje­nigen, denen die Libe­ra­li­sie­rung der Märkte nicht ein Mehr an Wohl­stand gebracht hat, sondern in erster Linie soziale Verun­si­che­rung. Für nicht wenige stellt sich die Idee der Frei­heit heute als eine Art Vogel­frei­heit dar: als ein Leben bar jeder gesell­schaft­li­chen Teil­habe, ohne soziale Aner­ken­nung und Perspek­tive, im stän­digen Gefühl, nicht gebraucht zu werden, über­flüssig zu sein. Es sollte nicht verwun­dern, dass sich unter solchen Umständen Wut und Verzweif­lung breit­ma­chen. Zumal das zyni­sche Credo des Neoli­be­ra­lismus, ‚wenn jede und jeder an sich denkt, ist auch an alle gedacht‘, eben nahe­legt, dass nicht nur der Erfolg, sondern auch das Schei­tern selbst zu verant­worten ist. Tatsäch­lich gilt heute vielen – allen voran den Boule­vard­me­dien – Bildungs­ferne, Armut, der Verlust eigener Lebens­grund­lagen sowie das wach­sende Unbe­hagen als selbst­ver­schuldet. Doch wie kommt man aus Zynismus oder Resi­gna­tion heraus?

Auch Helfer, Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen und Hilfe­su­chende sind nicht vor resi­gna­tiven Sicht­weisen gefeit; entspre­chend hat sich die vermeint­liche Alter­na­tiv­lo­sig­keit auch in die Konzep­tionen von Hilfe einge­schli­chen. Der utopi­sche Über­schwang, den viele Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen bei ihrer Grün­dung in den 1960er und 1970er Jahren noch verspürten, ist einer prag­ma­ti­schen Haltung gewi­chen, die kaum mehr verän­dern möchte und oftmals nur noch Über­le­gungen anzu­bieten hat, wie Menschen sich für eine Exis­tenz in der Krise fit machen können. Was bedeutet das für die Unter­stüt­zung von Flücht­lingen? Natür­lich ist es wichtig, den Menschen, die zu uns geflohen sind, dabei zu helfen, wieder Fuß zu fassen. Doch was meint eigent­lich Inte­gra­tion? Sollen die Menschen, die zu uns kommen, möglichst rasch Teil einer Gesell­schaft werden, die mit ihrer impe­rialen Lebens­weise maßgeb­lich für die Zerstö­rung von Lebens­grund­lagen in aller Welt und damit die Flucht von Menschen Verant­wor­tung trägt? Über­spitzt formu­liert: Ist alles wieder gut, wenn es uns gelingt, Flücht­lingen das bereits von Fanon beschrie­bene Dilemma „turn white or disap­pear“ aufzuzwingen?

Refle­xive Hilfe

Der kriti­sche Blick auf die Hilfe muss sehr viel tiefer gehen. Hilfe unter­liegt nicht nur der Gefahr, zu einer Art Repa­ra­tur­be­trieb zu werden, der für den Erhalt des Status Quo zu sorgen hat, sondern sie kann auf einer latenten Spur auch längst über­wunden geglaubte kolo­niale Über­griffe trans­por­tieren. Statt gemeinsam über alter­na­tive welt­ge­sell­schaft­liche Verhält­nisse nach­zu­denken, sind viele Helfe­rinnen und Helfer doch davon über­zeugt, dass das eigene Entwick­lungs­mo­dell das best­mög­liche ist. All das spricht nicht gegen Hilfe, aber umso mehr für eine refle­xive Hilfe, eine, die um ihre Grenzen weiß.

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Diese Grenze wird aller­dings nur erkennbar und spürbar, wenn ein Prozess gegen­sei­tiger Verstän­di­gung ange­strebt wird. Um diesen Prozess zu fördern, braucht es Räume für Begeg­nungen, die den Austausch, das perma­nente Gespräch als Grund­lage für Verän­de­rungen auf beiden Seiten zulassen. Jenseits von vermach­teten Kommu­ni­ka­ti­ons­platt­formen wie Face­book et al., bedarf es der Schaf­fung einer unab­hän­gigen „trans­na­tio­nalen Öffent­lich­keit“, um die Fragen, die uns auf dem Weg zu anderen, zu soli­da­ri­schen Welt­ver­hält­nisse begleiten werden, schließ­lich auch beant­worten zu können: die Frage nach der Bedeu­tung und künf­tigen Vertei­lung von Arbeit; die Frage, wie Wachstum und Ent-Wachstum global balan­ciert werden können; die Frage nach alter­na­tiven Ökono­mien; die Frage der demo­kra­ti­schen Konsti­tu­tion gesell­schaft­li­cher Daseins­vor­sorge; die Frage einer ästhe­ti­schen Bildung, die die Menschen nicht bloß als Konsu­menten von markt­kon­formen Produkten begreift, die Frage, wie sich die ‚Aner­ken­nung der Anderen in ihrer Anders­heit‘, mit dem Beharren auf der Idee univer­seller Menschen­rechte und dem Grund­satz der Unan­tast­bar­keit der Menschen­würde verhält. Um diese Fragen zu beant­worten, lohnt es sich, zual­ler­erst den Satz des Psycho­ana­ly­ti­kers, Ethno­logen und Schrift­stel­lers Paul Parin ernst zu nehmen: „Wenn es uns gelänge zu zeigen, dass es auch anders geht, dann hätten wir schon viel geleistet.“