Lissabon ist in Bewegung. Immer mehr Touristen kommen, angelockt vom postimperialen Charme der Stadt. Doch was bedeutet die koloniale Vergangenheit für die Touristen – und was für die Bewohner einer Stadt, die in Nostalgie schwelgt?

  • Christoph Kalter

    Christoph Kalter ist Dozent für europäische Geschichte in globaler Perspektive an der Freien Universität Berlin.

Wann waren Sie zuletzt in Lissabon? Ach, Sie fahren demnächst hin? Genau wie ich. Und fünf Millionen andere, die dieses Jahr dieselbe Wahl treffen. Damit kommen auf einen Einwohner der portu­gie­si­schen Haupt­stadt neun auslän­di­sche Touristen. Zum Vergleich: In London sind es vier, und selbst im Barce­lona der „Gene­ra­tion easyJet“ sind es „nur“ fünf. Seit zehn Jahren wächst Portu­gals Touris­mus­branche rasant, die Besu­cher­zahlen haben sich verdop­pelt. Im Jahr 2018 kamen fast drei­zehn Millionen – in ein Land, in dem knapp über zehn Millionen Menschen leben. Während der Bade­tou­rismus der Algarve-Küste dabei weiter eine wich­tige Rolle spielt, verzeichnen die „heim­liche Haupt­stadt“ Porto und Lissabon den deut­lichsten Zuwachs.

Oscars für Disneyland

Nicht alle sind davon begeis­tert. Sicher, die Regie­rung und die Touris­mus­branche feiern jede neue Auszeich­nung – 2018 erhielt Portugal gleich sech­zehn „Oscars“ der World Travel Awards. Und viele Portugies*innen haben endlich wieder mehr Geld in der Tasche. Die auslän­di­schen Besu­cher sind der wich­tigste Motor der wirt­schaft­li­chen Erho­lung. Sie stopfen manche Löcher, die die Finanz- und Wirt­schafts­krise und die von der EU erzwun­gene Spar­po­litik nach 2011 in öffent­liche Kassen und private Porte­mon­naies gerissen hatten. Ande­rer­seits aber haben viele Portugies*innen es satt, sich in den Straßen der Haupt­stadt einen Weg durch die Touris­ten­trauben zu bahnen. Sie kriti­sieren stei­gende Mieten und Immo­bi­li­en­preise, die Verwand­lung von Wohn­raum in Airbnbs, die Verdrän­gung einkom­mens­schwa­cher Menschen aus dem Zentrum, kurzum: den Verlust an histo­risch gewach­sener Stadt­ge­sell­schaft, deren „authen­ti­schen“ Charme die city bran­ding-Stra­tegen bewerben. Oder, wie die NZZ kürz­lich klagte: „Lissa­bons laby­rin­thi­sche Altstadt entwi­ckelt sich zum touris­ti­schen Disneyland.“

Doch was suchen die Disneyland-Besucher? Was zeigt man ihnen? Und was sehen sie nicht, jeden­falls nicht wirk­lich – obwohl sie dauernd darauf stoßen? Deut­lich sichtbar und doch gut versteckt ist die folgende Tatsache: Lissabon ist eine post­im­pe­riale Stadt. Sie war fünf­hun­dert Jahre lang das Zentrum eines nach Asien, Südame­rika, und Afrika ausgrei­fenden Kolo­ni­al­rei­ches. Und sie war es länger als Paris, Brüssel, Amsterdam oder London. Dort gaben die Kolo­ni­al­mi­nis­te­rien und -museen sich bis spätes­tens Mitte der 1960er-Jahre neue Namen, weil es kein fran­zö­si­sches, belgi­sches, nieder­län­di­sches oder briti­sches Kolo­ni­al­reich mehr gab. In Portugal kam die Befreiung erst 1974: Die Nelken­re­vo­lu­tion, ausge­löst von den sozialen und poli­ti­schen Verwer­fungen des in Angola, Mosambik und Guinea-Bissau geführten Kolo­ni­al­krieges (1961-74), besie­gelte das Ende dieses letzten Impe­riums der euro­päi­schen Geschichte. Auf seine Spuren treffen Besu­cher der Stadt auch heute noch überall.

Post­im­pe­riale Stadt

Jardim Botâ­nico Tropical, Belém, Portugal; Foto: ChK

Die impe­riale Vergan­gen­heit gehört zum touris­ti­schen Marken­kern Lissa­bons. So kommt zum Beispiel kein Besu­cher um einen Ausflug in den Stadt­teil Belém herum. Dort erin­nert zunächst das Hieronymus-Kloster an die als nobles Aben­teuer präsen­tierten „Entde­ckungs­fahrten“ der Seefahrer und Eroberer des 15. und 16. Jahr­hun­derts, Portu­gals „goldenem Zeit­alter“. Unweit des Klos­ters können sich Tourist*innen unter den Palmen des Jardim Botâ­nico Tropical erholen. Bei seiner Eröff­nung 1914 hieß der Park noch „Garten der Über­see­ge­biete“ und stellte die Pflan­zen­viel­falt des Impe­riums aus. 1940 kam dann, in einer zeit­ty­pi­schen Paral­le­li­sie­rung, die Menschen­viel­falt dazu: Inmitten der tropi­schen Flora stellte man rassenanthropologisch-typisierende Büsten auf, die die phäno­ty­pi­sche und kultu­relle Viel­falt der in Asien und Afrika unter portu­gie­si­scher Herr­schaft lebenden Kolo­ni­sierten auch in Lissabon erfahrbar machen sollten. Zwischen den Ruinen alter Gewächs­häuser stehen diese Büsten im Park heute weiter unkom­men­tiert – und auch vom „mensch­li­chen Zoo“ der aus den Kolo­nien herbei­ge­schafften Indi­genen, den der Park 1940 während der „Ausstel­lung der portu­gie­si­schen Welt“ beher­bergte, ist nirgendwo ein Wort zu lesen.

Padrão dos Desco­bri­mentos, Belém, Portugal; Foto: ChK

Doch lassen wir die Tourist*innen weiter­ziehen: Vom Jardim Botâ­nico Tropical geht es in südwest­li­cher Rich­tung einmal quer über die Praça do Império. Dort ragt der impo­sante Padrão dos Desco­bri­mentos auf, das als Bug einer Kara­velle gestal­tete Denkmal der Entde­ckungen, vor dem sich Hunderte täglich selbst oder gegen­seitig foto­gra­fieren, hinter ihnen das Wasser des Tejo und Hein­rich der Seefahrer. Auf dem Boden vor dem Denkmal läuft man über ein riesiges Mosaik aus farbigen Kalk­steinen. Es stellt eine Kompass­rose mit Welt­karte dar – eine weitere Würdi­gung portu­gie­si­schen „Entde­cker­geistes“ und ein Geschenk des Südafrikas der Rassen­tren­nung an Portu­gals Diktator António de Salazar. Einge­weiht wurde das Ensemble im Jahr 1960, ein Jahr vor dem Beginn des Befrei­ungs­krieges in Angola.

Kompass­rose und mappa mundi, Belém, Portugal; Foto: ChK

Portugal konnte die Kriege in Angola, Mosambik und Guinea-Bissau poli­tisch nur verlieren. Auf dem langen Weg zu dieser Einsicht töteten portu­gie­si­sche Soldaten Zehn­tau­sende Afrikaner*innen und vertrieben Hundert­tau­sende. Zugleich starben auch 8831 meist wehr­pflich­tige Portu­giesen, weitere 50000 wurden verwundet und teils dauer­haft verstüm­melt – prak­tisch jede Familie war direkt betroffen. Diese Toten haben ihr eigenes Denkmal, und seit 1994 steht es nur einige Hundert Meter vom Padrão dos Desco­bri­mentos, und zugleich nur wenige Schritte von der Torre de Belém entfernt, einem weiteren Relikt Portu­gals früh­neu­zeit­li­cher Kolo­ni­al­ex­pan­sion und das Wahr­zei­chen der Stadt. Allein, die physi­sche Nähe hilft nicht: Touristen und Einhei­mi­sche kommen kaum je zum Monu­mento aos Combat­entes do Ultramar. Den Besuch des Denk­mals für die Kolo­ni­al­kriege empfehlen die meisten Reise­führer nicht, auf trip­ad­visor hält es derzeit Platz 87; es ist somit prak­tisch unsichtbar.

Hidden in Plain Sight

Kurzum, Lissa­bons impe­riales Erbe wird sehr selektiv wahr­ge­nommen. Seine mate­ri­ellen Über­reste bleiben entweder unmar­kiert und über­sehen, oder sie sind von einer Kolo­ni­al­ro­mantik über­zu­ckert, die oft nur ober­fläch­lich an gegen­wär­tige Sprach­re­ge­lungen ange­passt wurde. Von der Gewalt des Kolo­nia­lismus und seinem gewalt­samen Ende schweigt die Erin­ne­rungs­kultur, seine Anfänge feiert sie als frucht­baren Kultur­kon­takt: Die Portu­giesen, heute die Einwohner eines kleinen, über­al­terten, und wirt­schaft­lich schwa­chen Landes, sind in dieser Erzäh­lung die Pioniere einer säku­laren Fort­schritts­be­we­gung, die in einem fünf­hun­dert­jäh­rigen Dialog der Kulturen von den Entde­ckungs­reisen bis zur Gegen­wart der Globa­li­sie­rung führt.

Dieses Recy­cling impe­rialer Über­le­gen­heits­kom­plexe hatten bereits zehn Millionen Besu­cher der Expo ’98 kennen­ge­lernt. Das Gelände der Welt­aus­stel­lung von 1998 ist bis heute ein Besu­cher­ma­gnet. In nächster Nähe trägt die zweit­längste Brücke Europas den Namen Vasco da Gamas, der 1498 den Seeweg nach Indien erkundet hatte. Doch so heißt auch das riesige Einkaufs­zen­trum, das auf dem Gelände entstanden ist. Über­haupt der Konsum: In einer Snack-Bar nahe des Museu do Oriente, dessen Preziosen die „portu­gie­si­sche Präsenz“ in Asien als ästhe­ti­sches Spek­takel aufbe­reiten, kann man leckere Toasts kaufen. Sie heißen Vasco da Gama, Gil Eanes, Diogo Cão, oder Pedro Álvares de Cabral: die großen Entde­cker als wech­selnder Mix von Schinken, Käse, Thun­fisch, Tomaten und Blatt­salat. Ein Sightseeing-Anbieter wiederum offe­riert Stadt­rund­fahrten in Bussen, die optisch den Schiffen der früh­neu­zeit­li­chen „Entde­cker“ nach­emp­funden sind: Cara­vels on wheels.

Und dann ist da die Toponymie: Viele Straßen und Plätze sind nach Mili­tärs und Beamten mit kolo­nialer Karriere benannt. Die Avenida Mouzinho de Albu­querque zum Beispiel erin­nert an den von manchen als Kolo­ni­al­held verehrten Sozi­al­dar­wi­nisten und Kaval­le­rie­of­fi­zier, dessen Soldaten bei der „Pazi­fi­zie­rungs­kam­pagne“ in Mosambik 1895 Tausende töteten. Den meisten Tourist*innen sagt sein Name nichts. Doch auch die Einhei­mi­schen kriti­sieren diese Bana­li­sie­rung der Vergan­gen­heit bislang kaum einmal öffent­lich – geschichts­po­li­ti­scher Streit wie der ums „afri­ka­ni­sche Viertel“ oder die „M-Straße“ in Berlin hat Lissabon bisher kaum erreicht. Das Impe­rium ist da, omni­prä­sent, es bleibt zugleich aber unre­flek­tiert, unsichtbar. Hidden in plain sight.

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Neue Sicht­bar­keit

Alfama, Lissabon, Portugal; Foto: ChK

In den letzten Jahren aller­dings drängt das Erbe des Impe­riums auch in neuer Weise in den öffent­li­chen Raum. Das hat viel mit den Menschen zu tun, die aus den ehema­ligen Kolo­nien nach Lissabon einge­wan­dert sind oder als Vertreter der „zweiten Gene­ra­tion“ dort geboren wurden. Sie betreiben zum Beispiel kapver­di­sche, goesi­sche und chine­si­sche Restau­rants. Das lockt die Touristen von den Gassen Alfamas auf die andere Seite des Lissa­boner Burg­hü­gels, nach Mouraria und Martim Moniz, wo nicht nur der fado zu Hause ist, sondern auch eine lebhafte Stadt­kultur, deren Diver­sität manche an London oder Paris erin­nern mag. Vereine wie Renovar a Mouraria versu­chen dieses Neben- und Mitein­ander zu pflegen, die Touristen für die sozialen Probleme des Stadt­vier­tels zu sensi­bi­li­sieren, und es zugleich vor der Gentri­fi­zie­rung zu schützen.

Lissa­bons People of Color sind auch zentrale Akteure in einem globalen hype, der sich um batida entwi­ckelt hat, ein Über­be­griff für elek­tro­ni­sche Musik, darunter der extrem tanz­bare kuduro, die oft von der afri­ka­ni­schen, vor allem ango­la­ni­schen Diaspora gemacht wird. Natür­lich ändert die Begeis­te­rung für Club­kultur und harte Beats aus den Lissa­bonner Vorstädten nicht die struk­tu­relle Benach­tei­li­gung Schwarzer Menschen. Im Gegen­teil, so die Kritiker, sie macht Diffe­renz konsu­mierbar und verstärkt die Touristi­fi­zie­rung. Ob die New York Times oder der briti­sche Guar­dian, alle finden die Stadt sei hip, billig, und inno­vativ – „the new capital of cool.“ Doch zugleich bietet Lissa­bons Musik­szene eine genuine Platt­form für neue Stimmen, die ganz andere post­im­pe­riale Erfah­rungen und Ausdrucks­formen in den öffent­li­chen Raum tragen.

Dabei sind migran­ti­sche Küche und Popkultur längst nicht alles. Nach einer Reihe von Poli­zei­über­griffen, deren rassis­ti­sche Gewalt­kultur an die USA der Black Lives Matter-Proteste erin­nert, demons­trierten am 21. Januar 2019 zum ersten Mal unge­fähr 300 Jugend­liche aus Lissa­bons armer Peri­pherie auf der Avenida da Liberdade, der Pracht­straße der Haupt­stadt. Sie wehrten sich gegen die brutale Willkür der Poli­zisten, die sie als kolo­niales Erbe anpran­gerten. Zugleich gerät der post­im­pe­riale Mythos von Portugal als einer Gesell­schaft, die vermeint­lich keinen Rassismus kennt, auf breiter Front unter Beschuss: Immer mehr Aktivist*innen, aber auch Akademiker*innen oder Journalist*innen wie Joana Gorjão Henri­ques benennen den struk­tu­rellen Rassismus auf dem Arbeits- und Wohnungs­markt, in Justiz und Bildungs­system, oder im Staats­bür­ger­schafts­recht. Dieser mit Vehe­menz geführte Streit über den Alltags­ras­sismus hat längst die Mainstream-Medien erreicht. Die Vergan­gen­heit spielt dabei eine zentrale Rolle. Forscher*innen wie Elsa Peralta erkunden kritisch die impe­riale Stadt­geo­grafie, geben aber auch der massen­haften Rück­wan­de­rung portu­gie­si­scher Kolo­ni­al­siedler in den 1970er-Jahren und ihren ambi­va­lenten Folgen neue Sicht­bar­keit.

Der Verein Schwarzer Menschen Djass – Asso­ciação de Afro­de­s­cen­dentes wiederum gewann 2017 breite Unter­stüt­zung für sein Projekt, mitten in Lissabon ein Denkmal für die Opfer des atlan­ti­schen Skla­ven­han­dels zu errichten, in dem Portugal jahr­hun­der­te­lang eine trau­rige Schlüs­sel­rolle spielte. Im selben Jahr schlug aller­dings auch der sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Bürger­meister vor, ein Museum für die portu­gie­si­schen Entde­ckungs­fahrten bauen zu lassen. Neu war nicht die Stoß­rich­tung des geplanten Museu das Desco­bertas, sondern die Antwort darauf: Schnell entbrannte eine breit geführte und kontro­verse Debatte über den (Un-)Sinn dieser geschichts­po­li­ti­schen Initiative.

Millionen Tourist*innen konsu­mieren das impe­riale Erbe Lissa­bons, doch die so genannten „Schat­ten­seiten“ dieser Geschichte – Gewalt und Rassismus – sind vielen besten­falls undeut­lich bewusst. Genau das aber könnte sich jetzt ändern. Seit kurzem erneuert sich der Umgang mit dieser Vergan­gen­heit in Portu­gals (Stadt-)Öffentlichkeit. Der Wandel kommt allmäh­lich, aber deut­lich – und die teils heftigen Diskus­sionen über das Impe­rium und seine Folgen werden die Wahr­neh­mung Lissa­bons auch im Ausland verän­dern. Hoffent­lich. Es ist ein guter Moment, sich in die komplexe Geschichte der Stadt zu vertiefen. Und die Augen und Ohren weit aufzu­ma­chen, sobald Sie dort sind.