Als im Sommer und Herbst 2015 Hundertausende Menschen vor allem aus Syrien, dem Irak und Afghanistan nach Deutschland flohen, trafen sie auf eine überraschende Welle der Hilfsbereitschaft. Die Bilder von Freiwilligen, die Geflüchtete mit Transparenten willkommen hießen, die Essen, Getränke und Teddybären für die Kinder verteilten, gingen um die Welt. Früh machte sich Skepsis gegenüber dieser „Willkommenskultur“ breit. Eine ganze Reihe meist älterer und in der Regel männlicher Historiker sorgte sich um den sozialen Kitt und die politische Kultur der Bundesrepublik, um ihr westlich-liberales Fundament, das durch den Zuzug jener „Fremden“ untergraben werde. Andere hingegen sahen in der Willkommenskultur die Rede vom sozial kalten und egoistischen Deutschland eindrucksvoll widerlegt. Es war, wie Patrick Bahners in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb, ein „historischer Augenblick“, in dem für „ein paar Wochen die entwaffnende Macht des guten Willens zu erfahren“ war. Auch nach den chaotischen Monaten des Herbst 2015 verschwand diese Willkommenskultur nicht. Weiterhin leisten zahlreiche Initiativen und Einzelpersonen bei allen möglichen Problemen Hilfe, auch wenn die mediale Präsenz der Willkommenskultur abgenommen hat.
Angesichts eines erstarkenden „Rechtspopulismus“ – der Begriff ist bekanntermaßen problematisch –, rassistischer Hetze im Internet und Gewalt auf den Straßen wirkt die Geschichte der Willkommenskultur gleichsam als guter Widerpart. Hier wird, so mag es scheinen, Solidarität mit Fremden über Grenzen hinweg praktiziert, denn geholfen wurde oft auch über nationale Grenzen hinweg: Bis nach Afghanistan, Syrien und in die Türkei reichten spontan entstandene persönliche Netzwerke. Ich selbst nahm Kontakt mit Unterstützer*innen in der Türkei auf, um dort gestrandeten Familien afghanischer Freund*innen in Berlin zu helfen; andere Aktivist*innen stehen im Kontakt mit in Syrien verbliebenen Familien, halfen beim Familiennachzug nach Deutschland, oder gar dem Transport von Verletzten über die Grenze in die Türkei. Es ist, so scheint es, eine zumeist beeindruckende Erfolgsgeschichte, die davon berichtet, wie vielen Menschen in Not ganz konkret geholfen wurde. Aber bei aller Bewunderung für das Engagement zahlreicher Menschen (und ich war und bin selbst aktiv involviert), gilt es Zweifel an einer solchen Erfolgsgeschichte anzumelden – und dies nicht nur, weil es neben gelösten Problemen auch zahlreiche frustrierende Erfahrungen gibt, die sich seltener in der medialen Aufarbeitung wiederfinden. Wichtiger ist es, die Logik der Willkommenskultur kritisch zu betrachten und, insbesondere in historischer Perspektive, ihre Blindstellen in den Blick zu nehmen. Denn es handelt sich, wie ich argumentieren werde, gerade nicht um eine Geschichte der Solidarität.
Diversität und Spontaneität: Die Willkommenskultur
Was gemeinhin als Willkommenskultur bezeichnet wird, war und ist ein überaus vielfältiges und diffuses Phänomen. Zur Willkommenskultur (ein innerhalb der „Szene“ durchaus umstrittener Begriff) gehörten sowohl zahlreiche lokale, oft spontan gegründete Initiativen wie auch einzelne Engagierte, die zu Flüchtlingsheimen oder Bahnhöfen kamen, Geflüchtete kennenlernten und sie bei allen möglichen Problemen des Alltags unterstützen. Manche Initiativen widmeten sich speziellen Projekten, etwa dem Fahrradtraining für geflüchtete Frauen oder der Vermittlung von Programmierfähigkeiten, manche versuchten in Sprachcafés nicht nur informell Deutsch zu üben, sondern auch nachbarschaftliche Kontakte zu pflegen, und manche boten gleichsam eine „Rundumbetreuung“ an für alle Probleme und Herausforderungen, die sich aus der „Integration“ ergaben.
Aber so wichtig Projekte und Initiativen für die Willkommenskultur sind, ihr organisatorischer und kommunikativer Kern sind verschiedene Facebook Gruppen. Auf diesen werden Informationen und Erfahrungen ausgetauscht, hier wird anlassbezogen praktische Hilfe organisiert, und hier finden zumindest hin und wieder Diskussionen statt. Was der Willkommenskultur allerdings fehlt, ist eine Art „Szeneöffentlichkeit“, in der auch kritisch über die eigene Praxis reflektiert werden wird. Diese scheint sich auf Facebook kaum herstellen zu lassen.
Diese Vielfältigkeit macht verallgemeinernde Aussagen über die Willkommenskultur schwierig. Aber dennoch lassen sich gewisse Muster in der Rhetorik, in der Bildsprache und der Praxis der Willkommenskultur ausmachen. Dabei sind weniger in Buchform veröffentlichte Erfahrungen einzelner Aktivist*innen oder Äußerungen in den Medien interessant, sondern massenhaft auf Facebook geteilte Bilder und Posts, die Diskussionen und Reaktionen erzeugen. Diese zeigen und generieren einen spezifischen Blick auf das Leben geflüchteter Menschen.
Defizitäres Leben: Die Rhetorik und Praxis des Helfens

Werbung Flüchtlingshilfe, 2015; Quelle: facebook.com
Aus der Perspektive der Willkommenskultur und der „Geflüchtetenhilfe“, um einen anderen Begriff zu verwenden, erscheint das Leben der Geflüchteten als defizitäres Leben. Es ist ein Leben, das durch einen vielfältigen Mangel gekennzeichnet ist. Ganz praktisch fehlte es im Herbst 2015 an Essen, Trinken, Kleidung und vor allem an Schlafplätzen. Später rückten andere Mängel in den Vordergrund: fehlende Sprachkenntnisse oder Ausbildungen, die einen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht hätten, und vor allem eine eigene Wohnung. Vielen fehlt die in Syrien oder Afghanistan zurückgelassene Familie, die nach Deutschland zu bringen eine immense Herausforderung darstellt. Aber auch in weniger materieller Hinsicht erscheint das Leben der Geflüchteten als defizitär: Ihnen fehlen kulturelle Fähigkeiten, etwa diejenige des Flirtens, ihnen fehlen liberale und demokratische Werte, die sie in Integrationskursen lernen müssen, ihnen fehlen Rechte, weshalb sich Organisationen wie Pro Asyl für diese Rechte einsetzen müssen, ihnen fehlt eine Stimme, die sich Gehör verschaffen könnte. Die Liste ließe sich fortsetzen.
In der Praxis des „Helfens“, ein zentraler Begriff in der „Szene“, geht es darum, diese Defizite zu beheben und den Mangel zu beseitigen. Entsprechend lesen sich auf Facebook geteilte Erfolgsgeschichten: Jemand kam ohne Deutschkenntnisse und mittellos in Deutschland an, lernte dann mit der Hilfe von engagierten Ehrenamtlichen Deutsch, fand eine Wohnung und eine Ausbildung, und ist nun angekommen und integriert. Das Leben ist nicht mehr defizitär. Bisweilen gemahnt diese Perspektive und Praxis an die französische mission civilisatrice, gerade wenn es um die Vermittlung sexuellen Wissens geht. So erzählte ein älterer Aktivist, wie er junge Afghanen über die Gefahrlosigkeit des Masturbierens aufklärte, sei Afghanistan doch in Hinblick auf sexuelle Aufklärung in den 1950er Jahren steckengeblieben. Beim deutschen Publikum rief er Heiterkeit hervor, bei Geflüchteten, denen ich den Post zeigte, eher Empörung.

„Rackete the Saviour“; Quelle: facebook.com
Geflüchtete sind in dieser Perspektive Menschen in Not, denen vor allem geholfen werden muss, sei es materiell, sei es durch die Vermittlung von Fähigkeiten, sei es, indem ihnen „eine Stimme gegeben wird“, wie es oftmals heißt. Die „Helden“ in dieser Geschichte sind stets andere; in der Regel sind es deutsche (oder andere westliche) Helfer*innen und Retter*innen. Ein drastisches Beispiel hierfür ist ein Bild, das im Sommer 2019 auf Facebook zirkulierte. Es zeigt Kapitänin Carola Rackete quasi als fürsorgliche Mutter, die mit ihren langen Dreadlocks schwarze Männer, die wie Kinder wirken, schützt. White women saving brown men, ist man versucht zu sagen.
Mit diesem Fokus auf Not und Mangel reiht sich die Willkommenskultur in die Geschichte humanitärer Hilfe ein, wie sie sich seit den 1970er Jahren entwickelte. Kampagnen wie diejenige für hungernde Kinder in Biafra oder die im Juli 1985 von Bob Geldof organisierten Live Aid Konzerte, mit denen für Spenden für hungernde Menschen in Äthiopien geworben wurde, richteten den Blick auf körperliches Leiden, blendeten politische Kontexte dabei aber aus. In der Tat wird der Begriff der Humanität regelmäßig in der Willkommenskultur bemüht.
Solidarität?

Baset al Sarout; Quelle: facebook.com
Den Bildern, wie sie in der Szene der Flüchtlingshilfe zirkulieren, ließe sich ein anderes Bild gegenüberstellen, das im Frühjahr 2019 von syrischen Aktivist*innen geteilt wurde: dasjenige von Abdul Baset al-Sarout, einem syrischen Fußballspieler, der während der Revolution 2011 als Sänger auf Demonstrationen in seiner Heimatstadt Homs bekannt wurde. Als sich die Revolution in einen bewaffneten Aufstand verwandelte, griff auch Sarout zu den Waffen. Nach dem Zerfall der Freien Syrischen Armee schloss er sich einer der islamistischen Gruppen an, auch wenn er, Gerüchten zum Trotz, nie Teil von ISIS wurde. Im Frühjahr 2019 schließlich starb er bei Kämpfen in der Provinz Idlib. Sein Leben war, wie der syrische Oppositionelle Yassin al-Haj Saleh bemerkte, widersprüchlich, so wie es die syrische Revolution war. Für viele Syrer*innen, die sich gegen das Assad Regime gestellt hatten, war er jedenfalls ein Held.
Das Bild Sarouts verweist nicht nur auf die Geschichte der syrischen Revolution. Es ließe sich auch in eine Reihe mit Bildern bewaffneter Revolutionäre stellen, insbesondere im Kontext antikolonialer Befreiungskriege in den 1960ern. Damit verweist es auf eine Geschichte der internationalen Solidarität mit revolutionären Befreiungsbewegungen der „Dritten Welt“, von der sich Protagonist*innen der humanitären Hilfe, wie etwa Bernard Kouchner, Mitgründer der Médecins sans frontières, dezidiert abgrenzten. War es der Solidaritätsbewegung der 1960er Jahre noch um politische Kämpfe in der „Dritten Welt“ und deren Implikationen für die „Erste Welt“ gegangen, so scherte sich Kouchner nicht mehr um die „politische Identität“ der „Opfer“, auf deren Seite man „immer und überall“ zu stehen habe. In den 1960er Jahren hatten politische Stimmen aus der Dritten Welt – als prominentestes Beispiel wäre hier Frantz Fanon zu nennen – Gehör im „Westen“ gefunden. In der humanitären Hilfe verschwanden diesen Stimmen.
Der Verweis auf die Geschichte der internationalen Solidarität, gerade im Kontrast zur Geschichte der humanitären Hilfe, wirft die Frage auf, ob sich die Willkommenskultur und die Hilfe für Geflüchtete als eine Praxis der Solidarität verstehen lassen, ein Begriff, der in der Willkommenskultur immer wieder ohne wirkliche Reflexion fällt.
Was würde Solidarität bedeuten? Eine von Yassin al-Haj Saleh verfasste Kritik der Solidarität ist instruktiv. Ausgangspunkt für seine Argumentation ist eine Veranstaltung in Berlin über Raqqa, die Heimatstadt Salehs, kurz nachdem kurdische und US-amerikanische Truppen die Kontrolle über die Stadt übernommen hatten. Auf der Veranstaltung sprachen zwei in Europa lebende und aus der Türkei stammende Kurden, moderiert wurde sie von einer Deutschen, die Saleh persönlich kannte. Diese hatte Saleh im Vorfeld um Informationen über Raqqa gebeten. „It hadn’t occurred to her that in asking me to help her strengthen her argument in support of the cause with which she provided solidarity, she was rendering my own invisible cause more invisible still. The reality is she hadn’t envisaged that I had a cause at all, and that it might not be in alignment with—or might even be opposed to—the cause she had adopted, and saw none other than“, schreibt Saleh. Der „traumatisierende“ Vorfall charakterisiert aus Salehs Sicht die Machtstruktur von Solidarität im Westen gegenüber dem „globalen Süden“: Dass diejenigen im globalen Süden ein (politisches) Anliegen haben, kommt nicht in Betracht.
Politische Subjekte
Saleh nimmt diese Erfahrung zum Anlass für eine radikale Kritik der Solidarität. Ebenso gut ließe sich daran erläutern, was Solidarität kennzeichnet, oder zumindest kennzeichnen sollte: Diese verlangt danach, das politische Anliegen des Gegenübers anzuerkennen, und es zu teilen. Solidarität schafft in diesem Sinne einen gemeinsamen politischen Horizont; eine Solidaritätsbekundung deklariert eine gemeine Seite in einer politischen Auseinandersetzung.

Graffito für Alan Kurdi, Frankfurt a. M.; Quelle: stadtkindfrankfurt.de
All dies bleibt beim Blick auf defizitäres Leben außen vor. Dieser interessiert sich kaum für die politischen Anliegen der Menschen, bevor sie flohen, denn dies würde gerade bedeuten, nicht nach Defiziten zu fragen, die es zu beheben gilt. Um es pointiert zu formulieren: Dass die protestierenden Student*innen um 1968 „Ho Ho Ho Chi Minh!“ skandierten, ergab Sinn – „solidarischen“ Sinn –, auch wenn man es für politisch falsch hält. Den Namen des wohl bekanntesten (und toten) Flüchtlings, Alan Kurdi, zu skandieren, wäre schlicht absurd. Er mag als Ikone für das Sterben im Mittelmeer taugen, aber nicht als politisches Idol. Als (totes) Kind repräsentiert er gleichsam nur die Opfer von Politik, sei es in Syrien, sei es an der europäischen Grenze, ohne aber selbst ein politisches Subjekt zu sein.
Bezeichnenderweise proklamieren die politisch aktiveren Initiativen in der „Geflüchtetenhilfe“ immer wieder, den Geflüchteten eine politische Stimme geben zu wollen. Dass diese durchaus eine politische Stimme haben, der man auch einfach zuhören könnte, kommt nicht in den Sinn. In der Praxis macht sich dies etwa daran bemerkbar, dass in der Willkommenskultur Engagierte kaum an von Syrer*innen organisierten Demonstrationen gegen das Assad-Regime und seine russischen Verbündeten teilnehmen, ganz im Gegensatz zu Protesten gegen die Abschottung Europas. Die politischen Anliegen der Syrer*innen interessieren nicht, ja, mehr noch, die politischen Konflikte nach Deutschland zu tragen, wird als Gefahr gesehen.
So viel es an der Willkommenskultur zu bewundern gibt, ihre Geschichte als eine Geschichte der Solidarität zu schreiben, würde fehlgehen. Sie folgt vielmehr einer „humanitären Logik“, wie Didier Fassin sie kritisch beschrieben hat, mit all den Fallstricken und Problemen, die Solidarität gerade verhindert. Zwar muss in Deutschland das „biologische Leben“ nur noch selten gerettet werden, aber auch im Blick auf defizitäres Leben spielt das „biographische Leben“, insbesondere das Leben vor der Flucht, spielen politische Kämpfe und Träume keine Rolle. Solidarität würde danach verlangen, eine politische Stimme wahrzunehmen und sich zu ihr eben solidarisch zu verhalten. Eine humanitäre Logik aber kümmert sich nur um Opfer, nicht um politische Subjekte.