In der Schweiz sammeln die Befürworter der Volksinitiative „Ja zum Verhüllungsverbot“ gegenwärtig Unterschriften. Ziel der Initiative ist, dass künftig niemand mehr im öffentlichen Raum sein Gesicht verhüllen darf. Verboten werden sollen Burkas und Verhüllungen, denen „kriminelle, zerstörerische oder vandalistische Motive zugrunde liegen“.
Mit dem Verhüllungsverbot soll auf Bundesebene erreicht werden, was im Kanton Tessin schon seit 2013 rechtskräftig ist. Doch auch in anderen Schweizer Kantonen werden Verhüllungsverbote längst diskutiert. In Basel etwa hat sich eine hitzige Debatte um die Verhüllung von muslimischen Frauen an den Vorfällen in einem Schwimmbad entfacht. Im August 2015 hatte der Sportamtleiter Stefan Howald, laut Tageswoche, eine Reihe von Vorschriften erlassen, die muslimische Badegeäste einschränken oder gleich ganz vom Besuch des Freibades Eglisee abhalten sollen. Vorausgegangen waren jahrelange Auseinandersetzungen, bei denen sich vor allem „ältere Stammgäste“ über das Verhalten von muslimischen Frauen in der ausschliesslich für Frauen reservierten Zone des Basler Gartenbades Eglisee beschwerten. Der Tagesanzeiger titelte bereits 2010 „Kampf der Kulturen im Basler Frauenbad“, und auch andere Medien berichteten von Konflikten im „Fraueli“.
Burka im Gartenbad
Der Streit entzündete sich daran, dass einige Badegäste sich an den Kopftüchern und Ganzkörper-Badeanzügen muslimischer Frauen störten, während diesen das männliche Badepersonal ein Dorn im Auge war. Zudem fühlten sich, wie es auf Online-Reports hiess, “Stammgäste zunehmend fremd und verdrängt, wenn sich immer mehr spontane Gruppen aus einem fremden Kulturraum auf dem relativ kleinen Rasen niederlassen, die das Frauen-Refugium ‘als muslimisches Bad oder als Picnic-Park betrachten’ (Howald)”. Eine im „Fraueli“ arbeitende Bademeisterin dementierte allerdings die Probleme: „Die ganze Sache wird vom Sportamt extrem aufgebauscht. Es braucht keine Regeln, die einzelne Frauen nur wegen ihrer Religion diskriminieren.”
Dieser ‚Kampf der Kulturen‘ blieb aber nicht nur auf die Vorfälle im Frauenbad beschränkt. Im bunten Treiben der Basler Fasnachtstage 2011 – wenige Monate nach dem Beginn des „Fraueli-Streits“ – tauchte eine grosse „Laterne“ auf, auf der augenscheinlich die vom muslimischen Schleier ausgelöste Ängste auf den populärkulturellen Punkt gebracht wurden: „Heil dir Helvetia – zieh jezt e Burka a“, hiess es da prägnant zu einem ebenso eingängigen Bild, begleitet von vermeintlich humoristische Sprüchen wie „Vo hinde schreit e Transvestit my Burkini isch mer zwyt“ [„Von hinten schreit ein Transvestit, mein Burkini ist mir zu weit“] oder „In Rom do goht-sene no vill myser do gilt e Burka als Kopfpariser“ [„In Rom geht’s ihnen noch viel mieser, da gilt eine Burka als Kopfpariser“ (=Kondom für den Kopf)].

Basler Fasnacht 2011; Bild: Barbara Lüthi
Mit viel gutem Willen könnte man behaupten, dass solche „Laternen“ in gut fasnächtlicher Manier Themen des vergangenen Jahres ironisch und spöttisch aufgreifen. Liest man sie jedoch als Ausdruck gesellschaftlicher Befindlichkeiten, dann spiegeln sich hier Bilder und Phantasien eines inszenierten „Kampfes der Kulturen“: Hier der freie, offene und aufgeklärte „Okzident“ mit Bikini, nackter Haut, unverschleiert und selbstbewusst; dort der unterdrückte, verschlossene „Orient“, verschleiert, infantil und stumm, wie Jana Häberlein pointiert kommentierte.
In den zitierten Versen auf der Laterne werden die muslimischen Frauen, die ein Kopftuch oder eine Burka tragen, überdies in deutlich abwertender Weise sexualisiert: Der „Kopfpariser“ ist das Zeichen einer monströsen, angsteinflössenden Frau mit/als Phallus, und die verhüllte Frau ist ein „Transvestit“. Die Körperfülle, die Grösse, das verhüllende Schwarz der muslimischen Frau nimmt einen zentralen Platz in diesen und ähnlichen Bildern ein; sie erscheint durchwegs als überbordend, wuchtig, bedrohlich. Schlimmer noch: Die muslimische Frau ist in die Rolle der Helvetia geschlüpft – eine der wichtigsten Staatspersonifikationen der Schweiz, die für Freiheit und Demokratie steht! Genau darin aber wirkt sie überaus lächerlich und deplatziert: Schleier und Demokratie vertragen sich nicht…
Bei längerem Hinschauen bleibt ein seltsames Unbehagen: Die verschleierten Frauen haben keine eigene Stimme (sie werden kommentiert), und die Details sind falsch (das Kopftuch des „Badistreits“ hat sich hier in eine Burka verwandelt, obwohl es sich bei der Abbildung auf den Laternen strenggenommen um eine Niqab handelt – auch wenn im Egliseebad laut Medien nie eine Frau mit Burka und Niqab gesehen wurde). Aber solche Details interessieren niemanden wirklich, die heterogenen Bedeutungen, Formen und Eigenheiten des Schleiers gelten letztlich als irrelevant. Denn es sind Polemiken, die ihre eigene Realität erschaffen: Bikini vs. Burka, inkompatible ‚Kulturen‘ also. Und immer wieder wird diese andere ‚Kultur‘ als Grund für die Differenzen gesehen – anstatt als Effekt eines spezifischen politischen Diskurses.
Die Differenz der Muslime
Debatten um die „Verschleierung“ treiben Europa schon seit Dekaden um. Vermutlich gibt es aber kein Stück Kleidung, das mehr politisiert als der „muslimische“ Schleier. In manchen Ländern – wie Frankreich und Belgien – ist das Tragen einer Burka oder eines Niqab mittlerweile gesetzlich verboten. In Teilen Spaniens, Hollands, Deutschlands und anderen Ländern darf das Kopftuch von Angestellten im öffentlichen Dienst nicht getragen werden, auch nicht von Lehrerinnen an Schulen – während Nonnen und Priester in voller Amtstracht lehren dürfen.
Wie also ist diese Differenz zu verstehen, wie ist sie zu beurteilen? Mit der Philosophin Martha Nussbaum kann man mit der einfachen Annahme beginnen, dass alle Menschen gleichermassen Träger der Menschenwürde sind. Regierungen sollten, so Nussbaum, diese Menschenwürde mit gleichem Respekt behandeln. Daran knüpft sich allerdings die Frage, was das konkret heisst und welche Beschränkungen religiösen Aktivitäten in einer pluralistischen Gesellschaft vernünftigerweise auferlegt werden dürfen? Sucht man nach Argumenten für solche Beschränkungen, dann dreht es sich vordergründig immer um Religion, Sicherheit und persönliche Freiheit. Um nur ein Beispiel zu nennen: Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf äusserte 2010, dass sie „gegen jede Form von Vermummung“ sei, da sie im öffentlichen Raum das Gesicht des Gegenübers sehen möchte, „nicht nur die Augenpartie“. Die persönliche Freiheit, so Widmer-Schlumpf, höre dort auf, wo sich andere dadurch bedrängt oder verunsichert fühlen.
Viele argumentieren so, in durchaus bester Absicht. Dennoch steckt genau in diesem scheinbar selbstverständlichen Rekurs auf ‚Offenheit‘ und ‚Unverhülltheit‘ als abendländische und/oder aufklärerische Werte – und als implizite Gegensätze zu normativ negativen Konnotationen wie ‚verhüllt’, ‚unoffen’, ‚verschleiert’ bzw. ‚unehrlich‘, ‚gefährlich‘, ‚bedrohlich’ – ein Problem. Denn offenkundig sind diese Freiheiten, auf die Widmer-Schlumpf und viele andere sich beziehen, ungleich verteilt: Was, wenn eine Muslima sich verunsichert fühlt, weil sie sich ohne Schleier – die sie als Frau ein Leben lang getragen hat und zum integralen Verständnis ihrer religiösen Identität gehört – „nackt“ und exponiert fühlt?

Islamic Veils, Quelle: princeofmasr.wordpress.com/
Noch brisanter aber ist das Argument, der Schleier bedrohe die „Rechte der Frauen“. Dahinter steckt, erstens, die Annahme, dass „islamische Länder“ und „muslimische Männer“ (im Kollektivsingular gedacht!) besonders dazu neigen, ihre Frauen zu unterdrücken und zu entwürdigen. Anthropologinnen wie Lila Abu-Lughod weisen schon seit Jahrzehnten auf die Gleichförmigkeit solcher wiederkehrender Bilder der unterdrückten muslimischen Frau hin („The oppressed woman. The veiled Muslim woman. (…) The woman ruled by her religion. The women ruled by her men.“) und halten dagegen, dass es nicht nur verschiedene Arten der Verschleierung gibt, die in verschiedenen Gemeinschaften sehr unterschiedliche Bedeutungen haben können; vielmehr dürfe Verschleierung nicht einfach mit einem Mangel an Handlungsfähigkeit verwechselt werden. Zweitens aber suggeriert der Verweis auf die „Rechte der Frau“, dass Zwang, „häusliche Gewalt“ und Unterdrückung spezifisch muslimische Probleme seien, und drittens verschleiert er im Wortsinn, dass westliche Gesellschaften immer noch durchdrungen sind von nicht selten pornographischen Zeichen und Praktiken männlicher Frauenverachtung.
Zweifellos ist Kritik an der „Verdinglichung“ von Frauen richtig; man muss die Verschleierung auch nicht bedingungslos verteidigen. Inkonsequent jedoch ist, Einwände gegen eine frauenfeindliche „Verdinglichung“ nur dann zu erheben, wenn es sich um die Kultur der ‚Anderen‘ handelt. Der Schleier hat sich zum Symbol einer als untragbar empfundenen Differenz entwickelt; das Verbot des Schleiers ist eine zutiefst symbolische Geste geworden, die die ganze muslimische Bevölkerung als Bedrohung für nationale Integrität und Harmonie projiziert. Im Schleier erkennt der Westen scheinbar das Zeichen schlechthin für eine ‚unassimilierbare Kultur‘.
Wechselvolle Geschichten
Heute gilt im Westen die Norm des unverschleierten Gesichtes als Ausdruck und Garant für die emanzipatorisch-moderne Ordnung der Gesellschaft, auch für die historisch noch keineswegs alte ‚Emanzipation der Frau’. Dabei wird gerne vergessen, dass die Verschleierung auch in Westeuropa eine lange, wechselvolle Geschichte hat. Die Historikerin Susanna Burghartz hat gezeigt, dass die Bedeutung der Verschleierung schon in der westeuropäischen Frühneuzeit vielfältig, oftmals widersprüchlich und wandelbar war. Sie konnte sowohl für Schicklichkeit stehen als auch für ein Zeichen der Lust oder Verführung. Haube, Schleier, Kinntuch und „Tüchli“ gehörten bis in die Reformation hinein zur Ausstattung von Frauen aus verschiedenen sozialen Schichten. Im protestantischen Basel des 17. und 18. Jahrhunderts etwa fungierte der Frauenschleier insofern als Projektionsfläche für Fragen gesellschaftlicher Ordnung, als damit eine Ausdifferenzierung beispielsweise zwischen fremd und eigen, reich und arm, ehrbar und unzüchtig vorgenommen werden konnte.
Im Zeitalter des Kolonialismus erhielt die Verschleierung wiederum eigene Konnotationen. ‚Nicht-westliche‘ Frauen wurden als unemanzipiert repräsentiert, die der ‚Aufklärung‘ bedürften. Der Logik von Gayatri Chakravorti Spivaks bekanntem Diktum „white men saving brown women from brown men“ zufolge mussten indigene Frauen durch europäische Kolonisatoren vor ihrer eigenen, angeblich Frauen verachtenden Kultur gerettet werden.
Mit ähnlichen semantischen Aufladungen waren schliesslich die Debatten während der US-Intervention 2001 in Afghanistan bestückt. Lady Bush unterstützte nicht nur die Absicht der Regierung ihres Mannes, George H. W. Bush, Terroristen im Zuge der „Operation Enduring Freedom“ zu bekämpfen, sondern sie mobilisierte – genauso wie zuvor feministische Organisationen, Hollywood Berühmtheiten und liberale wie konservative Politiker – gegen die massiven Repressionen der – anfänglich von den USA aufgerüsteten – Taliban gegenüber afghanischen Frauen. In diesem Sinne stellte die militärische zugleich auch eine „zivilisatorische“ Intervention im Namen der afghanischen Frauen dar, da der „Burka verschleierte Körper“ der afghanischen Frau, so Charles Hirschkind und Saba Mahmood, zum „sichtbaren Zeichen eines unsichtbaren Feindes wurde, der nicht nur ‚uns‘ Bürger des Westens, sondern unsere gesamte Zivilisation bedrohe.“
Ähnliche Argumente sind heute in der Schweiz zu hören. Walter Wobmann (SVP), einer der massgebenden Figuren hinter der Burka-Initiative, drückte es unmissverständlich aus: „Minarette, Burka, Niqab sind typische Symbole für den radikalen Islam, den in unseren Breitengraden niemand will.“ Stringent sind in dieser Logik Gesetze, welche diese ‚mangelhaften‘ und ‚unterdrückten‘ Subjekte zu Individuen nach europäischen Standards formen, Gesetze, die angeblich unemanzipierte Frauen von ihrem eigenen elenden Schicksal emanzipieren und damit eine weitere Radikalisierung der Schweizer Gesellschaft verhindern sollen.

Types of Islamic veils; Quelle: barringtonstageco.org
Es geht mithin um die Frage, wie die Mehrheitskultur Minderheiten – auch religiösen – begegnet; und ob Rechtsbestimmungen zum Tragen kommen sollen, die das Prinzip der gleichen Freiheit verletzen. In praktisch all diesen Debatten kommen übrigens Muslimas kaum je zu Wort: ‚Wir‘ sind es, die über ‚andere‘ reden und bestimmen. Damit aufzuhören und die ‚Anderen‘ nicht nur zu Wort kommen lassen, sondern auch – ganz im Sinne Martha Nussbaums – ernst zu nehmen, ist nicht nur eine Frage der demokratischen Verständigungskultur, es ist auch eine des Respekts. Kein Geringerer als der westliche Modepapst schlechthin, Giorgio Armani, hat dies bereits vor Jahren auf den Punkt gebracht, als er die Burka verteidigte: „Es ist eine Frage des Respekts gegenüber den Überzeugungen und der Kultur der Anderen. Wir müssen mit diesen Vorstellungen leben.“ Immerhin er wurde gehört. Nicht nur bei Giorgio Armanis Modeschauen, sondern auch bei so globalen Unternehmen wie dem japanischen Textilriesen Uniqlo sind Kopfschmuck und Schleier mittlerweile heimisch geworden.