Ein altes Kindergartenmantra lautet: „Was man sagt, ist man selber“. Mit dem Spruch soll so schon bei Vorschulkindern das Bewusstsein dafür geschärft werden, dass Beleidigungen ein Ausweis desjenigen sind, der sie losschickt, nicht desjenigen, an den sie sich richten. So können Beleidigungen wie ein Bumerang zum Absender zurückkehren. Auch wenn das nicht immer klappt – und auch wenn der Spruch angesichts des organisierten Hasses in den sozialen Netzwerken naiv erscheinen mag: die Blickrichtung stimmt. Was man sagt, ist man selber, du Armleuchter!
Wer sind die Hater?
Wenn man etwas Positives im Umgang mit der Ausbreitung von Hate Speech in den letzten Jahren beobachten kann, dann dies: Endlich führt der überbordende Hass dazu, den Fokus nicht mehr nur auf die Adressaten, sondern mehr und mehr auf die Absender zu lenken. Hater werden inzwischen immer öfter aus der Anonymität der Kommentarspalten geholt: juristisch wie im Verein Netzcourage, journalistisch wie in der Reportage Lösch Dich! über den organisierten rechten Hass oder in einem Bericht der Tageswoche über einen einzelnen notorischen Schweizer Hater, Martin Widmer. Ein journalistischer Meilenstein war vor zwei Jahren schon das Interview der beiden WOZ-Journalisten Daniel Ryser und Carlos Hanimann mit einem Facebook-Hasskommentator: Das Interview, eine unfreiwillige Selbstdemontage, führte die Fiktionen, das Begehren, aber auch die argumentativen Nöte, mit denen in diesem Fall Frauen (‚hässliche Feministinnen‘) und Migranten beschimpft wurden, erbarmungslos vor Augen.
Haben die Hater einen Namen, wird deutlich, dass es sich nicht um ein Massenphänomen handelt. Da spricht nicht das hassende Volk gegen die Elite oder gegen Linke, gegen Frauen oder gegen Schwule. Sondern da sprechen wenige Einzelne oder in Gruppen organisierte Trolle, rechte, meist männliche Aktivisten, politische Profiteure sowie Menschen, die damit Geld verdienen. Und es sprechen immer dieselben, wie eine Studie von Philip Kreißel in Kooperation mit dem Institut for Strategic Dialogue in London zeigte.

Quelle: nillesfm.com/comment-faire-un-zelda-boomerang
Weil sich die Minderheit als Mehrheit inszeniert, hat Jan Böhmermann kürzlich dazu aufgerufen, die Antitroll-Trollarmee „Onanista Germanica“ zu gründen. „Onanista Germanica“ parodiert den Namen der rechten „Jugendzimmer-Faschos“ (Böhmermann) „Reconquista Germanica“. Mit der Antitroll-Trollarmee soll nun die tatsächliche Mehrheit die Accounts der Wut verbreitenden Trolle fluten. Damit das klappt, hat Böhmermann auch gleich zwei Listen mit Trollen mitgeliefert, die man „blocken, melden oder mit Liebe überschütten“ kann – eine solidarische Dienstleistung, denn Solidarität muss ja nicht bedeuten, die Betroffenen einfach zu bedauern, sondern den Blick umzulenken auf diejenigen, von denen der Hass ausgeht.
Vielleicht ist es noch etwas früh, von einem Bumerangeffekt zu sprechen, wenn es um die Realität der Hassrede geht. Aber der gezielte Blick in die andere Richtung ist doch ein erstes Zeichen dafür, dass der Hass an den Absendern selbst kleben bleibt. Eine solche Richtungsänderung ist aber auch in der Theorie nötig. Denn diese greift in der Regel, wenn es darum geht, die Wirksamkeit von Hate Speech zu erklären, auf Sprechakttheorien zurück, die meist nur in eine Rederichtung denken.
Sprechakte verlaufen stets in zwei Richtungen
Beleidigungen sind nicht an und für sich wirksam. Das hat schon der Philosoph John L. Austin 1962 in seiner berühmten Studie zum Tun der Sprache (How to do Things with Words) bemerkt. Er unterschied damals zwischen zwei verschiedenen performativen Sprechakten: die einen tun genau das, was sie aussagen (illokutionäre Sprechakte wie der Taufakt), die anderen ziehen bestimmte Effekte und Wirkungen nach sich (perlokutionäre Sprechakte). In keinem der Fälle erfolgt die Wirkung jedoch durch das bloße Sprechen. Sprache ist nicht ontologisch oder gottgegeben performativ. Vielmehr hängt die Wirksamkeit von Sprache von vielem ab, u.a. von der Machtposition des Sprechenden, medialer Aufbereitung und Vervielfältigung – und nicht zuletzt von gesellschaftlichen Vorstellungen über eine solche Wirksamkeit.

Tyson Cole, Quelle: thedeepend-comic.blogspot.ch
Die gewollte Beleidigung dürfte wirkungslos bleiben, wenn es für den Machtanspruch, den Sprecher sich meist gezielt herausnehmen, keine offenen Ohren gibt. Nur dann, wenn eine Gesellschaft die Position des Sprechers als letztlich wirkmächtig wertet oder gar akzeptiert, kann die versuchte Beleidigung zu einer wirksamen Beleidigung werden.
Es gibt Gesellschaften, Religionen oder politische Systeme, die Sprache als unmittelbar wirksam denken, die z.B. davon ausgehen, dass ein Fluch direkt wirkt oder eine Beleidigung die gesamte Familienehre irreparabel verletzt. In solchen Gesellschaften ist Sprache nicht wirksamer als anderswo, sie wird nur als wirksam konzipiert und gesellschaftlich als solche akzeptiert.
Was beim Wunsch, mit Sprache zu handeln, mit dem Sprecher passiert, also dem Absender, dafür interessierte sich Austin nicht. Er konzipierte Performativität – Handeln durch Sprache – als Einbahnstraße. Judith Butler hat in ihrer einflussreichen Studie Excitable Speech (1997; auf Deutsch: Hass Spricht) Austins Theorie weitergedacht und zugleich an eine Überlegung des französischen Strukturalisten und Marxisten Louis Althusser angeknüpft, die den Blick auf den Adressaten nochmals verstärkt: Althusser geht davon aus, dass in der ‚christlich-abendländischen‘ Kultur der und die Einzelne grundsätzlich durch ‚Anrufung‘ konstituiert wird. Das heißt: Über die Art, wie (und zunächst über die Tatsache, dass) ein Individuum bei einem Namen gerufen und durch Sprechakte geprägt wird, wird es zu einem Subjekt. Das Subjekt ist in diesem Verständnis ein ‚subjectum‘ im lateinisch-wörtlichen Sinne: Es ‚unterliegt‘ etwas anderem, in diesem Fall der Gewalt der Sprache, konkretisiert in Sprechakten anderer Sprecherinnen und Sprecher.
Wenn Butler und Althusser Recht haben, wenn also unsere Gesellschaft Sprechakte vor allem auf den Empfänger fixiert denkt, dann ist es nötig, genau diese Fixierung als Problem zu sehen und zu kritisieren.
„Zurücksprechen“ und/oder „Von-selbst-Zurückkommen“
Versucht man, den Absender ins Geschehen einzubeziehen, dann stellt sich die Frage, warum dieser von seinem ‚eigenen‘ Sprechakt nicht ebenfalls betroffen sein soll – d.h. warum die Sprechakttheorien ihn als denjenigen, auf den auch seine eigene Rede wirken dürfte, ausblenden? Mit der Umkehrung der Blickrichtung wäre auch und gerade die ‚abendländische‘ Tradition der Anrufung (und ihrer Sprachrohre) zu hinterfragen.

Quelle: memecenter.com
Die Arbeitshypothese könnte lauten: Es gibt keine (positive oder negative) Konstruktion des anderen, ohne dass so etwas wie eine Selbstdefinition des Absenders passiert. Diese geschieht durch sein eigenes Sprechen. Anders gesagt: Hate Speech richtet sich immer auch performativ auf den Sprecher. Diese ‚Selbstkonstitution‘ des Absenders müsste für die sprachphilosophische und gesellschaftliche Debatte um Hate Speech ein zentraler Punkt sein. Dann ‚ist‘ das Sprechen nicht einfach performativ in dem Sinne, dass es den anderen beleidigt, auch wenn dies die Absicht sein mag. Sondern es wird deutlich, dass das Sprechen – autoperformativ – vor allem den Sprecher selbst charakterisiert (was nicht heißt, dass es für den anderen folgenlos bleibt).
Butler interessiert sich für den Absender vor allem dann, wenn es darum geht, Hate Speech aktiv misslingen zu lassen. In den Fällen spricht sie von einem „Zurücksenden der Drohung“, von einem „Zurücksprechen“ oder „Gegensprechen“. Mit dem Gegen- und Zurück- ist gleichzeitig gemeint, die losgeschickte Drohung selbst umzuwerten und dadurch gar nicht erst ankommen zu lassen: „Nigger“, „Bitch“, „Kanake“ sind Beispiele eines solchen umwertenden Zurücksprechens. Die als Beleidigungen abgesandten Wörter wurden in Subkulturen zu schillernden Selbstbezeichnungen gegen den ursprünglich verletzenden Sinn.
In dieser Logik ist das Misslingen allerdings erneut vom Empfänger her gedacht – nur dass dieser sich dann selbst in die Position des Sprechers bringt. Im Modell des Bumerangs hingegen wird von Anfang an der Akt der Selbstqualifikation des Sprechers mitberücksichtigt.
Eine derartige „Selbstbeleidigung“ hat die deutsche Komikerin Idil Baydar in ihrer Rolle als Jilet Ayşe – einer 18-jährigen Kreuzberger Türkin – künstlerisch auf den Punkt gebracht. Unter dem Motto „Wir sagen uns heute alles in die Fresse“, „gleich direkt drauf“, „jetzt können wir uns alles sagen, ich bin dabei“ karikiert sie in ‚Kanak Sprak‘ die Obszönität aller, die gerade gegen die angebliche Political-Correctness-Diktatur ihre persönlichen Ressentiments als „endlich mal Tacheles reden“ verkaufen. Baydar lenkt die Aufmerksamkeit auf die Hassredner:
Wenn ich zu dir ‚Fotze‘ sage – ja: Was sagt das über mich aus? Mal drüber nachdenken: Was sagt das eigentlich über mich aus, wenn ich Dich so betitle? Was heißt das eigentlich? Wer bin ich? Ist mein Niveau höher? […] Wer ist verantwortlich, wenn ich dich ‚Fotze‘ nenne, du oder ich? Du, weil du eine Fotze bist, oder ich, weil ich dich so bewerte? […] Man hat das alles selbst in der Hand. So, wie ich dich sehe – habe ich selbst in der Hand.
Baydar macht deutlich: Hate Speech gibt zuallererst Auskunft über den Rassismus, den Sexismus, den Nationalismus, das Ressentiment und also vor allem das Problem des Absenders.
Vielleicht hat Baydar sogar Butlers Buch gelesen, zumindest erinnert der Satz „Man hat das alles selbst in der Hand“ stark an jenen, den Butler in ihren Ausführungen zu Hate Speech aus Toni Morrisons Nobelpreisrede von 1993 zitiert: „Es liegt in eurer Hand.“ Morrison beschloss mit diesem Satz ihre Parabel über die Macht der Rede. Sie meinte damit ebenfalls die Hände derer, die sprechen, und nicht die Hände derer, die angesprochen werden. Die Parabel erzählt von zwei Kindern, die eine blinde Frau auffordern zu raten, ob der Vogel in ihrer Hand tot oder lebendig sei. Die blinde Frau weist die Frage an die Kinder zurück, indem sie sagt. „Es liegt in eurer Hand.“.
Damit sagt die blinde Frau etwas ganz Ähnliches wie der vermeintlich naive Kindergartenspruch: Das „Zurücksprechen“ der blinden Frau gibt nicht nur die Beleidigung zurück, es besagt zugleich, dass der Absender es in der Hand hat, wie er spricht, wie er handelt und wie er Gewalt unterlassen kann.
Wenn die Wirksamkeit von Sprache nicht in der Sprache selbst liegt, sondern in der Art und Weise, wie eine (größere oder kleinere) Gesellschaft Sprache denkt und versteht, dann ist die Wirkung von Sprache auch veränderbar. Das ist im Übrigen auch eine der zentralen Thesen aus Butlers Buch. Denn in einer Gesellschaft zu sprechen, die davon ausgeht, dass es primär der Absender ist, der sich durch Hate Speech definiert, wäre Hassrede vor allem ein persönliches Risiko für denjenigen, der sie von sich gibt.