Der polnische Architekt und Stadtaktivist Franciszek Sterczewski war der Initiator der „Lichterketten-Proteste“ in Poznań (Posen). Jörg Scheller sprach mit ihm über die politische Situation in Polen, die Sprache der Politik und seine gewaltlosen, post-parteiischen Formen des Widerstands.

  • Jörg Scheller

    Jörg Scheller ist Professor für Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste. Er schreibt regelmäßig Beiträge unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung, DIE ZEIT, frieze magazine und ist Kolumnist der Stuttgarter Zeitung. Bereits als 14-Jähriger stand er mit einer Metalband auf der Bühne. Heute betreibt er einen Heavy Metal Lieferservice mit dem Metal-Duo Malmzeit. Nebenbei ist Scheller zertifizierter Fitnesstrainer. www.joergscheller.de
  • Franciszek Sterczewski

    Fran­ciszek Ster­c­zewski (*1988) ist Archi­tekt und Akti­vist sowie Orga­ni­sator der Lich­ter­ketten-Proteste in Poznań.

Jörg Scheller: Fran­ciszek, du bist Initiator und, zusammen mit anderen, Orga­ni­sator der soge­nannten „Lichterketten-Proteste“ in Poznań. Tausende Menschen aus allen Gesell­schafts­schichten nahmen daran teil, um ihre Unzu­frie­den­heit über die Pola­ri­sie­rung der polni­schen Gesell­schaft und die Politik der regie­renden rechts-nationalistischen Partei PiS [Prawo i Spra­wi­ed­li­wość, Recht und Gerech­tig­keit] auszu­drü­cken. Wie bist du auf die Idee gekommen, die Menschen auf dem Plac Wolności [Frei­heits­platz] zu versam­meln? Was sind deine Absichten?

Fran­ciszek Ster­c­zewski (*1988) ist Archi­tekt und Akti­vist sowie Orga­ni­sator der Lichterketten-Proteste in Poznań.

Fran­ciszek Ster­c­zewski: Ich hatte über das Internet von den Kerzen­pro­testen vor dem Obersten Gericht in Warschau erfahren. Diese wurden von der Polni­schen Rich­ter­ver­ei­ni­gung „Iustitia“ orga­ni­siert. Ich rief die Verei­ni­gung an und fragte, ob sie die gleiche Aktion in Poznań durch­führen wollten, und dass ich das unter­stützen würde. Sie antwor­teten: Nein, wir konzen­trieren uns auf Warschau. Also nur zu, mach es selbst! Und so entschloss ich mich dazu, nicht zuletzt, weil ich bereits lang­jäh­rige Erfah­rung im Orga­ni­sieren öffent­li­cher Anlässe in Poznań und im Versam­meln von Leuten habe. Doch wie sollte ich das genau machen? Ich wusste, dass die Menschen aggres­sive, pola­ri­sie­rende Sprüche rufen würden, darum legte ich einige Grund­re­geln fest: keine Fahnen, keine Parolen, nur Schweigen. Nur im Schweigen konnten wir über­haupt beiein­ander sein. Es ist das einzige Geräusch, das wir alle verstehen können. Ich dachte, dass etwa fünf­hun­dert Leute kommen würden. Doch Tausende kamen. Das war im Juli, und so fing es an.

Schweigen kann auch eine Form der Kommu­ni­ka­tion sein. Je nach Kontext nimmt es eine sehr spezi­fi­sche Bedeu­tung an.

Genau. Und manchmal ist es viel lauter als die vulgäre Sprache der heutigen Politik. Nicht nur in Polen – auch die Sprache von Donald Trump, Geert Wilders oder Marine Le Pen. Und ich habe wirk­lich genug von dieser Sprache.

Die Verro­hung der poli­ti­schen Sprache ist erschre­ckend. Verbale Gewalt ist Türöffner der physi­schen Gewalt. Und diese Tür steht bereits weit offen…

Im März dieses Jahres fuhr ich nach Danzig, um das Museum des Zweiten Welt­kriegs zu besu­chen. Ich wollte das Museum sehen, bevor die PiS („Prawo i Spra­wi­ed­li­wość», die regie­rende „Recht und Gerechtigkeits“-Partei) die Ausstel­lung verän­dern würde. Fünf Stunden verbrachte ich dort, es ist eine riesige Ausstel­lung. Am Anfang gibt es einen Bereich zur Vorkriegs­zeit und der Propa­ganda in den tota­li­tären Staaten, beispiels­weise in Deutsch­land, Italien, Russ­land. Es wurde offen­sicht­lich, dass Krieg mit Worten beginnt, mit medialer Propa­ganda und mit der Art und Weise, wie die Menschen mitein­ander reden. Das hat mich wahn­sinnig beein­druckt. Wir müssen für eine gute Sprache kämpfen. Wir können nicht einfach dasitzen und abwarten, was als nächstes passiert.

Viele Leute denken, dass die Sprache kein Thema ist. Weil sie so allge­gen­wärtig ist. Alle benutzen sie. Wir denken darüber nicht wirk­lich nach, weil das Spre­chen so natür­lich scheint wie das Atmen. Doch Sprache ist alles andere als natür­lich. Wir müssen Verän­de­rungen in der Sprache sorg­fältig beob­achten und darauf reagieren. Was beispiels­weise Trump tut, ist mitunter weniger gefähr­lich, als was er sagt und wie er es sagt. Als Poli­tiker hat er es immerhin mit insti­tu­tio­na­li­sierter Gewal­ten­tren­nung und Kontrolle zu tun. Im Bereich der Sprache aber, in seinen Reden, Inter­views und beson­ders auf den Social-Media-Kanälen, kann er Krawall schlagen, wie es ihm nur gefällt.

Fran­ciszek Ster­c­zewski in Poznań, Quelle: www.gloswielkopolski.pl

Es handelt sich dabei um eine schwere Krank­heit, die wir nicht von einem Tag auf den anderen kurieren können. Hier geht es um Jahre und Jahre harter Arbeit. Ich träume von einer Gras­wur­zel­be­we­gung in Polen, die nicht darauf aus ist, die große Politik auf einen Schlag zu verän­dern. Die Wipfel der Bäume werden wir nicht ändern, aber viel­leicht können wir im Wurzel­werk etwas bewegen. Und ich bin echt scho­ckiert, dass die poli­ti­sche Oppo­si­tion in Polen so etwas nicht sieht. Sie verfügt über keine fundierte Diagnose der Gesell­schaft; die PiS aber schon. Die PiS weiß genau, wo die Grund­be­dürf­nisse der Menschen liegen. Die Menschen brau­chen Wohnungen, also hat die PiS das Programm Mieszkanie+ einge­führt [ein subven­tio­niertes Wohn­pro­gramm]. Die Menschen haben Kinder, also haben sie das Programm 500+ einge­führt [eine finan­zi­elle Unter­stüt­zung für Fami­lien, vergleichbar mit dem Kinder­geld in Deutsch­land]. Das ist eigent­lich sehr sozialistisch…

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…obwohl die PiS sich als anti­so­zia­lis­tisch und anti­kom­mu­nis­tisch insze­niert. Glaubst du, dass diese Programme auf längere Frist nach­haltig sind?

Ich weiß nicht, ob sie Polen wirk­lich verän­dern werden – viel­leicht sind sie nur symbo­lisch. Es wird noch einige Jahre dauern, bevor man das beur­teilen kann. Trotzdem, alleine die Art, wie die PiS über die Programme spricht – sie kommu­ni­zieren wirk­lich mit den weniger Privi­le­gierten, den gewöhn­li­chen Menschen und Fami­lien. Sie haben eine posi­tive Stra­tegie, ein posi­tives Programm, nicht nur nega­tive Kritik. Und ich denke, dass die libe­rale und linke Oppo­si­tion kein posi­tives Programm hat. Sie haben keine klare Vision, oder viel­leicht teilen sie diese auch einfach nicht mit. Sie sehen, dass der Patient krank ist, doch sie wissen nicht, wie sie ihn heilen sollen. Sie wollen ihm den Arm ampu­tieren, weil er gebro­chen ist.

Aus der Außen­per­spek­tive scheint die poli­ti­sche Oppo­si­tion in Polen tatsäch­lich eher schwach und ineffizient.

Ich sage dir, was die Oppo­si­tion in Poznań im Moment macht. Die libe­rale Partei Nowo­c­zesna [Die Moderne] trom­melte viele Leute zusammen. Sie hatten ein riesiges Poster mit den Gesich­tern derje­nigen PiS-PolitikerInnen, die für das neue Gesetz gestimmt hatten, also das Gesetz, das dem Justiz­mi­nister die Kontrolle über das Oberste Gericht gibt. Natür­lich ist dieses Gesetz eine Kata­strophe. Aber die Gesichter auf einem Poster abzu­bilden, das ist wie in einem Western-Film – Wanted, dead or alive! Ist das nicht verrückt? Sie nennen sich Nowo­c­zesna, also „die Moderne“, aber sie verwenden Stra­te­gien aus dem 19. Jahrhundert!

Und wenn sich jemand wider­spricht, profi­tieren die Gegne­rInnen davon ungemein … 

Genau. Deshalb hatte ich auch Angst, dass diese Menschen­menge zu einem PiS-Büro geht und die Fens­ter­scheiben einschlägt oder so etwas. Das wäre das Schlimmste – oder eher das Beste, nämlich für die PiS. Es würde sie zu Opfern machen. Hass, egal in welcher Form, hat die Energie eines Bume­rangs: Er kehrt zu Dir zurück. Aber das ist natür­lich sehr schwer zu kommu­ni­zieren. Jeder und jede fühlt sich heute zuneh­mend berech­tigt, Hass nach außen zu tragen. Und sie sehen nicht, dass dieser Hass zu ihnen zurück­kommen und sie heim­su­chen wird.

Das bringt uns zurück zur Frage der Kommu­ni­ka­tion. Wie hat sich die Kommu­ni­ka­tion mit und unter den Protes­tie­renden auf dem Plac Wolności entwickelt?

An den Aktionen entwi­ckelten wir tatsäch­lich eine andere Kommu­ni­ka­ti­ons­form. Als ich zusammen mit Rich­terin Olimpia Barańska-Małuszek von der Verei­ni­gung „Iustitia“ das erste mal auf den Plac Wolności ging, setzten wir nicht mal ein Laut­spre­cher­system ein. Ich erzählte den Anwe­senden einfach, weshalb ich gekommen war, und dass dieje­nigen, die mit mir einig waren, ein Licht anzünden sollten. Małuszek las eine Stel­lung­nahme der Rich­te­rInnen vor. Das war alles.

Foto von den ersten Lich­ter­ket­ten­pro­testen in Warschau. Quelle: www.deutschlandfunk.de

Das war am Tag Eins. Aber bestimmt gab es danach kriti­sche Stimmen. Ich kann mir vorstellen, dass viele Leute argu­men­tierten, dass Schweigen als poli­ti­scher Akti­vismus nicht ausreiche.

Tatsäch­lich beschwerten sich einige Personen: Was wollt ihr mit diesem Schweigen bezwe­cken?! Das wird keinen Eindruck auf die PiS machen! Also dachte ich, gut, machen wir etwas Lärm. Aber ich sah den Hass in dieser wütenden Menge. Wir mussten einen Weg finden, mit den Emotionen umzu­gehen und die Span­nung zu verrin­gern. Am ersten Tag hieß ich alle Leute will­kommen: „Ich begrüße alle Poli­tiker, ich begrüße alle Mecha­niker, ich begrüße alle Lehre­rinnen, ich begrüße alle Anwäl­tinnen, ich begrüße alle gesell­schaft­li­chen Klassen“, und so weiter. Denn meiner Meinung nach hat jedeR Anspruch auf ein unab­hän­giges Justiz­system. Das ist ein grund­le­gendes Menschen­recht. Deshalb begrüßte ich alle. Doch während ich das tat, begannen die Leute zu klat­schen. Was dazu führte, dass sie gar nicht verstehen konnten, wen ich da begrüßte. Also führte ich am zweiten Tag ein neues Schema ein. Ich sagte: „Ich begrüße die Mecha­niker“ und forderte die Menge auf, einmal zu klat­schen. Dann sagte ich: „die Köchinnen“. Ein Klat­schen. „Die Lehrer.“ Ein Klat­schen. Und so weiter. So wurde es mehr zu einer Art Hip-Hop-Performance – okay Leute, ich will euch hören! Es war wirk­lich sehr lustig, denn wir haben Linke, Rechte und Gemä­ßigte begrüßt – eben alle, wie ich schon gesagt habe. Ich habe mich auch bewusst rechter bezie­hungs­weise der PiS-Sprache bedient. Ich sagte: „Ich begrüße Vege­ta­rier, Radfah­re­rinnen und Intel­lek­tu­elle“, das heißt all jene, die von den PiS-PolitikerInnen herab­ge­setzt werden.

Ich nehme an, die Veran­stal­tung beschränkte sich nicht auf das Begrüßen der Versammelten?

Nach der Begrü­ßung riefen wir nicht nur nega­tive, sondern auch posi­tive Parolen und konkrete Forde­rungen, etwa „Wir wollen das Veto!“ [des polni­schen Präsi­denten Andrzej Duda gegen die PiS-Reformen]. Wir haben aber keine verun­glimp­fende Sprache verwendet. Das war absolut verboten. Danach gab es einen weiteren Teil: Alle waren einge­laden, vor der Menge zu spre­chen. Das heißt, alle außer den Poli­ti­ke­rInnen. Ich wollte verhin­dern, dass die Versamm­lung durch Partei­po­litik instru­men­ta­li­sierte wurde. Also haben alle mögli­chen Leute gespro­chen, Sozio­lo­gInnen, Rich­te­rInnen, eben alle mögli­chen Bürge­rInnen. Ich freute mich über die Medi­en­prä­senz. Die Medien haben live vom Plac Wolności gesendet, während voll­kommen zufäl­lige Menschen ihre Meinung öffent­lich kund­taten. Natür­lich waren auch PiS-WählerInnen darunter, was in krassem Gegen­satz zum fort­wäh­renden polnisch-polnischen Krieg im Parla­ment stand. Ich hatte das nicht erwartet. Es entpuppte sich aber immerhin als Versuch, eine Brücke über den Graben zu bauen, der die PiS-WählerInnen von den linken und Mitte-Links-WählerInnen trennt. Wir sind alle verschieden. Doch es ist möglich, zusam­men­zu­leben, solange wir uns nicht radikalisieren.

Meinen eigenen Beob­ach­tungen zufolge offen­bart sich die Radi­ka­li­sie­rung der polni­schen Gesell­schaft, beson­ders der soge­nannten „Mitte der Gesell­schaft“, vor allem an Veran­stal­tungen zu Ehren wich­tiger Ereig­nisse der polni­schen Geschichte.

In dieser Hinsicht ist ein Vergleich zwischen Poznań und Warschau inter­es­sant. Am 11. November feiert Poznań den Martinstag. Unsere Haupt­straße trägt den Namen des heiligen Martins. Der Martinstag ist ein Fami­li­en­an­lass, alle essen Rogale Świę­to­m­ar­cińskie [Posener Martins­hörn­chen, eine lokale Spezia­lität], haben Spaß und lauschen den Konzerten vor dem Schloss, das von den Deut­schen als Resi­denz für Kaiser Wilhelm II. erbaut wurde. Es ist erstaun­lich, dass niemand mehr dieses Gebäude als ein deut­sches Gebäude versteht. Es ist jetzt ein Posener Gebäude.

Aller­dings feiert Polen am 11. November auch den Unab­hän­gig­keitstag. Es gibt zahl­lose Veran­stal­tungen, Reden von Poli­ti­kern, Armee­pa­raden und so weiter. Alle sind fürch­ter­lich ernst, obwohl es ein Tag der Freude sein sollte. Natio­na­lis­tInnen instru­men­ta­li­sieren diesen Tag für ihre spezi­fi­sche Partei­po­litik. Der Unab­hän­gig­keits­marsch in Warschau ist wirk­lich angst­ein­flö­ßend, denn einige Anführer des Marsches skan­dieren oft rassis­ti­sche und xeno­phobe Parolen…

Was nicht einmal Sinn ergibt, wenn man an die patrio­ti­schen Ideen des ersten Präsi­denten der Zweiten Polni­schen Repu­blik (1918–1939/45), Józef Piłsudski (1867–1935), denkt. Er war einer­seits ein mili­tanter und auto­ri­tärer sozi­al­na­tio­na­lis­ti­scher Roman­tiker, ande­rer­seits aber ein Philo­semit. Seine Vision des neuen unab­hän­gigen Polens war eine multi­kul­tu­relle, multi­eth­ni­sche Repu­blik in der Tradi­tion der „Goldenen Ära“ des 16. und 17. Jahrhunderts.

Wir haben in Polen zwei sich zuwi­der­lau­fende patrio­ti­sche Tradi­tionen. Eine stammt, wie du gesagt hast, von Józef Piłsudski. Die andere kommt von Roman Dmowski [1864-1939], der ein äußerst chau­vi­nis­ti­scher und anti­se­mi­ti­scher Poli­tiker war. Die PiS reiht sich in diese Tradi­tion des Natio­na­lismus ein. Es ist kein Zufall, dass der Unab­hän­gig­keits­marsch in Warschau am Dmowski-Kreisel [Rondo Romana Dmow­skiego] beginnt. So feiert Warschau den 11. November. Einmal gab es auch einen natio­na­lis­ti­schen Marsch in Poznań. Die Teil­nehmer riefen: „Poznań ist eine natio­nale Stadt!“. Ich habe einen Kommentar auf Face­book veröf­fent­licht, in dem ich schrieb: „Poznań ist eine inter­na­tio­nale Stadt! Das ist, was ihr rufen solltet!“ Denn im 20. Jahr­hun­dert war die Inter­na­tio­nale Messe Poznań der Motor der Stadt und formte deren Iden­tität. Auch heute ist die Messe noch wichtig, aber im Kommu­nismus und sogar vor dem Zweiten Welt­krieg war sie Haupt­an­trieb der Stadt. Es gibt nicht viele Städte in Polen mit so inter­na­tio­nalen Verbin­dungen. Poznań war – und ist immer noch –  ein Fenster zur Welt. Unser inter­na­tio­naler Charakter ist unsere Iden­tität. Wer das nicht sieht, ist kein Patriot, sondern ein Heuchler. Und ich bin stolz darauf, dass Poznań keine Stadt ist, wo die Leute TV-Übertragungswagen anzünden oder sich Schar­mützel mit der Polizei liefern. Hier bauen wir einen Geist der Zusammengehörigkeit.

Würdest du Poznań als eine Hoch­burg des libe­ralen, inter­na­tio­nalen Polens bezeichnen?

Viel­leicht ist es das, aber die Stadt ist auch gespalten. Unser Stadt­prä­si­dent Jacek Jaśko­wiak ist zum Teil mitver­ant­wort­lich dafür, dass sich diese Spal­tung noch verstärkt. Manchmal forciert er sein progres­sives Programm zu stark. Er hat gute Ideen, schafft es aber nicht, diese ausrei­chend zu kommu­ni­zieren. Er macht vieles richtig, doch er erklärt zuwenig, weshalb er das macht, was er macht. Wrocław (Breslau), Słupsk und Trój­mi­asto [Drei­stadt, die Metro­pol­re­gion der Städte Gdańsk (Danzig), Gdynia und Sopot] sind eben­falls libe­rale Städte. Słupsk zum Beispiel wird von Robert Biedroń regiert, dem Hoff­nungs­träger der polni­schen Linken, der sich hervor­ra­gend auf das Kommu­ni­zieren seiner Ideen versteht. Es gibt also mehr als nur Poznań. Nichts­des­to­trotz gibt es in Wrocław auch radi­kale Natio­na­listen. Vor nicht allzu langer Zeit haben sie sogar eine Juden-Puppe verbrannt! Es ist unglaub­lich. In Poznań sind wir viel­leicht etwas vernünf­tiger. Natür­lich gibt es hier Rechte und natür­lich auch radi­kale Grup­pie­rungen. Aber ich denke, dass sie weniger zahl­reich sind als woanders.

Im 18. Jahr­hun­dert waren es genau die inneren Strei­tig­keiten und die Unei­nig­keit der PolInnen, was dem Nieder­gang und schließ­lich den drei Teilungen der Rzecz­pos­po­lita (Repu­blik) den Weg berei­tete. Hätten die polni­schen Adligen ein Einheits­ge­fühl oder zumin­dest das Verständnis dafür gezeigt, dass eine Zusam­men­ge­hö­rig­keit notwendig war, wäre es Preußen, Russ­land und Öster­reich nicht so leicht­ge­fallen, die polni­schen Gebiete zu erobern und unter sich aufzu­teilen. Und jetzt spalten die Natio­na­listen die Nation für das angeb­liche Wohl der Nation. Droht Polen die Gefahr, dass sich die Geschichte wieder­holt oder eher: wieder­holt wird? Und siehst du eure über- oder post-parteilichen Akti­vi­täten in der Zivil­ge­sell­schaft als Versuch, das zu verhindern?

Letztes Jahr feierten wir das 60-jährige Jubliäum des Posener Aufstands gegen den Kommu­nismus. Es war einer der trau­rigsten Tage meines Lebens. In Poznań gab es eine Veran­stal­tung mit dem Staats­prä­si­denten Andrzej Duda [der enge Verbin­dungen zur PiS hat und als Mario­nette von PiS-Parteipräsident Jarosław Kaczyński gilt] und dem ehema­ligen polni­schen Präsi­denten Lech Wałęsa [einer der Anführer der Solidarność-Bewegung, die das Ende der Sowjet­union einlei­tete], an der Tausende von Menschen teil­nahmen. Die Veran­stal­tung fand vor dem Denkmal des Posener Aufstands in der Nähe des Schlosses statt. Während Wałęsas Rede klatschten einige Leute. Andere buhten Wałęsa aus und riefen „Geh nach Hause, Bolek!“ [Wałęsas Code­name als mutmaß­li­cher Agent des polni­schen Geheim­diensts im Kommu­nismus]. Während Dudas Rede war die Situa­tion umge­kehrt. Einige Leute klatschten, während andere buhten und „Geh nach Hause!“ riefen. Das war keine Gesell­schaft. Es war eine Zusam­men­kunft feind­li­cher Stämme. Jeder Stamm hatte seine eigenen Grund­sätze und seine eigene Flagge. Außerdem war eine Gruppe von Radi­kalen da, Fußball­fans, die riefen: „Eins mit der Sichel, eins mit dem Hammer!“, was so viel heißt wie: Nieder mit dem Kommu­nismus! Aber das war eine Minder­heit, viel­leicht fünfzig Leute. Für mich war der Graben zwischen den rest­li­chen Teil­neh­me­rInnen viel trau­riger. Ich dachte: „Ach du meine Güte, der Bürger­krieg ist nur noch eine Frage der Zeit!“ Ich hatte Angst vor einem polni­schen Maidan. Ich denke, dass ein Maidan-Szenario in Warschau durchaus möglich ist. Deshalb wollte ich dieses Jahr, als ich die Proteste in Poznań zu orga­ni­sieren begann, eine Alter­na­tive zu Teilung und Pola­ri­sie­rung aufzeigen.