Die ‚linken‘ Parteidiktaturen im ehemaligen Osteuropa ignorierten das Grundgesetz, heute wird es von ‚rechts‘ an parteipolitische Interessen angepasst. Warum ‚links‘ und ‚rechts‘ als Unterscheidung nichts mehr taugt und was man von Bürgerrechtsbewegungen lernen kann.

Es war der jugo­sla­wi­sche Staats­chef Josef Broz Tito, der mit einer rheto­ri­schen Perle seinem Unmut über Richter und Justiz freien Lauf liess. Mit: „Halten wir uns nicht an den Gesetzen fest wie ein Betrun­kener am Zaun“ oder „Gewisse Richter halten sich am Gesetz wie Betrun­kene am Zaun fest“ gab er seinen Genossen zu verstehen, dass man es mit dem Gesetz nicht so eng sehen müsse. Er sagte dies nicht als einfa­cher Bürger, der gele­gent­lich einen Joint raucht oder bei Rot über die Ampel fährt, sondern als Staats­chef. Und er meinte damit keine Baga­tell­de­likte, sondern die Anwen­dung der Grund­ge­setze in der Praxis. Diese anzu­wenden, so seine Ansicht, sei nicht immer im Inter­esse der Politik, gemeint war: der Partei. „Wir“, die Partei, der Staat, ja sogar die Justiz selbst solle bzw. müsse sich nicht immer an die Gesetze halten. Da sollten sich „gewisse Richter“ nicht so haben.

Mit einer solchen Auffas­sung von Politik und Gesetz war Tito nicht allein. Ganz Osteu­ropa hatte zur Zeit der Partei­dik­ta­turen ein eher saloppes, um nicht zu sagen: verbre­che­ri­sches Verhältnis zum Grund­ge­setz. Sie waren in genau diesem Sinne Unrechts­staaten, weil sich Rechts­staaten eben dadurch auszeichnen, dass das zugrun­de­lie­gende Recht ange­wendet wird. Zwar gab es in diesen Partei­dik­ta­turen eine Verfas­sung, die den Bürgern Rechte garan­tierte, zum Beispiel Rede­frei­heit, Pres­se­frei­heit, Kundgebungs- und Versamm­lungs­frei­heit, Frei­heit der Durch­füh­rung von Stra­ßen­um­zügen und -demons­tra­tionen; der Staat hielt sich aber nicht an die Einhal­tung dieser Bürger­rechte. Viel­mehr verletzte er das Grund­ge­setz fort­wäh­rend und hatte deshalb auch kein Inter­esse daran, das Volk gesetzes- bzw. verfas­sungs­kundig zu machen. Ganz im Gegen­teil, Verfas­sungs­wissen galt beinahe als dissi­den­ti­sches Geheimwissen.

Inzwi­schen, 20 Jahre nach dem Zusam­men­bruch des Ostblocks, haben wir es mit einem neuen, anderen Verhältnis von Politik und Grund­ge­setz zu tun. Es sind nun nicht mehr die so genannten „Kommu­nisten“, die auf den Rechts­staat pfeifen, es sind die rechten Parteien, die das Grund­ge­setz an ihre poli­ti­schen Ziele anzu­passen versu­chen. Nun wird das Grund­ge­setz nicht mehr poli­tisch igno­riert, es wird poli­tisch „refor­miert“. Letz­teres konnte man in den vergan­genen Jahren in Ungarn beob­achten, insge­samt vier Mal wurde das Grund­ge­setz inner­halb von zwei Jahren ange­passt. Dabei wurde die Entschei­dungs­mög­lich­keit des Verfas­sungs­ge­richts bzw. der Justiz von der Orbán-Regierung einge­schränkt, indem man beispiels­weise Artikel in der Verfas­sung fest­schrieb, die dort eigent­lich nichts zu suchen hatten, zum Beispiel, dass Obdach­lose nicht mehr unter freiem Himmel schlafen dürfen. Darüber können Richter nun nicht mehr entscheiden, Obdach­lose werden vom Grund­ge­setz krimi­na­li­siert. Auch wurde die Meinungs­frei­heit dann einge­schränkt, wenn man die Verlet­zung einer nicht näher defi­nierten „Würde der unga­ri­schen Nation“ vermutet. Ähnli­ches kennt man aus Russ­land, dort gibt es zahl­reiche öffent­liche Kampa­gnen und Anklagen wegen „Russo­phobie“ gegen Anders­den­kende. Auch in Polen wird nach dem jüngsten Macht­wechsel eine rasche Justiz­re­form und ein neues Medi­en­ge­setz gefor­dert. Das neue Medi­en­ge­setz erlaubt es der Regie­rung, über Führungs­posten in den öffentlich-rechtlichen Medien zu entscheiden. Die Justiz­re­form sieht u.a. vor, dass Geset­zes­pro­jekte ohne Prüfung durch den Verfas­sungs­ge­richtshof durch­ge­setzt werden können.

Zu glauben, es handle sich bei diesen poli­ti­schen Angriffen auf die Verfas­sung und die Gewal­ten­tei­lung um ein Phänomen der ehema­ligen Ostblock­staaten, weil deren Bürger, Rechts­staat­lich­keit und Gewal­ten­tei­lung nach Jahren der Diktatur „noch“ nicht verin­ner­licht hätten, ist aller­dings ein Irrtum. Das beste Beispiel dafür ist die Schweiz. Wie man seit Jahren beob­achten kann, ist gerade die direkte Demo­kratie der Schweiz anfällig für die poli­ti­sche Indok­tri­na­tion der Mehr­heit gegen Minder­heiten, in der Regel gegen Ausländer.

Abstimmungsplakat Minarett-Initiative, 2009 (Ausschnitt)

Abstim­mungs­plakat Minarett-Initiative, 2009 (Ausschnitt)

In der Schweiz schafft es mitt­ler­weile eine Volks­in­itia­tive der rechts­na­tio­nalen SVP nach der anderen, ausrei­chend Stimmen für ihre partei­po­li­ti­schen Inter­essen zu ködern. Erst die Mina­ret­t­in­itia­tive, dann die Ausschaf­fungs­in­itia­tive, nun die Durch­set­zungs­in­itia­tive, zwischen­durch noch die Massen­ein­wan­de­rungs­in­itia­tive und vermut­lich bald schon die „Nationales-Recht-vor-Völkerrechtsinitiative“. Alle hatten oder haben vor, in die Bundes­ver­fas­sung  neue Rechts­grund­setze aufzu­nehmen, die eigent­lich gegen diese und/oder gegen zwin­gendes Völker­recht verstossen.

Doch noch nie war der Wider­stand der Juristen so gross wie nun bei der Durch­set­zungs­in­itia­tive (vgl. dazu auch die Warnungen von Niccolò Raselli). Ehema­lige und jetzige Bundes­richter und Richter verfassen kriti­sche Artikel in der Presse; 151 Rechts­pro­fes­soren schreiben ein Mani­fest mit dem Titel „Die Schweiz ist ein Rechts­staat“ und warnen, dass durch die Durch­set­zungs­in­itia­tive die Richter aufhören zu richten, ja dass „rich­ter­li­ches Ermessen bei der Beur­tei­lung der ausländerrechtlichen Konse­quenzen von Straf­taten vollständig“ ausge­schaltet und durch einen dann in der Verfas­sung veran­kerten Auto­ma­tismus ersetzt werden soll:  „Damit werden die von der Bundes­ver­fas­sung gewährleisteten Grundsätze rechts­staat­li­chen Handelns aus den Angeln gehoben, insbe­son­dere das Verhältnismässigkeitsprinzip, die Gewal­ten­tei­lung und die Geltung der Grund­rechte in der gesamten Rechts­ord­nung. Die Initia­tive steht auch im Wider­spruch zu völkerrechtlichen Verträgen, vor allem zur Europäischen Menschen­rechts­kon­ven­tion und zum Freizügigkeitsabkommen mit der Europäischen Union.“ Davon abge­sehen, dass man fragen muss, wie eine solche Initia­tive über­haupt vors Volk kommen darf, kommt unwei­ger­lich die Frage auf, was eigent­lich gesell­schaft­lich inzwi­schen eher akzep­tiert wird: Wenn ein hoher Prozent­satz des „Volkes“ beim Abstimmen in Kauf nimmt, gegen das Grund­ge­setz oder Völker­recht zu verstossen, oder wenn ein Secondo zwei Baga­tell­de­likte begeht und dafür – so will es die Durch­set­zungs­in­itia­tive – ausge­wiesen werden kann. Doch was passiert eigent­lich mit dem Mehrheits-Volk, das das Gesetz nicht achtet?

Inter­es­sant ist es auch zu beob­achten, wie die SVP als Initi­antin auf eine solche Kritik reagiert. Sie macht es, in dem sie den Gegner, also die Richter und Rechts­pro­fes­soren, gewis­ser­massen als Flitt­chen diffa­miert. Blocher versuchte seinen Partei­ge­nossen auf der jähr­li­chen Albis­güt­li­ta­gung der Zürcher SVP in einer Grund­satz­rede weiss­zu­ma­chen, die Richter würden versu­chen, sich über den Souverän, womit er das Volk meint, zu erheben, und damit den Weg zu einer Diktatur ebnen: „Die Schwei­ze­rinnen und Schweizer wollen keinen Rich­ter­staat. Denn sie wissen aus der histo­ri­schen Erfah­rung, dass sich in Dikta­turen gerade die Richter den jewei­ligen Dikta­toren schnell und bereit­willig an den Hals geworfen haben.“ Ein entlar­vender Satz. Und ein eigen­wil­liges Verständnis von Diktatur. Viel­leicht war der Satz aber auch bloss falsch formu­liert, viel­leicht wollte er ja sagen: Die Schwei­ze­rinnen und Schweizer wollen keine Diktatur, denn sie wissen aus der histo­ri­schen Erfah­rung, dass Poli­tiker, um ihre Inter­essen durch­zu­setzen, den Rechts­staat häufig aushe­beln, und Richter, die ihnen nicht folgen, diffa­mieren, entlassen und verfolgen.

In Polen und Ungarn gehen Menschen, die die jetzige Regie­rung nicht gewählt haben, auf die Strasse und demons­trieren gegen die poli­ti­sche Einmi­schung ins Grund­ge­setz. Sie erin­nern mit ihren Demons­tra­tionen auch daran, dass der Bürger­pro­test in Osteu­ropa immer schon auf Einhal­tung und Schutz des Grund­ge­setzes zielte. Sich jetzt daran zu erin­nern, halte ich für wichtig. 1968 haben Studenten u.a. in Polen und Jugo­sla­wien vom Staat schlicht und einfach gefor­dert, sich an die Gesetze zu halten. So konnte man auf Plakaten jugo­sla­wi­scher Studenten lesen: „Haben wir eine Verfas­sung?“, „Wer verstößt gegen die Verfas­sungs­rechte? Nicht wir!“ Oder: „Die Ausübung aller in der Verfas­sung garan­tierten Frei­heiten und Rechte muss sicher­ge­stellt werden.“  Und auf Flug­blät­tern polni­scher Studenten hiess es: „Wir fordern die Einhal­tung der in der Verfas­sung garan­tierten Rechte“. In der Sowjet­union hieß die Bürger­rechts­be­we­gung sogar ‘Rechts­ver­tei­di­gende Bewe­gung’ (Pravo­zaščitnoe dviženie), in der dama­ligen ČSSR wurde der VONS, ein Ausschuss zur Vertei­di­gung unschuldig Verfolgter gegründet, die Gründer, unter ihnen Vaclav Havel, kamen ins Gefängnis, weil sie den Staat an seine Gesetze erinnerten.

Die osteu­ro­päi­schen Bürger­rechts­be­we­gungen hatten somit ein etwas anderes Anliegen als die Civil Rights Move­ments im Westen: Während in den USA die Afro­ame­ri­kaner gegen die gesetz­lich vorge­schrie­bene Rassen­dis­kri­mi­nie­rung, also gegen das Gesetz, oppo­nierten, gingen die osteu­ro­päi­schen Bewe­gungen für die Einhal­tung der Gesetze auf die Straße. 1965 kam es zum Beispiel im Vorfeld des Gerichts­pro­zesses gegen die Schrift­steller Andrej Sinjavskij und Julij Daniėl’ zu einer Protest­ak­tion auf dem Puškin-Platz in Moskau. Der Tag war von einer kleinen Gruppe Dissi­denten klug gewählt, es war der 5. Dezember, der ‘Tag der Verfas­sung’ in der Sowjetunion.

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Plakataufschrift: „Achtet die sowjetische Verfassung – das Grundgesetz der UdSSR!“ Quelle: http://memo.ru

Plakat­auf­schrift: „Achtet die sowje­ti­sche Verfas­sung – das Grund­ge­setz der UdSSR!“, Quelle: memo.ru

An dem Meeting nahmen der Mathe­ma­tiker Alek­sandr Esenin-Vol’pin, der Physiker Valerij Nikol’skij, der Künstler Jurij Titov sowie die Schrift­steller Jurij Galanskov und Vladimir Bukovskij teil. Sie forderten, dass der Gerichts­pro­zess gegen Sinjavskij und Daniėl öffent­lich und trans­pa­rent vonstat­ten­gehen solle, in Einklang mit der Verfas­sung der UdSSR. Auf dem Platz waren etwa zwei­hun­dert Menschen, nach nur wenigen Minuten wurde das Meeting vom KGB aufge­löst und zwanzig Menschen wurden verhaftet, darunter die Orga­ni­sa­toren. In ihrer öffent­li­chen Auffor­de­rung zur Kund­ge­bung hatten die Orga­ni­sa­toren gefor­dert: „In der Vergan­gen­heit hat die Gesetz­lo­sig­keit der Regie­rung Millionen von Sowjet­bür­gern Leben und Frei­heit gekostet.“ Während der Demons­tra­tion versuchten einige wenige Demons­tranten, ein Plakat auszu­rollen, auf dem stand „Achtet die sowje­ti­sche Verfas­sung – das Grund­ge­setz der UdSSR!“. Man kann sich keine para­do­xere Situa­tion vorstellen als jene, in der ein Staat Demons­tranten dafür verhaftet, den Staat aufzu­for­dern, sich an seine eigenen Gesetze zu halten. Gleich­zeitig gibt es auch keine subver­si­vere Geste, entlarvt sie den Staat doch als Diktatur.

Im Moment scheint es weniger an der Zeit zu sein, gegen Gesetze zu demons­trieren, als für die Einhal­tung von Grund­ge­setzen und Gewal­ten­tei­lung. Auch wenn die Unter­schiede zwischen den Partei­dik­ta­turen im ehema­ligen Osteu­ropa und den jetzigen rechts­na­tio­na­lis­ti­schen Angriffen auf Grund­ge­setz und Völker­recht auf der Hand liegen, wird dennoch klar, dass man mit den alten Unter­schieden von „rechts“ und „links“ nicht mehr weiter­kommt. Viel tref­fender ist eine Eintei­lung in poli­ti­sche Kräfte, die entweder den Rechts­staat schützen und demo­kra­tisch agieren, oder in jene, die das Gegen­teil machen, zu denen die polni­sche und unga­ri­sche Regie­rungs­partei wie auch die Schweizer SVP gehören. Wenn etwas zu neuen Dikta­turen führen sollte, dann die Miss­ach­tung von Gewal­ten­tei­lung, auch wenn ein Teil „des Volkes“ sein Kreuz auf der anderen Seite macht.

Für den Hinweis auf das Zitat von Tito danke ich Davor Beganović.