Guatemala, das bevölkerungsreichste Land Zentralamerikas, hat seit Jahrzehnten den Ruf, ein failing state zu sein. In der Tat leidet die Bevölkerung unter Korruption, Straflosigkeit, organisierter Kriminalität und einem Klima der Gewalt. Doch in der Geschichte des Landes hat es auch immer wieder Momente der Hoffnung auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gegeben. Nun ist mit dem Regierungswechsel erneut ein solcher Moment gekommen.
Bernardo Arévalo – Soziologe, Schriftsteller und ehemaliger Botschafter Guatemalas in Spanien – ist mit seiner erst 2017 gegründeten, sozialdemokratisch und ökologisch orientierten Partei Movimiento Semilla als Außenseiter in den Wahlkampf gezogen, mit dem Versprechen, die Korruption im Land zu beenden. Zur Überraschung vieler politischer Beobachter hat er die Stichwahl um das Präsidentenamt im August 2023 klar gewonnen.
Der zukünftige Präsident ist der Sohn des ehemaligen Präsidenten Juan José Arévalo, der Mitte der 1940er Jahre die bisher einzige wirkliche demokratische Phase Guatemalas eingeleitet hatte, die sogenannte Dekade des Frühlings, die von einer breiten sozialen Bewegung gestützt wurde. Sein Nachfolger Jacobo Árbenz Guzmán wurde 1954 in einem von der CIA unterstützten Putsch gestürzt. So wie die Reformphase der 1940er Jahre gewaltsam beendet wurde, könnte auch der neue „demokratische Frühling“, den Bernardo Arévalo heute für das Land ausgerufen hat, schnell zu Ende sein. Gleich zu Beginn seiner Präsidentschaft werden ihm bereits Steine in den Weg gelegt. Die Generalstaatsanwaltschaft zweifelt an der formellen Rechtmäßigkeit des Movimiento Semilla als zulässiger Partei und kündigte eine Untersuchung an.
Arévalo erhält zudem Todesdrohungen. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission will von zwei geplanten Anschlägen auf sein Leben erfahren haben. Arévalos Ankündigungen, gegen die Korruption vorzugehen, bedroht die Macht und die Interessen vieler Personen aus der Politik, dem Justizapparat und der Wirtschaft. Diese haben die natürlichen Ressourcen des Landes sowie die Staatsfinanzen über Jahre hinweg hemmungslos ausgebeutet, während ein großer Teil der Bevölkerung – vor allem die indigenen Gruppen der Mayas – von politischer Teilhabe ausgeschlossen ist und in Armut lebt.
Eine Geschichte der Gewalt
Blickt man auf die Geschichte des Landes, überrascht das alles nicht. Guatemalas Vergangenheit ist reich an Umstürzen und Interventionen. Die Folgen des 36 Jahre dauernden Bürgerkrieges (1960-1996), bei dem 250.000 Menschen ums Leben kamen oder bis heute als vermisst gelten, sind noch lange nicht aufgearbeitet. Dennoch hat es immer wieder kurze Phasen gegeben, in denen Volksbewegungen und liberalere Regierungen versucht haben, Reformen durchzuführen, um das Land aus der Gewalt und Armut zu führen. Als Juan José Arévalo in den 1940er Jahren als erster frei gewählter Präsident des Landes eine Periode der Hoffnung auf Verbesserung der sozialen Lage und Demokratie einleitete, war die sogenannte „Diktatur der 14 Jahre“ unter Jorge Ubico durch Massenproteste beendet worden, und 1945 erhielt das Land schließlich eine neue, demokratische Verfassung.
Arévalo und sein Nachfolger Jacobo Árbenz vertraten eine Politik sozialpolitischer Reformen. Vor allem Árbenz versuchte während seiner Amtszeit die halbfeudalen Strukturen des Landes aufzubrechen. Sein Programm, das er „geistigen Sozialismus“ nannte, sah vor, die politische Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger voranzutreiben, wobei insbesondere die entrechteten Mayas profitieren sollten. Im Zentrum seiner Politik stand eine Landreform, die vorsah, ungenutzt brachliegende Ländereien der Großgrundbesitzer zu enteignen und gerecht an die Bevölkerung zu verteilten. Dies galt allerdings als Affront in einem Land, das gänzlich auf die Plantagenwirtschaft ausgerichtet war, ohne der verarmten Landbevölkerung Zugang zu Land zu gewähren.
Die Durchführung dieser Reform führte zudem zum Konflikt mit den strategischen und wirtschaftlichen Interessen der USA. Die amerikanische United Fruit Company (UFC), die als größte Landbesitzerin und Arbeitgeberin in Guatemala vor allem Bananenplantagen betrieb und das Eisenbahnnetz kontrollierte, wehrte sich gegen die drohende Verstaatlichung sowie die angestrebten Reformen im Arbeitsrecht. Dass der Wert des Landbesitzes aus Steuergründen von der UFC stets viel zu gering angesetzt worden ist, war ein Problem bei den Verhandlungen über Entschädigung. Die drohenden Verluste führten dazu, dass die UFC ihren Einfluss in der US-Regierung gegen Arbenz nutzte. Daraufhin stellte sich die amerikanische Regierung unter Präsident Dwight D. Eisenhower, wie schon sein Vorgänger Harry S. Truman, hinter den erfolgreich lobbyierenden multinationalen Konzern und verurteilte die Enteignungen, die 30% des Landbesitzes der UFC betraf. In Árbenz sahen die US-Amerikaner einen Kommunisten, der von der Sowjetunion gestützt wurde. Der kalte Krieg hatte gerade erst begonnen und die USA fürchteten einen Domino-Effekt in ihrem selbsternannten „Hinterhof“. Andere Staaten in der Region könnten dem Beispiel Guatemalas folgen.
Die USA intervenierten daraufhin in Guatemala, wenn auch verdeckt: Von der CIA ausgebildete und ausgerüstete Exil-Guatemalteken infiltrierten das Land und putschten mit Hilfe der guatemaltekischen Oligarchie gegen Árbenz. Dieser musste ins Exil fliehen und die Macht an den Anführer des Putsches, Castillo Armas, abgeben, der als Marionette der USA die Verstaatlichung sofort rückgängig machte. Die Verfassung wurde suspendiert, alle demokratischen Parteien und Gewerkschaften aufgelöst.
Bürgerkrieg
Von 1954 bis 1986 regierten Militär und Agraroligarchie des Landes. Demokratische Wahlen fanden entweder nicht statt oder entpuppten sich als Farce. Als Reaktion darauf bildeten sich in den 1960er Jahren Guerilla-Verbände, die sich später zur Unidad Revolucionaria Nacional Guatemalteca (URNG) – heute eine politische Partei – zusammenschlossen.
Die Aufständischen wurden brutal bekämpft: Oppositionelle, Aktivisten und Gewerkschaftler wurden systematisch verfolgt und ermordet. Vor allem unter den Präsidentschaften der Generäle Efraín Ríos Montt und Humberto Mejía Víctores nahm diese „Counter-Insurgency“ immer mehr zu: Es kam zu Massenvertreibungen der indigenen Maya-Bevölkerung und Umsiedlungen in sogenannte Modelldörfer, um die Kontrolle über die Landbevölkerung zu erleichtern. Ganze Dörfer wurden dabei wegen des Verdachts der Unterstützung der Guerilla ausgelöscht und zahlreiche Massaker an der indigenen Bevölkerung verübt.
Militärisch war die Guerilla zwar 1984 besiegt worden, doch ging der Krieg bis 1996 mit niedriger Intensität weiter. Angesichts der starken wirtschaftlichen Probleme und der internationalen Isolation des Regimes duldete die Regierung jedoch bereits 1985 Präsidentschaftswahlen, aus welchen der gemäßigte Christdemokrat Vinicio Cerezo als Sieger hervorging. Seine Macht blieb jedoch beschränkt, da die Militärs und das Unternehmertum de facto weiter die Macht behielten. Immerhin erfolgten unter ihm und seinem Nachfolger die Aufnahme von Friedensverhandlungen zwischen Regierung und der Guerilla. Der 1995 zum Präsidenten gewählte Álvaro Arzú brachte die Friedensverhandlungen zum Abschluss; Ende 1996 wurden zwischen Vertretern der Regierung und der URNG ein Friedensabkommen unterzeichnet.
Indigene Rechte und die Landfrage
Für die Mayas hatte das Friedensabkommen eine besondere Bedeutung, da sie erstmals in der Geschichte der Nation überhaupt offizielle Anerkennung erfuhren. Von Bedeutung war auch Guatemalas Ratifizierung der Konvention 169 der internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und ihr Inkrafttreten 1997, denn sie umfasst ein völkerrechtliches Abkommen zum Schutz indigener Völker. Ebenso wichtig war die Landfrage, denn die extrem ungerechte Verteilung von Land war schließlich einer der Hauptauslöser für den bewaffneten Konflikt gewesen. Obgleich im Friedensabkommen anerkannt ist, dass Land und natürliche Ressourcen zentrale Bedeutung für das Überleben und die Entwicklung der indigenen Völker haben, hat sich seitdem an der Landverteilung allerdings kaum etwas geändert.
Die Mayas werden weiter stark benachteiligt und diskriminiert, partizipieren kaum bis gar nicht an politischen Prozessen. Immer wieder kommt es zu politisch motivierten Gewalttaten und Menschenrechtsverstößen gegen Aktivisten oder Journalisten, die die Situation anprangern. Die Oligarchie aus Politik und Wirtschaft hat nicht aufgehört, die Geschicke des Landes zu kontrollieren und für ihren Vorteil zu nutzen. Umso wichtiger ist nun der Siegvon Bernardo Arévalo, der für einen Neuanfang steht. Arévalo versprach während seines Wahlkampfes eines der dringlichsten Probleme des Landes anzugehen: Die Korruption.
Der Kampf gegen die Korruption
Auf dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International belegt Guatemala einen unrühmlichen 150. Platz. Ab 2006 sammelte zwar eine Internationale Kommission gegen die Straflosigkeit und Korruption in Guatemala (CICIG) Beweise für Korruptionsfälle, ihr Mandat wurde allerdings 2019 vom damaligen Präsidenten Jimmy Morales, der selbst mit seiner Familie im Fokus der Korruptionsermittlungen stand, nicht verlängert. Der CICIG stellte sich von Anfang an ein sogenannter „Pacto de Corruptos“ entgegen, eine informelle Allianz von Politikern, Geschäftsleuten, Ex-Militärs und Kriminellen, die erheblichen Einfluss auf Politik und Justiz ausübt und die Arbeit der CICIG massiv behinderte. Dennoch deckte die CICIG 2015 einen Korruptionsskandal auf, in den höchste Regierungsmitglieder verstrickt waren. Diese hatten ihnen genehme Richter installiert oder gekauft und Journalisten, die zu Korruptionsfällen recherchierten, eingeschüchtert. Als diese Praktiken bekannt wurden, kam es zu Massenprotesten, vor allem der jüngeren Teile der Bevölkerung. Aus diesen Protesten ging schließlich auch das Moviemento Semilla hervor, das später unter der Führung von Bernardo Arévalo zu einer politischen Partei umgewandelt wurde.
Bei den Wahlen im Juni 2023 wurde das Moviemiento Semilla zwar nur drittstärkste Kraft. Arévalo zog jedoch überraschend in die Stichwahl um das Präsidentenamt ein und gewann diese mit 58% der Stimmen deutlich. Die Generalstaatsanwältin hat Ende September die Wahlunterlagen beschlagnahmt und macht ernst mit dem Versuch, das Movimiento Semilla zu suspendieren. Arévalo wirft ihr einen versuchten Staatsstreich vor. Daraufhin kam es erneut zu Protesten und Demonstrationen.
Dass die Behörden sofort die Rechtmäßigkeit seiner Partei anzweifelten und diese nun überprüfen, zeigt, dass Arévalo es schwer haben wird. Der Pakt der Korrupten hat zu viel zu verlieren. Die Drohungen gegen den neu gewählten Präsidenten zeigen zudem auch, dass sich das politische Klima im Land, wo Machtfragen viel zu oft durch Gewalt geklärt worden sind, nicht wirklich geändert hat, so hoffnungsvoll Arévalos Sieg auch ist. Hinzu kommt, dass Menschenrechtsaktivisten und Journalisten, die Korruption anprangern, weiter Repressalien ausgesetzt sind und eingeschüchtert werden. Auch wenn die Proteste von 2015 zeigen, dass durchaus Mobilisierungspotenzial in der Zivilgesellschaft vorhanden ist, steht hinter Arévalos Sieg kein breites Bündnis. Beobachter werten seinen Wahlsieg eher im Scheitern der Konservativen, ein Bündnis gegen ihn zu bilden. Die Wahlbeteiligung war zudem mit nur 45% äußerst niedrig.
Was Hoffnung macht: Hinter dem Movimiento Semilla steht vor allem die Jugend des Landes, die gegen die mächtige und korrupte Elite aufbegehrt. Sie hat in den Protesten 2015 eine wichtige Rolle gespielt, nutzt zudem geschickt die sozialen Medien um zu mobilisieren. Einige ihrer jüngeren Mitglieder sitzen bereits seit 2019 als Abgeordnete im Kongress und prangern dort die Korruption an. Sollte Arévalo nichts passieren und die Wahl als rechtmäßig anerkannt werden, könnte dies ein Hoffnungsschimmer für das Land sein.