Demokratie, wie wir sie in der Nachkriegszeit zu verstehen lernten, scheint heute ein Auslaufmodell zu sein. In den letzten Jahrzehnten ging die Wahlbeteiligung in westlichen Demokratien stetig zurück. Während die Zahl der Parteimitglieder und der gewerkschaftliche Organisationsgrad sanken, verlor auch der Staat an ordnungspolitischer Kraft. Einst ein Steuerungsagent der Wirtschaft, ist er dem Wettbewerb heute selbst unterworfen. Seit den 1990er Jahren wird diese Entwicklung von kritischen Diagnosen zum Zustand der Demokratie begleitet. Dazu gehört die Einschätzung des britischen Politologen Colin Crouch, wonach westliche Gesellschaften heute immer weniger vom Demos und immer stärker von globalen Konzernen und Eliten regiert würden. Crouch konstatiert eine Entwicklung hin zur „Postdemokratie“: ein Rückbau tatsächlicher politischer Partizipationsformen zugunsten eines medial aufbereiteten, inhaltlich aber leeren und folgenlosen Wahlspektakels, das von PR-ExpertInnen kontrolliert werde. Hat der Kapitalismus die Demokratie zerstört? Und wenn ja, wie ist ihm das gelungen?

Undoing the Demos: Wendy Browns Streitschrift von 2015
Antworten auf diese Fragen gibt die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown in ihrer Streitschrift Undoing the Demos. Neoliberalism’s Stealth Revolution. Detail- und kenntnisreich zeichnet Brown die schleichende neoliberale Revolution unserer Gegenwart nach: Eine stetige Ausdehnung des Marktbereichs auf Kosten der demokratischen Sphäre, die in der Vermarktlichung der Einrichtungen und Prinzipien von Demokratien selbst gipfelt. Folgt man Brown, so haben sich politische Akteursgruppen und Institutionen – von Verwaltungen über NGOs bis hin zu Schulen – seit den 1990er Jahren als Unternehmen entworfen. Sie sprechen ihre Klientel einerseits als Belegschaft an, die sich den Sachzwängen globaler Wettbewerbsfähigkeit anzupassen hätten, und andererseits als Kundschaft. So gesehen hat die sanfte Despotie neoliberaler Herrschaft den Homo politicus längst kassiert – Undoing the Demos eben.
Governance
Wie der Bedeutungsverlust demokratischer Partizipation und Entscheidungsfindung abläuft, lässt sich anhand von „Governance“ illustrieren: ein relativ junges, aber umso schillernderes neoliberales Konzept. In den programmatischen Überlegungen der neoliberalen Vordenker Milton Friedman und Friedrich August Hayek spielte sie noch keine Rolle. Auch bei den Transformationen in Lateinamerika in den 1970er und 1980er Jahren, die von der neoliberalen Chicagoer Schule beeinflusst wurden, manifestierte sie sich nicht. Wirkmächtig wurde sie erst gegen Ende der 1980er Jahre. Ausformuliert in betriebswirtschaftlichen Kreisen (corporate governance) und popularisiert von universitären Instituten und staatlichen Departementen für internationale Beziehungen, wird das Konzept seither sowohl von der Weltbank und der UNO als auch von zahlreichen transnationalen Think Tanks und lokal tätigen Consulting Firmen verbreitet.

Politik verstanden als Lenkung von Menschen in Hinblick auf Profit: Für seinen in den 90er Jahren entwickelten Governance-Ansatz erhielt Oliver E. Williamson 2009 den Nobelpreis für Wirtschaft.
Wendy Brown sieht in der Governance ein Schlüsselprinzip des gegenwärtigen Neoliberalismus: eine Regierungsrationalität, die aus einem feingliedrigen Gefüge von Institutionen, kodifizierten Verfahren, formalen Regeln und individuellen Verhaltensweisen besteht. Zentraler Fluchtpunkt dieses neuartigen Machttypus ist die Umwandlung von einer autoritären Regierungsführung mit hierarchisch organisierten Einheiten zu einer partnerschaftlichen Form, die auf dezentrale Zusammenarbeit und ausbalancierte Verantwortlichkeiten baut. Bürokratische top down Steuerung soll durch horizontale Verständigung ersetzt werden, indem hoheitliche Anordnungen in Form des Befehls durch Mitsprachemöglichkeiten ergänzt bzw. abgelöst werden. Die sogenannte Good Governance bietet sich Unternehmen, Staaten, Verwaltungen, Universitäten, Schulen und Kirchen gleichermassen an.
Die Dezentralisierung von Autorität ist für Institutionen, die öffentlicher Kritik ausgesetzt sind, unter Kostendruck stehen oder mit Legitimationsproblemen zu kämpfen haben, relativ attraktiv. In vielen Fällen wurden Governance Lösungen für institutionelle Strukturprobleme denn auch freudig aufgenommen und umgesetzt – mit gravierenden Folgen. Denn mit der Dezentralisierung im Zeichen von Governance hält stets auch der Wettbewerb zwischen den Einheiten Einzug in die Institutionen. Unter der Hand werden die Aufbau- und Organisationslogiken der Einrichtungen samt ihrer Zwecke damit in eine Art Unternehmen verwandelt, dem es vordringlich um Marktvorteile geht. „Entrepreneurisierung“ nennt Brown diesen Vorgang.
Effiziente Verfahren statt gerechte Ziele
Die Massnahmen und Instrumente, die den Einrichtungen für die Entrepreneurisierung zur Verfügung gestellt werden, sind u.a. benchmarking, best practice oder ranking. Öffentliche und nicht gewinnorientierte Institutionen werden damit von ökonomischen Praktiken angeleitet, die aus dem Profitsektor stammen. So hat die zunehmende Orientierung am Markt (vom internationalen Finanzmarkt über den Bildungsmarkt bis hin zum Markt für soziale Dienste) zur Folge, dass sich staatliche und zivilgesellschaftliche Einrichtungen immer weniger mit politischen Dimensionen ihres Tuns beschäftigten. Stattdessen treten Machbarkeitsüberlegungen in den Vordergrund. Damit verdrängt die Governance liberal-demokratische Gerechtigkeitsanliegen durch technische Problemformulierungen. Wird Regierungsführung auf Problemlösung getrimmt und als technisches Verfahren präsentiert, dann verschwinden normative Konflikte aus den Debatten. Für die politische Öffentlichkeit hat diese Reduktion gravierenden Folgen: Demokratische Auseinandersetzungen verwandeln sich in formale Verfahren des Interessenausgleichs zwischen gesellschaftlichen Gruppen – in letzter Konsequenz wird Politik damit zum Verschwinden gebracht. An ihre Stelle tritt die sachliche Notwendigkeit.
KundInnen als neue Sozialfiguren
Gleichzeitig polt die Governance die Zielgruppen der einzelnen Institutionen um. Sie wirkt also auf die Art und Weise ein, wie sich Individuen als Subjekte begreifen sollen. Das geschieht mittels Responsabilisierung (des Übertragens von Verantwortung). Wendy Brown beschreibt diesen Vorgang als „die moralische Belastung der Person, die am Ende der Kette steht“. Die Responsabilisierung animiert Mitarbeitende, Studierende, KonsumentInnen oder bedürftige Menschen dazu, die richtigen Investitionen in sich selbst vorzunehmen, um sich zu entwickeln. Indem sie alle Individuen gleichermassen responsabilisiert, blendet die Governance die ungleichen Positionen der Menschen und die soziale Schichtung der Gesellschaft dabei aber völlig aus. Diskursiv funktioniert die Responsabilisierung über scheinbar banale Neuadressierungen. Staaten, Verwaltungen, NGOs und soziale Dienste sprechen uns nicht mehr als BürgerInnen, sondern als KundInnen an. Dabei handelt es sich jedoch um mehr als eine sprachliche Finesse. Dahinter steckt eine aktivierende Absicht, die verpflichtet. Wer als MitarbeiterIn oder als KundeIn adressiert wird, sieht sich mit anderen Erwartungen konfrontiert als BürgerInnen. Es wird erwartet, dass man für sich selbst sorgt, und man wird getadelt, wenn man es nicht tut. Das exkludierende Reden über diebische Unterhaltsberechtigte – SozialschmarotzerInnen, Scheininvalide oder PapierlischweizerInnen – und sogenannte Anspruchsmentalitäten bekräftigt diese neuen Erwartungen. Durch die Bündelung von Handlungsverantwortung und Tadel werden in Wirklichkeit vielseitig abhängige und bedürftige Menschen zu autonomen Individuen gemacht.
Die Schweiz, ein Governance-Paradies
Die Schweiz stellt für Governance Ideen einen besonders günstigen Resonanzraum dar. Langwierige Vernehmlassungen, komplizierte Subventionsverhandlungen oder föderalistische Aufgabenzuteilungen sind ideale Ansatzpunkte für Governance, weil diese beschleunigte Verfahren und effiziente Ressourceneinsätze verspricht. So ist es wenig erstaunlich, dass der Begriff Good Governance bereits 1993, und damit im internationalen Vergleich relativ früh, in der Botschaft zum Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz auftaucht. Seither unterwirft der Anspruch der Governance auch hierzulande immer mehr institutionelle Bereiche und Tätigkeiten der Marktlogik. Beratungsbüros und auf Evaluationsforschung spezialisierte Hochschulinstitute stellen Kantonen, Verwaltungen, Spitälern, Universitäten oder NGOs unterdessen unzählige best practice Anleitungen zur Verfügung. Hinzu kommen die von BetriebswirtInnen, ÖkonomInnen und ManagerInnen herausgegebenen Ratgeber, die seit einigen Jahren wie Pilze aus dem Boden schiessen, und die Governance praktisch allen Einrichtungen anempfehlen. All dies hat dazu beigetragen, dass die lingua franca der Governance in der Schweiz heute omnipräsent ist: sozialer Dialog, prozedurale Rationalität, Stakeholder, Flexibilität, Regulierung, Steuerung, Koordination, Konvergenz, Bevölkerungszielgruppen, Synergieeffekte, Zielinterferenz, Interaktionsmuster, Interdependenz, Effizienz oder Kohärenz haben Eingang in unseren beruflichen und sozialen Alltag gefunden.

Eine Governance, die das Vertrauen der Investoren stärkt: Seit den 70er Jahren wird “Good Governance” bei IWF und Weltbank gross geschrieben. So auch im aktuellen World Development Report der Weltbank von 2017.
Gerade weil die föderale Demokratie der Schweiz so gut mit Governance korrespondiert, hat deren Implementierung und Wirkmacht für erstaunlich wenig Aufsehen gesorgt und ist lange fast unbemerkt geblieben. Kritik an Governance, an ihrer subtilen Art, die Demokratie zu entpolitisieren und die Menschen auf sich selbst zurückzuwerfen, ist denn auch kaum zu hören. Das irritiert gerade deshalb, weil diese Zurückhaltung sicher auch als Erfolg von Governance zu deuten ist: Je mehr Demokratie zu einer Verwaltungstechnik wird, umso weniger können genuin politische Fragen nach Freiheit, Gerechtigkeit oder Gleichheit in der politischen Arena repräsentiert und ausgehandelt werden. Wenn auch Kritik an Governance keinen Platz mehr hat, dann hat diese es geschafft, sich selbst als diskutable Regierungsrationalität unsichtbar zu machen. Ob man mit Colin Crouch darauf hoffen kann, dass aus dem Repräsentationsdefizit der bestehenden Institutionen im Inneren des Demos Irritationen entstehen, die zu neuen Formen des Zusammenschlusses und damit zu einer Wiederbelebung der Demokratie führen werden, ist ebenso wünschenswert wie wenig ausgemacht.
Repolitisierung der Demokratie
Angesichts der scheinbar allmächtigen neoliberalen Governance, die in viele Bereiche des Alltags hineinregiert, drängt sich die Frage nach Alternativen auf. Wer Resignation nicht akzeptiert, tut gut daran, die Sprache der Governance kritisch zu hinterfragen und wachsam zu bleiben gegenüber Entscheidungen am Arbeitsplatz, die beschleunigte Verfahren, Transparenz oder Effizienz versprechen, und die wir gerade aus diesem Grund oftmals selbst mittragen. Evaluationen sind hier ein gutes Beispiel. Solange nicht klar ist, wer diese erstellt, und wer sie evaluiert, dienen Evaluationen nicht der sogenannten Qualitätssicherung, sondern als Ressource im Wettbewerb zwischen Einheiten und Menschen in Einrichtungen.
Anstatt das Politische immer enger auf die Wirtschaft auszurichten, muss das Ökonomische wieder in seiner politischen Dimension erkannt und verstanden werden. Um das öffentliche Leben und die Demokratie zu repolitisieren, sollten wir vom politischen Konsensglauben, der primär auf Machbarkeiten zielt, abrücken und wieder grundsätzlicher streiten: nicht über Asylverfahren, sondern über menschenwürdige Lebensbedingungen von MigrantInnen, nicht über die Finanzierung der Altersvorsorge, sondern über das gute Leben im Ruhestand, nicht über Frauenquoten, sondern über Geschlechterungleichheiten am Arbeitsplatz, nicht über politische Prozedere, sondern über politische Visionen. Die Sachzwangslogik der Governance, die sich wie ein Naturgesetz über die politische Arena ausdehnt, muss zurückgedrängt, der Möglichkeitssinn für Alternativen hingegen geschärft werden.