Der Nachruf von Ezio Mauro, ehemaliger Chefredakteur der linksliberalen Repubblica, zeigt das ganze Dilemma des Antipopulismus: „Der Prozess der Mani pulite, der ,sauberen Hände‘“ – Anfang und Mitte der 1990er Jahre – „der die Schmiergeldzahlungen der Industrie an die Politiker aufarbeitete, hatte das schützende Dach vom traditionellen Gebäude der Politik gerissen, hundertjährige Parteien wie die PSI (Partito Socialista Italiano) von ihren Anführern enthauptet und Machtgebilde wie die DC (Democrazia Cristiana), die das Land seit Jahrzehnten regiert hatten, zertrümmert. In diese Bresche, die der Staatsanwalt Antonio Di Pietro unter dem Beifall des Volkes geschlagen hatte, schlüpfte nun dieser Silvio Berlusconi.“ Das Körnchen Wahrheit an dieser eher beiläufigen dialektischen Würdigung liegt darin, dass in der Tat erst die Delegitimation der überkommenen Parteiendemokratie, die ja nicht allein durch Korruptionsvorwürfe und nicht nur in Italien stattgefunden hat, den Boden bereitete für eine Verachtung der politischen Eliten und Institutionen. Davon profitierten nach Berlusconi auch Orbán, Trump und weitere Autokraten, indem sie das „Volk“ über diese Garanten der repräsentativen Demokratie, die parlamentarische Berufspolitik, und damit auch über die Gewaltenteilung und den Rechtsstaat stellten.
Wenn ich Gott wäre…
1980, bereits 14 Jahre vor der ersten Amtszeit Berlusconis, veröffentlichte der italienische Cantautore Giorgio Gaber auf einer EP, die gar keine B-Seite hatte, den 14 Minuten-Song „Io se fosse dio“: Wenn ich Gott wäre. Selten ist die politische Elite des Landes so rüde gescholten worden wie in dieser Tirade, die nicht einmal an dem zwei Jahre zuvor von den Roten Brigaden ermordeten Ministerpräsidenten Aldo Moro ein gutes Haar ließ:
Denn Politik ist ekelhaft und schlecht für die Haut/ Und alle, die dieses Spiel spielen/ Das ein abstoßendes und ansteckendes Spiel der Gewalt ist/ Wie Lepra und Typhus/ Und all jene, die dieses Spiel spielen/ Haben Gesichter, die ekelhaft sind, um sie anzusehen/ Ob sie nun schmierige Christdemokraten sind/ Oder graue Kameraden der PCI/ Sie sind hässlich geboren/ Oder zumindest enden sie alle so.
Ob dieser Wutausbruch eine angemessene Kritik an der Unmoral der Führungsfiguren war oder schon ein Vorschein der populistischen Abrechnung mit ihnen, bleibt offen. Bei Live-Auftritten bekam Gaber jedenfalls begeisterte Anfeuerungsrufe und standing ovations, als hätte er dem Publikum einer frustrierten Nation aus der Seele gesprochen. Die Ambivalenz des Barden spiegelt die damalige Lage der italienischen Gesellschaft nach der Implosion des politischen Systems, das bekanntlich lange von „Don Camillo & Peppone“, dem Duopol von regierenden Christdemokraten und opponierenden Kommunisten, beherrscht war und Systemstabilität erzeugte. In dem entstandenen Vakuum stürzten erst die Sozialisten unter dem dubiosen (und mit Berlusconi verbandelten) Generalsekretär Bettino Craxi ab, dann weitere Protagonisten der liberalen Mitte. Und der Einfluss der Mafia reichte bis in den Palazzo Chigi, wo der ebenso dubiose Giulio Andreotti sieben Amtszeiten als Premierminister absolvierte.
Oft folgte Andreotti als Premier auf sich selbst, wenn während einer laufenden Legislaturperiode wieder einmal die Parlamentsmehrheit verloren gegangen war und Neuwahlen keinen Wandel gebracht hätten. Instabilität schien seit 1945 das Markenzeichen der italienischen Politik, doch täusche man sich nicht oder mache sich gar lustig: Soziologen erkannten das „Sozialkapital“ (Robert Putnam) als Rückgrat der Zivilgesellschaft, Politologen erblickten Konstanz genau im steten Wechsel zwischen flatterhafter Parteienranküne und stabiler Technokratie, die in Gestalt von Romano Prodi und Mario Draghi notfalls selbst ans Steuer ging und dafür stets belobigt wurde. Doch irgendwann versagte diese Kur und ein Teil Italiens lechzte nach Veränderung. Das „Volk“ meinte, ohne institutionelle Vermittlung und intermediäre Instanzen zurechtkommen zu können. Der Garant dieses antistaatlichen Ressentiments wurde das vulgäre Charisma, das Berlusconi zu verströmen verstand. „Wir wollen, dass das Volk den Staat führt, nicht der Staat das Volk. Wir wollen, dass dieser populäre Geist seine Institutionen durchdringt“, war sein Slogan.
Der „Retter“ war ein Medienmogul aus Mailand, der alle negativen Facetten italienischer Politik geradezu idealtypisch verkörperte, aber scheinbar außerhalb des Spiels gestanden hatte. Er war die Wiederkehr des Duce als Farce und in vielerlei Hinsicht ein Vorläufer von „The Donald“. Ähnlich wie Trump war auch dieser Milliardär im Grunde eine Lachnummer – halbseiden in seinen bizarren Unternehmungen und privaten Sex-Eskapaden, ein zweitklassiger Showman, aber gerade deswegen von vielen Italienern als Verkörperung ihrer selbst, des Uomo qualunque, angenommen und geliebt. Berlusconi verkörperte den Jedermann, der bleiben möchte, wie er ist, und Belehrungen durch jene selbstherrlichen Eliten, die Italien seit 1945 regierten, satthat. Berlusconi betrat die politische Bühne, stampfte eine Sammlungsbewegung namens „Forza Italia“ aus dem Boden und brachte es zwischen 1994 und 2011 auf beachtliche vier Amtszeiten.
Die Politik des antistaatlichen Ressentiments
Er blieb nicht die einzige Neuheit in der italienischen Politik. Auch das Movimento Cinque Stelle (M5S), gegründet vom TV-Comedian Beppe Grillo, wollte das alte Parteiensystem durch eine ebenso chaotische wie konsequente Aufhebung der Rechts-Links-Polarisierung aushebeln. Die fünf Sterne standen programmatisch für Ambiente (Umweltschutz), Acqua (Grundversorgung), Sviluppe (nachhaltige Entwicklung), Connettivitá (Digitalisierung) und Trasporti (modernes Verkehrssystem), d.h. für einen im Grunde grün-alternativen Reformpragmatismus, der seine Kraft aus dem Verfall der öffentlichen Infrastruktur in vielen italienischen Städten und Gemeinden zog und in einer Gesellschaft mit extrem hoher Jugendarbeitslosigkeit und Staatsverschuldung junge Leute anzog. M5S stand für direkte Demokratie, setzte sich für flächendeckendes Internet und kostenlose Gesundheitsdienste ein, wollte die regionale Wirtschaft und den öffentlichen Personennahverkehr stärken und setzte, ähnlich wie die Piraten in Nordwesteuropa, auf digitale Parteikommunikation. Der Populismus kam damit gewissermaßen zu sich selbst, indem er jenseits aller Programmatik und politischen Erfahrung ultimativ auf die vollständige Ablösung der verhassten politischen Klasse drängte und die Institution der parlamentarischen Demokratie radikal ablehnte. Politik mutierte dabei komplett zur Antipolitik, die ihre Existenzberechtigung allein aus sich selbst, einem leidenschaftlichen Nur-dagegen-sein zieht. Beppe Grillo, der Reputation ähnlich wie Berlusconi aus seiner „Prominenz“ bezog, also aus seiner Bekanntheit als Live-Redner und der ihm als Blogger gewidmeten Aufmerksamkeit, fiel mit zunehmend unqualifizierten Wutausbrüchen auf (inkl. vaffanculo, das italienische F-Wort).
Auf der anderen Seite war die Lega Nord aufgetaucht, eine nach 1990 in Norditalien entstandene Strömung, die neben der Verachtung für die partitocrazia, die Parteienherrschaft, auch andere prototypische Elemente des Populismus vereint: den Wohlstandschauvinismus der reicheren Regionen, die Ablehnung nichteuropäischer Immigration und die Islamophobie. Die Lega Nord brachte überdies einen Zentrum-Peripherie-Konflikt zurück, denn sie wendete sich sowohl gegen die „diebische“ Zentralregierung in Rom („Roma ladrona“) als auch gegen die Abgabe von Souveränität an eine supranationale Union („Brüssel“). Der mythische Fixpunkt dieser föderalistischen Revision, in der stets starke Wünsche nach Abspaltung und Unabhängigkeit mitschwangen, war das virtuelle Land „Padanien“, gelegen in der oberitalienischen Tiefebene entlang des Po-Flusses, das in der Phantasie der Leghisti unter Einschluss mittelitalienischer und Südtiroler Provinzen auf 130 000 Quadratkilometern 33 Millionen Italiener vereinen sollte. 1996 rief der charismatische Lega-Chef Umberto Bossi inoffiziell die Bundesrepublik Padanien aus. Vorgesehen war eine eigene Währung, als Nationalhymne diente der Gefangenenchor aus Verdis Nabucco.
Die padanische Sezession wurde von der Lega Nord seither fallengelassen, sie griff aber ein Merkmal regionalistischer Bewegungen wie in Katalonien oder Flandern auf, die seit Jahrzehnten den Aufstand gegen die Hauptstädte ihrer Nationen propagieren und höchstens ein „Europa starker Regionen“ zulassen. Nachvollziehbar war diese Los-von-Rom- und Los-von-Brüssel-Bewegung, weil in der Tat enorme Transfersummen in korrupten und mafiösen Netzwerken versunken sind und sowohl in vielen Stadt- und Gemeinderegierungen als auch in der Hauptstadt ein legendärer Klientelismus herrscht. Die Lega adressierte geschickt die Unzufriedenheit des lombardischen und venezianischen Mittelstands, die Chefs kleiner und mittlerer Firmen und Handwerksbetriebe sowie Kleinhändler, die zusätzlich an einer anderen Front zu kämpfen hatten: gegen die bis 1990 starken Gewerkschaften kommunistischer und sozialistischer Provenienz, die mit ihrer Kampfkraft den Arbeitern und Angestellten zu guten Löhnen und Pensionen verhalfen. Hinzu kam der Affekt gegen Schwule und Freigeister, Bankiers und Supermärkte, Finanzinspekteure und Börsianer, „Bürokraten“ und wiederum „Kommunisten“. Richtig in Fahrt kam die Lega, nun ohne Beinamen Nord, nach 2011 unter der Führung von Matteo Salvini, der in großer Unverfrorenheit gegen Einwanderer aus Afrika und Asien mobil und gemeinsame Sache mit anderen europäischen Nationalisten und Rassisten machte.
Postfaktisches Politainment: der Vorgänger von Trump
Auch für Salvini war Berlusconi der Türöffner. In mehrfacher Hinsicht war er auch Trumps Vorläufer und sein uneingestandenes Vorbild, wobei der gemeinsame Archetyp niemand anderer als Benito Mussolini war. Der entscheidende Hebel für diese Camouflage war die TV-gestützte Prominenz, die zum Ersatz für professionelle Erfahrung, seriöse Kompetenz und kommunikative Rationalität wurde. Wie Trump stilisierte sich Berlusconi als „business president“ und zugleich als „blue collar president“. „Ich bin einer von euch“, ließ er auf übergroße Werbetafeln pinseln – ein gütiger Patron und Arbeitgeber, der die Belegschaft, hier: die einfachen Leute, nicht aus den Augen verliert. Der „cavaliere“ und Selfmademan kam angeblich aus ihrer Mitte und übersetzte ihre Anliegen, konnte diese in direkter Ansprache bei Massenveranstaltungen, in Fernsehansprachen oder Referenden (und selbst noch postum in der Inszenierung seines Staatsbegräbnisses!) erkunden und artikulieren. Forza Italia war ganz auf diese Kommunion zwischen Führer und Volk zugeschnitten, eher eine Bewegung als eine Partei und darin einem gemäßigten Faschismus verwandt, der sich nicht mehr unbedingt Südtirol und Libyen einverleiben, aber auch nicht bloß mit dem AC Milan die Champions League gewinnen wollte.
Sein Feindbild blieb (wieder wie bei Trump) der parteipolitisch längst untergegangene, aber angeblich in den Institutionen und Medien überlebende Kommunismus, mit seinen vermeintlichen intellektuellen Schönrednern, den Kolumnenschreibern der einstmals einflussreichen Qualitätspresse und den anspruchsvolleren TV-Kommentatoren. Das Aufkommen der Mediaset-Agitprop-Sender belegt die fatalen Konsequenzen eines dem Quotenerfolg ausgesetzten Politainment. In den sozialen Netzwerken wird dies unterfüttert durch Fake News und Verschwörungsgeschichten, also durch eine Derealisierung der außermedialen Wirklichkeit in Gestalt „alternativer Fakten“. Schließlich lösen Politiker:innen mit Twitter-Meldungen und der Dauerpräsenz in den sozialen Netzwerken den Unterschied zwischen Meinungsäußerung und Entscheidungshandeln des politischen Personals auf – Politik schwebt in einer Sphäre des permanenten „als ob“.
Hoffähiger Faschismus
Die Männerriege Berlusconi, Salvini und Conte vom M5S löste im Herbst 2022 bekanntlich eine Frau ab. Mit Giorgia Meloni und ihren bis dato marginalen Fratelli d’Italia wurde der Faschismus endgültig wieder hoffähig, auch wenn sie den Namen des Duce verschweigt und öffentlich Kreide gegessen hat. Ihr Triumph könnte das eingeübte Wechselspiel von Personentheater und Systemvernunft beenden und das Land tatsächlich auf den Hund bringen, wie es auch andere Cantautori vorhergesehen haben. Selbst wenn Italien aufgrund ökonomischer Zwänge weiter im Modus europäischer Autopilot fährt und Meloni mit der Befürwortung von Waffenlieferungen an die Ukraine die angestrebte Allianz mit Viktor Orbán und anderen europäischen Rechtsradikalen vertagt hat, bekommen längst die Armen und Migrant:innen den Machtwechsel zu spüren.
Was also tun? Da kein Gott (und auch kein Staatsanwalt) uns retten wird, verbietet sich wohl Gabers Rückzieher („Wenn ich Gott wäre/ würde ich mich nicht für Hass und Rache interessieren/ Und auch nicht an Vergebung/ Denn Abstand ist die einzige Rache/ Ist die einzige Vergebung/Und so stellt sich heraus, dass wenn ich Gott wäre/ Ich würde mich aufs Land zurückziehen/ Wie ich es getan habe“). Die Gegner der vereinten Rechten haben keine anderen Mittel als immer wieder „evidenzbasiert“ darauf zu verweisen, dass in der Ära Berlusconi die Dynamik Italiens in völlig falsche Kanäle geleitet wurde. Und auch Meloni wird mit ihrem provinziellen Nationalismus und ihrer rückwärtsgewandten Kulturpolitik nichts daran ändern, dass die U30 zu der am schlechtesten ausgebildeten, am geringsten bezahlten und, mangels eigener Existenzmöglichkeiten, am ungerechtesten als mammoni (Muttersöhnchen) verhöhnten Alterskohorte in Europa zählen. Ein Hoffnungszeichen ist nur, dass die 18 bis 24jährigen bei der Parlamentswahl im letzten Herbst nur noch weit unter dem allgemeinen Durchschnitt die Rechtsparteien (und die Linke) gewählt haben, auch nicht mehr die Fünf-Sterne-Bewegung, die einmal Eindruck auf sie machte, sondern grüne, alternative und proeuropäische Parteien.