Rio de Janeiro am 5. Oktober 2018, sieben Monate nach der Ermordung der feministischen Aktivistin Marielle Franco, der Stimme der schwarzen Bevölkerung, der Favelas und der LGBTQI im dortigen Stadtrat. Nach jetzigem Stand der Polizeiermittlungen kommen die Hauptverdächtigten für dieses Verbrechen aus paramilitärischen Kreisen mit engen Beziehungen zur Familie Jair Bolsonaros, dem neuen Präsidenten Brasiliens. Zur Ehrung Marielles hängten ihre Unterstützer unmittelbar nach ihrem Tod Strassenschilder mit dem Namen ‘Rua Marielle Franco’ auf.

Wilson Witzel (rechts) am 8.10.2018 in Rio de Janeiro; Quelle: extra.globo.com
Auf dem Bild rechts sieht man, wie ein solches Schild von zwei damaligen Kandidaten aus Bolsonaros Partei PSL mit Stolz zerstört wird. Derjenige, der sich am rechten Rand des Bildes so sehr darüber freut, dass er die Faust erheben muss, ist Wilson Witzel, ein enger Verbündeter Bolsonaros und mittlerweile Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro.

Roberto Cortes und Wilson Witzel am 7.3.2019; Quelle: autoestrada.uol.com.br
Witzel findet man auch auf einem zweiten Foto wieder. Dort inszeniert er sich kürzlich an der Seite des Vorstandsvorsitzenden von Volkswagen Caminhões e Ônibus (der lokalen LKW-Filiale der Volkswagen AG) als wirtschaftsfreundlicher Regierungschef. Hierauf reagierte man in Deutschland eher peinlich berührt, so dass der Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre es in einer Pressemitteilung verurteilte. Schliesslich ist Witzel, genauso wie Bolsonaro, ein Politiker, der Verbrechen und Gewaltkultur verherrlicht und in der Wahllandschaft Europas nur mit Vertretern hardcore-rechter Bewegungen wie der griechischen Goldenen Morgenröte zu vergleichen ist.
Doch bereits Anfang November begrüsste Pablo Di Si, der Generaldirektor von VW in Lateinamerika, den Machtaufstieg der rechtsradikalen Wahlsieger in überraschend unvorsichtigen Worten. In der argentinischen Presse beschrieb er die Wahl Bolsonaros als eine Chance für die Wirtschaft und Grund für Optimismus. Hat VW also Sympathie für die menschenrechtsverachtende Regierung in Brasilien? Angesichts der bisherigen Haltung der lokalen Firmenvertreter dürfte man mindestens von falsch verstandener politischer Neutralität sprechen.
„Falsch verstandene politische Neutralität“
„Falsch verstandene politische Neutralität“ ist der Ausdruck, mit dem der Historiker Christopher Kopper der Universität Bielefeld die Position des deutschen VW-Vorstands in Wolfsburg während des brasilianischen Militärregimes (1964-1984) beschrieb. 2016 hatte ihn VW beauftragt, mögliche Missbräuche durch die brasilianische Konzerntochter in der autoritären Periode zu klären, weil vernichtende Vorwürfe vorlagen.
Es kam heraus, dass der Werkschutz linke Arbeiter im VW Werk São Bernardo do Campo bei São Paulo misshandelt, an die politische Polizei ausgeliefert und damit Folter- und Inhaftierungsfällen Beihilfe geleistet hatte. Ausserdem besass die Autogesellschaft von 1973 bis 1986 im Amazonasgebiet eine 140,000 Hektar grosse Rinderfarm, für deren massive Abholzung brasilianische Arbeiter unter brutalen Zwangsbedingungen eingesetzt worden waren. Obwohl letztere durch lokale Subunternehmen angestellt waren, wurde VW spätestens ab 1983 regelmässig über die Vorfälle informiert, unternahm aber nichts.
Zwangsarbeit ist ein Begriff, der bei VW schmerzhafte Erinnerungen an einen völlig anderen historischen Kontext hervorruft. Denn zwischen 1939 und 1944 wurden Tausende Kriegsgefangene, Zivilisten insbesondere aus Osteuropa sowie Häftlinge aus Konzentrationslagern für die Rüstungsproduktion im Wolfsburger Volkswagenwerk ausgebeutet. Es war eine Premiere unter deutschen Grossunternehmen, als VW 1986 eine unabhängige historische Studie über diese dunkle Vergangenheit in Auftrag gab.
Auf Empfehlung des Historikers Hans Mommsen stellte der Firmenvorstand 1991 zwölf Millionen D-Mark zur Verfügung, um in den Ursprungsländern der ehemaligen Zwangsarbeiter kulturelle und soziale Projekte zu unterstützen. Nach Veröffentlichung des Buches Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich (1996) folgte eine Serie von Initiativen zum Gedenken an die Opfer. Unter Führung des Historikers Manfred Grieger, der zusammen mit Mommsen das Buch geschrieben hatte, wurde 1997 die VW-Abteilung „Historische Kommunikation“ gegründet, deren Arbeit für Medien und die Wissenschaft zum Massstab wurde.
Natürlich wusste jeder, dass hinter der Entscheidung, dem öffentlichen Wunsch nach historischer Aufklärung entgegenzukommen, auch Unternehmensinteresse steckte. Die Aufarbeitung der eigenen Geschichte hatte für VW den Vorteil, mögliche firmenschädigende Aufdeckungen durch Dritte und somit auch Skandalisierungen vorzubeugen. Zudem entstand mit dem Ausbau der „Historischen Kommunikation“ eine Kultur des historischen Marketings, die für den Autobauer Teil der Produktpromotion wurde. Neben Publikationen, wie etwa der 2005 erschienenen, beachtenswerten Sammlung von Berichten ehemaliger jüdischer Zwangsarbeiter, die das in Wolfsburg begangene Unrecht schonungslos darstellten, wurden auch Bücher mit glänzenden Autobildern veröffentlicht, die die klassische Erzählung einer Nachkriegserfolgsgeschichte widerspiegelten.
VW in Brasilien: Schleppende Aufarbeitung
So fing VW erst dann an, seiner eigenen Geschichte in der vom Unternehmen lange Zeit so genannten „Dritten Welt“ Aufmerksamkeit zu schenken, als aus dem zu einer emerged power gewordenen Brasilien öffentlicher Druck kam. Bereits in der von der ehemaligen Präsidentin Dilma Rousseff berufenen und 2014 abgeschlossenen Nationalen Wahrheitskommission (CNV), die die Verantwortung für die unter der Militärdiktatur begangenen Verbrechen aufschlüsseln sollte, tauchte der Verdacht auf, VW hätte sich an der politischen Verfolgung von Gewerkschaftlern unter der Diktatur beteiligt. Im Jahr darauf meldeten sich zwölf mutmassliche Opfer im Rahmen einer von Gewerkschaften und NGOs mitgetragenen Sammelklage, die Ermittlungen der brasilianischen Staatsanwaltschaft gegen den Automobilhersteller auslösten.

Produktionsstrasse bei VW do Brasil, o.J.; Quelle: handelsblatt.com
Dieser Kontext veranlassten die „Historische Kommunikation“ von VW, Recherchen über die Rolle des Konzerns im brasilianischen Militärregime zu beginnen. Durch erste Archivbesuche, Versuche, einen (nicht immer einfachen) Dialog mit den betroffenen Arbeitern herzustellen, und die Organisation einer Konferenz an der Universität Göttingen hatten Grieger und sein Team 2014 sogar schon angefangen, sich mit der Frage, wie man das Verhalten multinationaler Unternehmen in autoritären Staaten bewertet, ernsthaft zu beschäftigen. Aber mitten in diesem Prozess trennte sich im Oktober 2016 das Unternehmen von Grieger. Dabei soll seine Rezension über eine die Konzerntochter Audi betreffende Auftragsstudie eine ausschlaggebende Rolle gespielt haben. Durch kritische Argumente hatte er angedeutet, dass die Studie aus mangelnder Distanz zum Auftragsgeber ihr Ziel verfehlt habe, die Verstrickungen Audis mit dem NS-Regime lückenlos zu analysieren. Vermutlich war auch die von Grieger über die Jahre hinweg konsequent umgesetzte Philosophie, auch die schmerzhaftesten historischen Fragen nicht zu ignorieren, nie völlig in der Unternehmensmentalität angekommen. Laut einer ARD-Reportage vom 24. Juli 2017 ging auch seine Recherche zu Brasilien dem Vorstand zu weit. Die betriebsinterne Panik um den Abgasskandal seit Herbst 2015 war dabei für eine weitere Auseinandersetzung mit den Schattenseiten der Firmengeschichte nicht besonders hilfreich.
Gutachten aus dem In- und Ausland
Der auf Wunsch der Unternehmensleitung erfolgten Kündigung Griegers folgten laute Proteste aus der HistorikerInnengemeinschaft in Deutschland sowie enttäuschte Medien- und Gewerkschaftsberichte in Brasilien. Im Kontext dieser kritischen Reaktionen bat VW unmittelbar danach den Historiker Christopher Kopper, ein unabhängiges Gutachten zum Verhältnis des Konzerns zur brasilianischen Staatsrepression zu erstellen.
Doch ging es VW tatsächlich darum, seine rechtliche Verantwortung zu klären? Wollte der Konzern wissen, was in seinem eigenen Werk genau passiert war? Dann hätte sich das Unternehmen auch auf eine Studie des Politikwissenschaftlers Guaracy Mingardi verlassen können, die einige Monate zuvor von der brasilianischen Staatsanwaltschaft in Auftrag gegeben worden war. Aber der verantwortliche Staatsanwalt Pedro Machado erklärte, dass er VW vergeblich dazu eingeladen habe, sich mit der Aushändigung von firmeninternen Archivdokumenten an der Untersuchung zu beteiligen.
VW hätte ebenso die brasilianischen ForscherInnen unterstützen können, die sich in Arbeitsgruppen wie Mais Verdade in Rio de Janeiro oder dem IIEP (Intercâmbio, Informações, Estudos e Pesquisas) in São Paulo seit längerer Zeit für die Aufarbeitung der Unternehmensverantwortung unter dem Militärregime interessieren. Insgesamt mangelt es in Brasilien nicht an hochkompetenten HistorikerInnen zur Geschichte der Diktatur. Die Entstehungsbedingungen der VW-Auftragsstudie hinterlassen deshalb den Eindruck, dass in den Augen des Firmenvorstands nur ein deutscher Wissenschaftler ein Garant für Seriosität und Sachlichkeit sei, egal, ob dieser im Vorfeld eine ernsthafte Kenntnis der Zeitgeschichte, Verhältnisse und Sprache Brasiliens habe oder nicht.
Denn Kopper gab gegenüber ARD-Journalisten zu, dass er sich zuerst komplett in den Gegenstand habe einarbeiten müssen. Liest man den Endbericht des Bielefelder Forschers, wird deutlich, dass ihm das gelungen ist. Gleichzeitig ist allen HistorikerInnen bewusst, wie wesentlich sprachliche und kontextuelle Kenntnisse für die historische Arbeit sind. So konnte Kopper trotz fleissiger Recherchearbeit viele Dokumente aus der politischen Polizei des Staates São Paulo sowie vom brasilianischen Sicherheitsdienst, die im Endbericht von Guaracy Mingardi analysiert und reproduziert werden, in seiner eigenen Recherche nicht berücksichtigen.
VW verhielt sich gegenüber der Militärregierung „uneingeschränkt loyal“
Trotz dieser Hindernisse legte Kopper im Herbst 2017 einen seriösen und sachlich belegten 126 seitigen Text vor, der (ähnlich wie der kurz zuvor bei der Staatsanwaltschaft eingereichte Mingardi-Bericht) einen Grossteil der Verdachtsfälle gegen den Konzern bestätigen konnte: Die Filiale VW do Brasil beurteilte den Militärputsch von 1964 positiv und „verhielt sich gegenüber der Militärregierung uneingeschränkt loyal“. Es fand zwischen 1969 und 1979 eine „Zusammenarbeit des Werkschutzes mit der politischen Polizei des Regimes“ statt und dies „mit dem stillschweigenden Wissen des Vorstands“. Der Werkschutz erleichterte die Verhaftung von Werkbeschäftigten zu einem Zeitpunkt, in dem der Einsatz von Folter „bereits in der deutschen und in der brasilianischen Öffentlichkeit bekannt war“. Es wurden auch Arbeiter überwacht und politisch motivierte „schwarze Listen“ erstellt und mit anderen Unternehmen ausgetauscht, um die Beschäftigung von als subversiv wahrgenommenen Individuen in der gesamten Autobranche zu unterbinden. Bezüglich der Ausbeutung von ländlichen Arbeitern auf seiner Amazonas-Farm spricht Kopper von „mittelbarer Verantwortung“ des Konzerns.
Anlässlich der Publikation der „Kopper-Studie“ wurden die klagenden Opfer am 14. Dezember 2017 zu einer öffentlichen Veranstaltung in São Bernardo do Campo eingeladen. Informationen zum Ablauf der Veranstaltung erhielten sie jedoch nicht, so dass sich die klagenden Arbeiter für eine Demonstration vor den Werkstoren entschieden und gegen das Posieren beim Handschlag mit Unternehmensvertretern: „Wir wollen keine Party, wir wollen Gerechtigkeit“, stand auf den Transparenten.

Protestierende VW-Arbeiter; Quelle: dw.com
Im Konferenzsaal des Werkes nutzte VW die Veröffentlichung des Kopper-Berichtes, um sich als geschichtsbewusstes multinationales Unternehmen feiern zu lassen. Doch in diesem Rahmen wurde eine zwiespältige Botschaft vermittelt, die eher nach einer Ablehnung der eigenen historischen Verantwortung klang. Trotz der bisherigen Anstrengungen der Firmenleitung, die Recherchearbeit von deutschen Forschern erledigen zu lassen, war kein deutscher Vorstand anwesend; als ob die Angelegenheit plötzlich zu einem ausschliesslich lokalen Problem geworden sei.
Der Sprecher des Konzerns, Pablo di Si, schrieb die im Bericht aufgezeichneten Missbräuche „Einzeltätern“ zu, brachte im Namen der Firma seine „Reue“ zum Ausdruck, ohne die erwartete „Entschuldigung“ auszusprechen, und enthüllte eine Gedenktafel zu Ehren der „Opfer der Diktatur“, auf der kein Hinweis auf VW und die durch dessen Werkschutz misshandelten Arbeiter stand.
Verantwortung in der Gegenwart
Die weiteren Forderungen des Berichts fielen unter den Tisch. Kopper war in Brasilien zu unbekannt, als dass seine im deutschen Fernsehen geäusserte Empfehlung, das Unternehmen solle sich bei den Opfern entschuldigen und sie entschädigen, zu einer öffentlichen Forderung in der brasilianischen Gesellschaft hätte werden können. Mit dem Erfolg des rechten Wahlkampfes Bolsonaros im Jahr 2018 und der Machtergreifung von Nostalgikern der Diktatur, die die Arbeit der nationalen Wahrheitskommission sowie die Erinnerung an die Opfer des Militärregimes am liebsten unterbinden würden, geriet sein Bericht praktisch in Vergessenheit.
Politisch stammt der ehemalige Armeeoffizier Bolsonaro aus dem extremen rechten Rand des von ihm verehrten Militärregimes, dem er allerdings vorhält, nicht genug Oppositionelle getötet zu haben. Im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte verteidigte er offen faschistische Werte und Praktiken wie Folter, Massenmord und politische Gefangennahmen. Trotz rasch schrumpfender Popularität im eigenen Land und eines katastrophalen diplomatischen Auftretens hofft seine Regierung mittels einer marktradikalen Budgetpolitik darauf, durch die Unterstützung globaler Wirtschaftsakteure auf internationaler Ebene salonfähig zu werden. Wie VW in diesem Kontext und als der wichtigste Autohersteller Brasiliens mit der Frage der historischen Verantwortung umgehen wird, muss ernsthaft beobachtet werden. Im Moment laufen Verhandlungen mit den klagenden Arbeitern, auf die sich die Firma erst unter Androhung eines Gerichtsprozesses einliess.
Würde sich VW zu einem versöhnlichen Ansatz der Vergangenheitsaufarbeitung bekennen und an der Seite der Opfer für eine Politik der materiellen und symbolischen Wiedergutmachung engagieren, wäre ein historischer Schritt getan. Damit könnte das Autounternehmen eine längst überfällige Aufarbeitung der Militärdiktatur anregen, die Brasilien gerade im heutigen Kontext so dringend braucht wie nie zuvor: Für den 31. März hat Bolsonaro offizielle Feierlichkeiten zum 55. Jahrestag des Militärputsches organisiert. Kehrt VW jedoch die Angelegenheit unter den Teppich und behandelt die Regierung Bolsonaros weiterhin wie einen ganz normalen Gesprächspartner, wäre dies nicht nur verheerend für die Demokratie in Brasilien. Es würde auch zeigen, dass VW von über dreissig Jahren Gedächtnisarbeit in Deutschland wenig gelernt hat.