Der Juli 2023 war der heißeste Monat, der in der Menschheitsgeschichte jemals gemessen wurde. Diese Meldung, zusammen mit den Schreckensbildern von Waldbränden und Überschwemmungen aus den verschiedensten Teilen der Erde, führt dazu, dass der Klimawandel sich selbst von den hartnäckigsten Verweigerer*innen kaum mehr leugnen lässt. Allerdings ist das, historisch gesehen, reichlich spät. In der Wissenschaft ist schon viel länger bekannt, dass menschliche Aktivitäten, insbesondere der Ausstoß von Kohlendioxid, Einfluss auf das Klima haben. Spätestens in den 1970ern zeigten sich Muster in den Daten, die sich nach und nach, durch die Kombination der unterschiedlichsten Forschungsmethoden, zu einem immer klareren Bild verdichteten. Seit langem, genauer gesagt seit 1988, gibt es das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), das im Auftrag des Umweltprogramms der Vereinten Nationen regelmäßig Berichte zur Lage des Weltklimas veröffentlicht. Tausende von Expert*innen arbeiten an ihnen mit – und während manche Details umstritten sind, gilt die Arbeit des IPCC insgesamt als extrem sorgfältig und zuverlässig.
Ein Grund für diese verzögerte Ankunft im öffentlichen Bewusstsein ist sicherlich die Existenz starker Interessensgruppen. Diesen kommt es nicht gelegen, dass Normalbürger*innen verstehen, welche Bedrohung durch die Nutzung fossiler Energien entstanden ist. Inzwischen ist gut dokumentiert, dass die Öl- und Gasindustrie diverse PR-Manöver einsetzte, um zu verhindern, dass diese Einsicht sich verbreitet, zum Beispiel durch bezahlte Zeitungsbeiträge, die anzweifelten, dass der Klimawandel menschengemacht sei. Doch diese Manöver hätten wahrscheinlich nicht so erfolgreich sein können, wenn darunter nicht ein tieferes Problem läge: wie umgehen mit der Spannung zwischen demokratischer Gleichheit und der Ungleichheit in Wissen und Expertise?
Die Spannung zwischen Gleichheit und Expertise
Warum, so könnte man fragen, folgt demokratische Politik nicht einfach direkt den Empfehlungen der Expert*innen? Die Antwort liegt auf der Hand: Das wäre Technokratie, nicht Demokratie. Grundprinzip demokratischer Politik ist, dass „alle Macht vom Volke“ ausgeht, wie es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland heißt. Das Bewusstsein für diese Volkssouveränität zeigt sich in einer Situation, in der Expert*innenwissen viel schneller von der Politik aufgegriffen wurde als beim Klimawandel: Während der Coronakrise gab es viel Unzufriedenheit darüber, dass scheinbar alle entscheidenden Impulse für den Umgang mit der Krise von einer kleinen Gruppe von Virolog*innen kamen, zumindest in der ersten Phase der Pandemie. Aber war das so falsch? Es gab in dieser Phase erstaunlich viele Menschen, die sich nach einer halben Stunde Internetrecherche genauso kompetent fühlten wie führende Wissenschaftler*innen, die sich seit Jahrzehnten mit bestimmten Themen beschäftigen.
Würde man oberflächliches Googlewissen und genuine Expertise gleichsetzen, würde das darauf hinauslaufen, die unterschiedliche Autorität von Expert*innen und Laien schlicht zu leugnen – und das kann keine Lösung sein. Wir leben in arbeitsteiligen Gesellschaften, in denen es unterschiedliche Formen von Expertise gibt, die nicht nur denjenigen, die sie haben, sondern auch vielen anderen zugutekommen. Wer sich jahrelang beruflich mit einem Themenbereich auseinandergesetzt hat, kann darüber die bessere Auskunft bieten als jemand, der sich gerade erst ein paar Fachbegriffe angeeignet hat.
Dieser Tatsache muss sich demokratische Politik stellen, ohne in Technokratie zu verfallen. Um eine räumliche Metapher zu gebrauchen: Sie muss damit umgehen, dass die Wissenslandschaft nicht „flach“ ist, sondern es bestimmte Hügel und Berge gibt, die nur kleine Gruppen hochgradig spezialisierter Expert*innen erklimmen – nicht unbedingt, weil andere kein Talent dafür hätten, sondern schlicht, weil es enorm viel Zeit kostet, so tief in ein Gebiet einzutauchen. Das gilt übrigens, in abgewandelter Form, auch für Formen der Expertise jenseits der Wissenschaft: Wer zum Beispiel lange in einem bestimmten Gebiet gewohnt hat, kann mehr über die lokalen Besonderheiten sagen, als jemand, der nur auf der Durchreise ist, und es gilt auch für das Wissen indigener Gruppen, das oft über Generationen entwickelt wurde.
Die Frage ist, wie dieses Wissen, das nur kleine Gruppen besitzen, in den breiteren öffentlichen Diskurs getragen werden kann – wie es, um in der Metapher zu bleiben, von den Berggipfeln in die weite Ebene, die für alle zugänglich ist, gebracht werden kann. So gesehen sind Klimaexpert*innen und Virolog*innen nur ein Extremfall eines viel weiter verbreiteten Phänomens. Auch bei der Städteplanung, für den Umgang mit jugendlichen Straftäter*innen oder bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung gibt es diejenigen, die ausführliches Expert*innenwissen beisteuern können und diejenigen, die nur aus den Medien von den Problemen wissen. Zu ersterer Gruppe gehören auch diejenigen, die bestimmte Erfahrungen am eigenen Leib gemacht haben – in den Niederlanden gibt es dafür das schöne Wort „Ervaringsdeskundige,“ also Expert*in aus Erfahrung.
Die Funktionslogik von Expertise
Expert*innengemeinschaften folgen oft bestimmten Standards und Methoden, um Wissen zu erzeugen. Oft findet – wie beim „peer review“ in der Wissenschaft – eine gewisse gegenseitige Kontrolle durch die Mitglieder einer Gemeinschaft statt. Aber letztlich ist es eine Frage der Integrität, die sich durch externe Kontrollen nicht komplett ersetzen lässt, nach bestem Wissen und Gewissen zur Wissensproduktion beizutragen. Die gelebte Praxis ist freilich oft ein Stück weit entfernt von diesem Ideal: Autorität, die auf Expertise beruht, kann mit anderen Formen von Macht und Status verwechselt oder sogar bewusst vermischt werden. Manchmal werden Gegenargumente oder andere Sichtweisen abgelehnt, nicht weil sie nicht zumindest prüfenswert wären, sondern weil sie von Gruppen kommen, die nicht als „Insider“ gelten.
Der öffentliche demokratische Diskurs folgt einer anderen Logik. Hier gibt es keine „Methode“ und hier müssen unterschiedliche Formen von Expertise zusammengebracht werden. Werte und Interessen kommen ins Spiel, manchmal wird äußert schmutzig gespielt – denn es geht nicht um Wissenserzeugung per se, sondern um Macht und Ergebnisse. Expert*innengemeinschaften müssen einen gewissen Abstand vom politischen Diskurs bewahren, und gleichzeitig ihre Erkenntnisse in der Öffentlichkeit kommunizieren. Die Schnittstellen, an denen Wissenschaftler*innen sich in den öffentlichen Diskurs einbringen, sind gleichzeitig ein beliebtes Einfallstor für diejenigen, die Erkenntnisse zu ihren eigenen Gunsten verzerren wollen, denn schon mit der Präsentation und dem Framing von Fakten lässt sich Politik machen.
Expert*innen stehen vor der Herausforderung, wie sie ihre Ergebnisse in eine verständliche Sprache übersetzen können, ohne sie zu verzerren. Eine gewisse Vereinheitlichung ist dabei unvermeidbar: die Hintergrundannahmen von detaillierten Auseinandersetzungen darüber, was genau ein Modell aussagt, können nicht in die „executive summaries,“ die in Politik und Öffentlichkeit gelesen werden. Deswegen ist wichtig, dass Expert*innen im Gespräch mit anderen bleiben, vor Fehlinterpretationen warnen, und vielleicht ein Stück weit ihre Methoden der Wissensgenerierung erklären. Das passiert zum Beispiel in zahlreichen Projekten der Citizen Science, in denen Bürger*innen sich online oder offline an Forschung beteiligen, sei es bei der Beobachtung von Vogelbeständen oder der Auswertung historischer Dokumente. Dadurch wird man nicht selbst im gleichen Maß zur Expert*in wie die beteiligten Wissenschaftler*innen, aber es kann helfen, z.B. die Methode der statistischen Datenauswertung ungefähr zu verstehen. Eine wichtige Rolle fällt dabei denjenigen zu, die sich professionell mit Wissensvermittlung beschäftigen, z.B. im Wissenschaftsjournalismus. Zu ihren Aufgaben gehört, darauf zu achten, dass Expert*innen jeweils präzise zu ihrem eigenen Wissenschaftsgebiet befragt werden – wenn sie über andere Themen sprechen, sind sie normale Bürger*innen wie alle anderen auch.
Und natürlich finden all diese Prozesse in sozialen Institutionen wie Medien und Bildungseinrichtungen der verschiedensten Art statt, die ebenfalls eine demokratische Verantwortung haben. Sie gehören, so gesehen, zur Infrastruktur funktionierender Demokratie genauso dazu wie die materielle Infrastruktur öffentlicher Räume und Verkehrswege.
Wieviel Ungleichheit verträgt eine expertiseabhängige Demokratie?
Letztlich stellt sich eine weitergehende Frage: wenn Abhängigkeit von der Expertise anderer nicht zu vermeiden ist, wie muss dann eine Gesellschaft gestaltet sein, damit aus dieser Abhängigkeit keine Dominanz wird? In einer Demokratie muss so gut wie möglich vermieden werden, dass Einzelne oder Gruppen von anderen dominiert werden – doch wie kann das funktionieren, wenn wir in Bezug auf Expertise alle ständig von anderen Expert*innen abhängig sind? Um diese Frage zu beantworten, muss man nicht nur die Wissensinfrastrukturen, sondern auch die gesellschaftlichen Strukturen in einem weiteren Sinne berücksichtigen.
Man kann hier die Hypothese wagen, dass Gesellschaften, die sich sozio-ökonomisch immer weiter auseinanderentwickeln, vor einer großen Herausforderung stehen, und das aus zwei Gründen. Erstens ist im Umgang mit Expert*innen Vertrauen nötig, das allerdings auch gerechtfertigt sein muss. Wenn es Gründe gibt, anzunehmen, dass Expert*innen in erster Linie die Interessen ihrer eigenen sozialen Gruppe befördern möchten, warum sollte man ihnen vertrauen? Empirisch ist belegt, dass das allgemeine Vertrauen in Gesellschaften sinkt, wenn die sozio-ökonomische Ungleichheit steigt. Misstrauen gegenüber „denen da oben“, aber eben möglicherweise auch gegen „diese Expert*innen“, die als nicht zur eigenen Gruppe gehörig empfunden werden, wird dann zum Risiko für einen produktiven Umgang mit Expert*innenwissen im öffentlichen Diskurs.
Zweitens bringt sozio-ökonomische Ungleichheit Klassenbildung mit sich. Wenn die Milieus sich immer weiter voneinander weg entwickeln, wenn Schulen die Kinder bereits nach sozio-ökonomischem Hintergrund sortieren und akademische Laufbahnen aufgrund ihrer großen Prekarität nur für Privilegierte attraktiv sind, dann dünnt das die persönlichen Netzwerke aus, in denen unterschiedliche Berufsgruppen, mit ihren unterschiedlichen Formen von Expertise, zusammenkommen. Es dürfte heute schon so sein, dass weite Teile der Bevölkerung keine Klimaexpert*innen im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis haben. Die Möglichkeit des persönlichen Austauschs kann aber entscheidend dafür sein, Vertrauen aufzubauen, ein Grundverständnis für unterschiedliche Formen der Wissensproduktion zu erwerben, und damit auch andere Expert*innen mit andere Augen zu sehen.
Deswegen dürfte die Verringerung der sozio-ökonomischen Ungleichheit dazu beitragen, dass das Vertrauen in die Aussagen von Expert*innen steigt, sei es in Bezug auf Klimafragen oder anderen Themen. Hinzu kommt, dass der Widerstand gegen transformative Maßnahmen sinken dürfte, wenn niemand Angst haben muss, als Verlierer*in unter die Räder zu kommen.
Mehr Gleichheit in anderen Dimensionen – und zentral dabei ist wahrscheinlich die sozio-ökonomische Dimension – kann, wenn diese Hypothese stimmt, den demokratischen Umgang mit ungleicher Expertise erleichtern. Letztere ist in einer komplexen, arbeitsteiligen Gesellschaft unvermeidlich, erstere nicht. Wenn es Orte gibt, an denen Handwerker*innen und Chirurg*innen, Pflegende und Astrophysiker*innen sich im Alltag begegnen und entspannt und auf Augenhöhe miteinander über Fragen der Klima- oder Pandemiepolitik sprechen können, dann kann Verständnis für die verschiedenen Formen von Expertise entstehen, die sie alle in die Gesellschaft einbringen, und sie muss keine Gefahr für demokratische Gleichheit sein.