Die Klimakrise ebenso wie die Corona-Pandemie zeigen, dass die Politik auf den Rat von Expert*innen angewiesen ist. Aber wie kann verhindert werden, dass damit das demokratische Gleichheitsgebot unterlaufen wird?

  • Lisa Herzog

    Lisa Herzog lehrt politische Philosophie an der Universität Groningen. Sie arbeitet zur Ideengeschichte von Philosophie und Ökonomie und zu normativen Fragen rund um Arbeit, Wirtschaft und Demokratie. Kürzlich erschient von ihr Citizen Knowledge. Markets, Experts, and the Infrastructure of Democracy als digital verfügbare Open Access Publikation.

Der Juli 2023 war der heißeste Monat, der in der Mensch­heits­ge­schichte jemals gemessen wurde. Diese Meldung, zusammen mit den Schre­ckens­bil­dern von Wald­bränden und Über­schwem­mungen aus den verschie­densten Teilen der Erde, führt dazu, dass der Klima­wandel sich selbst von den hart­nä­ckigsten Verweigerer*innen kaum mehr leugnen lässt. Aller­dings ist das, histo­risch gesehen, reich­lich spät. In der Wissen­schaft ist schon viel länger bekannt, dass mensch­liche Akti­vi­täten, insbe­son­dere der Ausstoß von Kohlen­di­oxid, Einfluss auf das Klima haben. Spätes­tens in den 1970ern zeigten sich Muster in den Daten, die sich nach und nach, durch die Kombi­na­tion der unter­schied­lichsten Forschungs­me­thoden, zu einem immer klareren Bild verdich­teten. Seit langem, genauer gesagt seit 1988, gibt es das Inter­go­vern­mental Panel on Climate Change (IPCC), das im Auftrag des Umwelt­pro­gramms der Vereinten Nationen regel­mäßig Berichte zur Lage des Welt­klimas veröf­fent­licht. Tausende von Expert*innen arbeiten an ihnen mit – und während manche Details umstritten sind, gilt die Arbeit des IPCC insge­samt als extrem sorg­fältig und zuverlässig.

Ein Grund für diese verzö­gerte Ankunft im öffent­li­chen Bewusst­sein ist sicher­lich die Exis­tenz starker Inter­es­sens­gruppen. Diesen kommt es nicht gelegen, dass Normalbürger*innen verstehen, welche Bedro­hung durch die Nutzung fossiler Ener­gien entstanden ist. Inzwi­schen ist gut doku­men­tiert, dass die Öl- und Gasin­dus­trie diverse PR-Manöver einsetzte, um zu verhin­dern, dass diese Einsicht sich verbreitet, zum Beispiel durch bezahlte Zeitungs­bei­träge, die anzwei­felten, dass der Klima­wandel menschen­ge­macht sei. Doch diese Manöver hätten wahr­schein­lich nicht so erfolg­reich sein können, wenn darunter nicht ein tieferes Problem läge: wie umgehen mit der Span­nung zwischen demo­kra­ti­scher Gleich­heit und der Ungleich­heit in Wissen und Expertise?

Die Span­nung zwischen Gleich­heit und Expertise

Warum, so könnte man fragen, folgt demo­kra­ti­sche Politik nicht einfach direkt den Empfeh­lungen der Expert*innen? Die Antwort liegt auf der Hand: Das wäre Tech­no­kratie, nicht Demo­kratie. Grund­prinzip demo­kra­ti­scher Politik ist, dass „alle Macht vom Volke“ ausgeht, wie es im Grund­ge­setz der Bundes­re­pu­blik Deutsch­land heißt. Das Bewusst­sein für diese Volks­sou­ve­rä­nität zeigt sich in einer Situa­tion, in der Expert*innenwissen viel schneller von der Politik aufge­griffen wurde als beim Klima­wandel: Während der Coro­na­krise gab es viel Unzu­frie­den­heit darüber, dass scheinbar alle entschei­denden Impulse für den Umgang mit der Krise von einer kleinen Gruppe von Virolog*innen kamen, zumin­dest in der ersten Phase der Pandemie. Aber war das so falsch? Es gab in dieser Phase erstaun­lich viele Menschen, die sich nach einer halben Stunde Inter­net­re­cherche genauso kompe­tent fühlten wie führende Wissenschaftler*innen, die sich seit Jahr­zehnten mit bestimmten Themen beschäftigen.

Würde man ober­fläch­li­ches Google­wissen und genuine Exper­tise gleich­setzen, würde das darauf hinaus­laufen, die unter­schied­liche Auto­rität von Expert*innen und Laien schlicht zu leugnen – und das kann keine Lösung sein. Wir leben in arbeits­tei­ligen Gesell­schaften, in denen es unter­schied­liche Formen von Exper­tise gibt, die nicht nur denje­nigen, die sie haben, sondern auch vielen anderen zugu­te­kommen. Wer sich jahre­lang beruf­lich mit einem Themen­be­reich ausein­an­der­ge­setzt hat, kann darüber die bessere Auskunft bieten als jemand, der sich gerade erst ein paar Fach­be­griffe ange­eignet hat.

Dieser Tatsache muss sich demo­kra­ti­sche Politik stellen, ohne in Tech­no­kratie zu verfallen. Um eine räum­liche Meta­pher zu gebrau­chen: Sie muss damit umgehen, dass die Wissens­land­schaft nicht „flach“ ist, sondern es bestimmte Hügel und Berge gibt, die nur kleine Gruppen hoch­gradig spezia­li­sierter Expert*innen erklimmen – nicht unbe­dingt, weil andere kein Talent dafür hätten, sondern schlicht, weil es enorm viel Zeit kostet, so tief in ein Gebiet einzu­tau­chen. Das gilt übri­gens, in abge­wan­delter Form, auch für Formen der Exper­tise jenseits der Wissen­schaft: Wer zum Beispiel lange in einem bestimmten Gebiet gewohnt hat, kann mehr über die lokalen Beson­der­heiten sagen, als jemand, der nur auf der Durch­reise ist, und es gilt auch für das Wissen indi­gener Gruppen, das oft über Gene­ra­tionen entwi­ckelt wurde.

Die Frage ist, wie dieses Wissen, das nur kleine Gruppen besitzen, in den brei­teren öffent­li­chen Diskurs getragen werden kann – wie es, um in der Meta­pher zu bleiben, von den Berg­gip­feln in die weite Ebene, die für alle zugäng­lich ist, gebracht werden kann. So gesehen sind Klimaexpert*innen und Virolog*innen nur ein Extrem­fall eines viel weiter verbrei­teten Phäno­mens. Auch bei der Städ­te­pla­nung, für den Umgang mit jugend­li­chen Straftäter*innen oder bei der Digi­ta­li­sie­rung der öffent­li­chen Verwal­tung gibt es dieje­nigen, die ausführ­li­ches Expert*innenwissen beisteuern können und dieje­nigen, die nur aus den Medien von den Problemen wissen. Zu ersterer Gruppe gehören auch dieje­nigen, die bestimmte Erfah­rungen am eigenen Leib gemacht haben – in den Nieder­landen gibt es dafür das schöne Wort „Erva­rings­des­kun­dige,“ also Expert*in aus Erfahrung.

Die Funk­ti­ons­logik von Expertise

Expert*innengemeinschaften folgen oft bestimmten Stan­dards und Methoden, um Wissen zu erzeugen. Oft findet – wie beim „peer review“ in der Wissen­schaft – eine gewisse gegen­sei­tige Kontrolle durch die Mitglieder einer Gemein­schaft statt. Aber letzt­lich ist es eine Frage der Inte­grität, die sich durch externe Kontrollen nicht komplett ersetzen lässt, nach bestem Wissen und Gewissen zur Wissens­pro­duk­tion beizu­tragen. Die gelebte Praxis ist frei­lich oft ein Stück weit entfernt von diesem Ideal: Auto­rität, die auf Exper­tise beruht, kann mit anderen Formen von Macht und Status verwech­selt oder sogar bewusst vermischt werden. Manchmal werden Gegen­ar­gu­mente oder andere Sicht­weisen abge­lehnt, nicht weil sie nicht zumin­dest prüfens­wert wären, sondern weil sie von Gruppen kommen, die nicht als „Insider“ gelten.

Der öffent­liche demo­kra­ti­sche Diskurs folgt einer anderen Logik. Hier gibt es keine „Methode“ und hier müssen unter­schied­liche Formen von Exper­tise zusam­men­ge­bracht werden. Werte und Inter­essen kommen ins Spiel, manchmal wird äußert schmutzig gespielt – denn es geht nicht um Wissens­er­zeu­gung per se, sondern um Macht und Ergeb­nisse. Expert*innengemeinschaften müssen einen gewissen Abstand vom poli­ti­schen Diskurs bewahren, und gleich­zeitig ihre Erkennt­nisse in der Öffent­lich­keit kommu­ni­zieren. Die Schnitt­stellen, an denen Wissenschaftler*innen sich in den öffent­li­chen Diskurs einbringen, sind gleich­zeitig ein beliebtes Einfallstor für dieje­nigen, die Erkennt­nisse zu ihren eigenen Gunsten verzerren wollen, denn schon mit der Präsen­ta­tion und dem Framing von Fakten lässt sich Politik machen.

Expert*innen stehen vor der Heraus­for­de­rung, wie sie ihre Ergeb­nisse in eine verständ­liche Sprache über­setzen können, ohne sie zu verzerren. Eine gewisse Verein­heit­li­chung ist dabei unver­meidbar: die Hinter­grund­an­nahmen von detail­lierten Ausein­an­der­set­zungen darüber, was genau ein Modell aussagt, können nicht in die „execu­tive summa­ries,“ die in Politik und Öffent­lich­keit gelesen werden. Deswegen ist wichtig, dass Expert*innen im Gespräch mit anderen bleiben, vor Fehl­in­ter­pre­ta­tionen warnen, und viel­leicht ein Stück weit ihre Methoden der Wissens­ge­ne­rie­rung erklären. Das passiert zum Beispiel in zahl­rei­chen Projekten der Citizen Science, in denen Bürger*innen sich online oder offline an Forschung betei­ligen, sei es bei der Beob­ach­tung von Vogel­be­ständen oder der Auswer­tung histo­ri­scher Doku­mente. Dadurch wird man nicht selbst im glei­chen Maß zur Expert*in wie die betei­ligten Wissenschaftler*innen, aber es kann helfen, z.B. die Methode der statis­ti­schen Daten­aus­wer­tung unge­fähr zu verstehen. Eine wich­tige Rolle fällt dabei denje­nigen zu, die sich profes­sio­nell mit Wissens­ver­mitt­lung beschäf­tigen, z.B. im Wissen­schafts­jour­na­lismus. Zu ihren Aufgaben gehört, darauf zu achten, dass Expert*innen jeweils präzise zu ihrem eigenen Wissen­schafts­ge­biet befragt werden – wenn sie über andere Themen spre­chen, sind sie normale Bürger*innen wie alle anderen auch.

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Und natür­lich finden all diese Prozesse in sozialen Insti­tu­tionen wie Medien und Bildungs­ein­rich­tungen der verschie­densten Art statt, die eben­falls eine demo­kra­ti­sche Verant­wor­tung haben. Sie gehören, so gesehen, zur Infra­struktur funk­tio­nie­render Demo­kratie genauso dazu wie die mate­ri­elle Infra­struktur öffent­li­cher Räume und Verkehrswege.

Wieviel Ungleich­heit verträgt eine exper­ti­se­ab­hän­gige Demokratie?

Letzt­lich stellt sich eine weiter­ge­hende Frage: wenn Abhän­gig­keit von der Exper­tise anderer nicht zu vermeiden ist, wie muss dann eine Gesell­schaft gestaltet sein, damit aus dieser Abhän­gig­keit keine Domi­nanz wird? In einer Demo­kratie muss so gut wie möglich vermieden werden, dass Einzelne oder Gruppen von anderen domi­niert werden – doch wie kann das funk­tio­nieren, wenn wir in Bezug auf Exper­tise alle ständig von anderen Expert*innen abhängig sind? Um diese Frage zu beant­worten, muss man nicht nur die Wissens­in­fra­struk­turen, sondern auch die gesell­schaft­li­chen Struk­turen in einem weiteren Sinne berücksichtigen.

Man kann hier die Hypo­these wagen, dass Gesell­schaften, die sich sozio-ökonomisch immer weiter ausein­an­der­ent­wi­ckeln, vor einer großen Heraus­for­de­rung stehen, und das aus zwei Gründen. Erstens ist im Umgang mit Expert*innen Vertrauen nötig, das aller­dings auch gerecht­fer­tigt sein muss. Wenn es Gründe gibt, anzu­nehmen, dass Expert*innen in erster Linie die Inter­essen ihrer eigenen sozialen Gruppe beför­dern möchten, warum sollte man ihnen vertrauen? Empi­risch ist belegt, dass das allge­meine Vertrauen in Gesell­schaften sinkt, wenn die sozio-ökonomische Ungleich­heit steigt. Miss­trauen gegen­über „denen da oben“, aber eben mögli­cher­weise auch gegen „diese Expert*innen“, die als nicht zur eigenen Gruppe gehörig empfunden werden, wird dann zum Risiko für einen produk­tiven Umgang mit Expert*innenwissen im öffent­li­chen Diskurs.

Zwei­tens bringt sozio-ökonomische Ungleich­heit Klas­sen­bil­dung mit sich. Wenn die Milieus sich immer weiter vonein­ander weg entwi­ckeln, wenn Schulen die Kinder bereits nach sozio-ökonomischem Hinter­grund sortieren und akade­mi­sche Lauf­bahnen aufgrund ihrer großen Preka­rität nur für Privi­le­gierte attraktiv sind, dann dünnt das die persön­li­chen Netz­werke aus, in denen unter­schied­liche Berufs­gruppen, mit ihren unter­schied­li­chen Formen von Exper­tise, zusam­men­kommen. Es dürfte heute schon so sein, dass weite Teile der Bevöl­ke­rung keine Klimaexpert*innen im eigenen Freundes- und Bekann­ten­kreis haben. Die Möglich­keit des persön­li­chen Austauschs kann aber entschei­dend dafür sein, Vertrauen aufzu­bauen, ein Grund­ver­ständnis für unter­schied­liche Formen der Wissens­pro­duk­tion zu erwerben, und damit auch andere Expert*innen mit andere Augen zu sehen.

Deswegen dürfte die Verrin­ge­rung der sozio-ökonomischen Ungleich­heit dazu beitragen, dass das Vertrauen in die Aussagen von Expert*innen steigt, sei es in Bezug auf Klima­fragen oder anderen Themen. Hinzu kommt, dass der Wider­stand gegen trans­for­ma­tive Maßnahmen sinken dürfte, wenn niemand Angst haben muss, als Verlierer*in unter die Räder zu kommen.

Mehr Gleich­heit in anderen Dimen­sionen – und zentral dabei ist wahr­schein­lich die sozio-ökonomische Dimen­sion – kann, wenn diese Hypo­these stimmt, den demo­kra­ti­schen Umgang mit unglei­cher Exper­tise erleich­tern. Letz­tere ist in einer komplexen, arbeits­tei­ligen Gesell­schaft unver­meid­lich, erstere nicht. Wenn es Orte gibt, an denen Handwerker*innen und Chirurg*innen, Pfle­gende und Astrophysiker*innen sich im Alltag begegnen und entspannt und auf Augen­höhe mitein­ander über Fragen der Klima- oder Pande­mie­po­litik spre­chen können, dann kann Verständnis für die verschie­denen Formen von Exper­tise entstehen, die sie alle in die Gesell­schaft einbringen, und sie muss keine Gefahr für demo­kra­ti­sche Gleich­heit sein.