Die Unsicherheit in Zeiten von Corona spiegelt sich auch in der Unsicherheit der aktuellen Konjunkturprognosen. Doch waren Konjunkturprognosen jemals „sicher“? Nicht wirklich – und dennoch schaffen sie paradoxerweise seit rund hundert Jahren (vermeintliche) Sicherheit darüber, was die Zukunft bringt.

  • Laetitia Lenel

    Laetitia Lenel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin und forscht zur transatlantischen Geschichte der Konjunkturprognose im 20. Jahrhundert.

2020 war kein gutes Jahr für die Konjunk­tur­pro­gnostik. Im Dezember 2019 hatten Konjunkturforscher:innen noch prospe­rie­rende Zeiten voraus­ge­sagt: Die deut­sche Wirt­schaft werde spürbar wachsen, die Arbeits­lo­sig­keit weiter sinken. Vier Monate später prognos­ti­zierten sie einen histo­ri­schen Konjunk­tur­ein­bruch. Das Brut­to­in­lands­pro­dukt werde 2020 um 4,2% schrumpfen, die Arbeits­lo­sen­quote auf 5,9% hoch­schnellen, so die Prognose führender Wirt­schafts­for­schungs­in­sti­tute im April 2020.

Quelle: statista.com

Die Corona-Pandemie und die Maßnahmen, die zu ihrer Eindäm­mung getroffen wurden, hatten nicht nur die Prognosen aus dem Vorjahr entwertet, sondern führten auch in den kommenden Monaten zu verstärkter Unsi­cher­heit unter Konjunkturprognostiker:innen. Einer­seits gingen die Prognosen der Expert:innen weiter ausein­ander als üblich, ande­rer­seits sahen sich Ökonom:innen immer wieder zu Korrek­turen gezwungen. Im Juni korri­gierten Ökonom:innen ihre Erwar­tungen vom Früh­jahr nach unten, im September nach oben, im Oktober wieder nach unten.

Manche Prognostiker:innen spre­chen ange­sichts dieser Erfah­rungen von einem Novum. In diesem Sinn erklärte beispiels­weise Timo Woll­mers­häuser vom Münchner ifo Institut im Früh­jahr 2020: „Wir erleben gerade das Gegen­teil von Konjunktur. Es gibt kein Auf und Ab und keinen sich fort­pflan­zenden Trend, sondern einen Absturz in Rekord­ge­schwin­dig­keit und mit unge­wissem Ausgang.“ Eine vergleich­bare Situa­tion, so Woll­mers­häuser, habe er noch nie erlebt.

Das „Gegen­teil von Konjunktur“?

Der über­ra­schende Konjunk­tur­ein­bruch mit unge­wissem Ausgang als „Gegen­teil von Konjunktur“? Der Blick zurück lässt Zweifel an diesem Bild aufkommen. Zwar sind die Heraus­for­de­rungen und Folgen der Corona-Pandemie tatsäch­lich einzig­artig. Unsi­cher­heit prägte das Feld der Konjunk­tur­pro­gnostik aller­dings auch in der Vergan­gen­heit. Von „beson­deren Heraus­for­de­rungen“, die eine Prognose riskanter machen als üblich, war auch 2008 zu lesen. Und 2001. Und 1993. Und 1990 – um nur eine Auswahl zu nennen. Auch Irrtümer und Revi­sionen gehören zum Alltag der Konjunk­tur­pro­gnostik, wie beispiels­weise ein Blick in die Gemein­schafts­dia­gnosen von Früh­jahr und Herbst 2019 zeigt. Das war in der Vergan­gen­heit so und gilt bis heute. Tatsäch­lich offen­bart der Vergleich der Tref­fer­quote vergan­gener Konjunk­tur­pro­gnosen, dass die Qualität der Vorher­sagen wirt­schaft­li­cher Abschwünge trotz aller metho­di­schen Neue­rungen in den letzten Jahr­zehnten nicht zuge­nommen hat. Ein ernüch­ternder Befund. Über­ra­schender als die aktu­elle Konjunk­tur­ent­wick­lung erscheint demnach die Tatsache, dass sich der Glaube an die grund­sätz­liche Möglich­keit der Konjunk­tur­pro­gnose trotz aller Enttäu­schungen gehalten hat.

Versi­che­rungen wie die von Timo Woll­mers­häuser haben daran einen entschei­denden Anteil. Sie sugge­rieren die Exis­tenz einer Norma­lität, in der Auf- und Abschwünge einander mit der Regel­mä­ßig­keit und Notwen­dig­keit eines Herz­schlags folgen – ein Bild, das der Ökonom Joseph Schum­peter 1939 und in der Folge der Insti­tu­tio­na­li­sie­rung der Konjunk­tur­for­schung und -prognostik seit den frühen 1920er Jahren prägte. Die Ausru­fung des Ausnah­me­zu­stands dient dabei sowohl der Beschwö­rung dieser Norma­lität als auch der Affir­ma­tion der eigenen wissen­schaft­li­chen Auto­rität: Indem der Spre­cher den uner­war­teten Abschwung und die eigene Unsi­cher­heit als Ausnahme von der Regel beschreibt, postu­liert er eine grund­sätz­liche Erwar­tungs­si­cher­heit. „Konjunktur“ bezeichnet in diesem Bild eine von externen Schocks unbe­rührte Dynamik: jene „Gezeiten der Wirt­schaft“, wie Konjunk­tur­schwan­kungen in den 1920er Jahren genannt wurden, die übrig bleiben, wenn man von den Effekten von Pande­mien, Handels­kon­flikten oder auch Finanz- und Geld­po­litik absieht. Dabei muss sich dieser Normal­zu­stand nicht unbe­dingt zeigen, denn die Beschwö­rung seiner Exis­tenz hat bereits system­sta­bi­li­sie­rende Wirkung. Hier wird der gegen­wär­tige Abschwung zu einer tempo­rären Störung, die nur kurz­zeitig eine wie auch immer gear­tete Norma­lität unterbricht.

Konjunk­tur­for­schung und -prognostik in der Geschichte

Zu dieser „gezielten Norma­li­sie­rung“ (Jürgen Link) trugen die Konjunk­tur­for­schung und -prognose seit ihren Anfängen bei. Forschungs­in­sti­tute wie das 1917 gegrün­dete Harvard Committee on Economic Rese­arch oder das 1920 etablierte National Bureau of Economic Rese­arch (NBER), die in den USA zu den Pionieren der Konjunk­tur­for­schung und -prognose zählten, popu­la­ri­sierten die Vorstel­lung eines regel­mä­ßigen Auf und Ab, in dem Krisen nicht den irrever­si­blen Absturz, sondern nur die notwen­dige Vorstufe zum nächsten Aufschwung darstellten. Die Konjunk­tur­for­schungs­in­sti­tute, die in den 1920er Jahren und 1930er Jahren nach deren Vorbild in Europa, Austra­lien und Südame­rika gegründet wurden, taten es ihnen gleich. Zum Teil stellte die Norma­li­sie­rung dabei eine expli­zite Forschungs­mo­ti­va­tion dar. So ging die Grün­dung des NBER beispiels­weise auf die Initia­tive einer Reihe promi­nenter Unter­nehmer zurück, darunter J. P. Morgan und John D. Rocke­feller Jr., die hofften, den in Krisen­zeiten gras­sie­renden Streiks und sozia­lis­ti­schen Bestre­bungen durch eine wirt­schaft­liche „Erzie­hung“ der Menschen Einhalt gebieten zu können. Als das NBER die Konjunk­tur­for­schung zu Beginn der 1920er Jahre zu seinem Schwer­punkt machte, ging das wiederum maßgeb­lich auf die Initia­tive des dama­ligen Handels­mi­nis­ters Herbert Hoover zurück, der hoffte, dass die Konjunk­tur­for­schung die in Krisen­zeiten lauter werdenden Rufe nach staat­li­chen Inter­ven­tionen zum Verstummen bringen könne.

Ein wich­tiges Mittel dieser „Erzie­hung“ stellten von Anfang an die eingän­gigen Visua­li­sie­rungen des Konjunk­tur­zy­klus dar, die seit den 1920er Jahren in zahl­rei­chen Ländern Verbrei­tung fanden. Die histo­ri­sche Rück­schau versi­cherte die Betrach­terin nicht nur der Tatsache, dass bislang jedem Abschwung der Aufschwung gefolgt war, sondern versprach auch gegen­wär­tige Orien­tie­rung. So schien der Leser die Muster der Vergan­gen­heit im Geist nur weiter­zeichnen zu müssen, um Aufschluss über künf­tige Entwick­lungen zu gewinnen. In diesem Sinn wurde die Methode des Chart-Zeichnens im Vorwort zu einem 1925 erschie­nenen ameri­ka­ni­schen Hand­buch auch als Methode des „mental trave­ling“ bezeichnet, die es der Statis­ti­kerin ermög­liche, einen „Ausflug in die Zukunft“ zu unternehmen.

Quelle: Harvard Economic Service, „Desk Chart for Execu­tives“, Supple­ment to Weekly Letter No. 9, 25. Februar 1922

Von zentraler Bedeu­tung in diesen Norma­li­sie­rungs­be­stre­bungen waren aber vor allem die Prognose-Instrumente selbst. Prognose-Instrumente wie der vom Harvard Committee entwi­ckelte Index of General Busi­ness Condi­tions oder die am National Bureau of Economic Rese­arch (NBER) erar­bei­teten Leading Indi­ca­tors beruhten auf der Annahme einer grund­sätz­li­chen Kongruenz zwischen Vergan­gen­heit und Zukunft. Sie sugge­rierten, dass bestimmte statis­ti­sche Rela­tionen nicht nur in der Vergan­gen­heit, sondern auch in Zukunft Bestand haben würden – eine Behaup­tung, die immer auch Fort­schritts­ver­spre­chen war: Wer von zeit­losen Mustern oder gar Gesetz­mä­ßig­keiten sprach, weckte Hoff­nungen, dass künf­tige Krisen vorher­ge­sagt und damit abge­schwächt oder gar verhin­dert werden könnten. Trotz aller Rück­schläge ange­sichts nicht vorher­ge­sagter Krisen brachte das der Ökonomie einen erheb­li­chen Repu­ta­ti­ons­ge­winn ein. Mit der Etablie­rung der Konjunk­tur­for­schung und -prognose als aner­kanntem wissen­schaft­li­chen Feld erschlossen sich Ökonom:innen nicht nur eine vormals Naturwissenschaftler:innen vorbe­hal­tene Praxis – die Prognose – sondern demons­trierten auch ihre gesell­schaft­liche Relevanz.

Die Praxis des „Fore­talk“

E. F. DuBrul, „The Cycle“; Quelle: Henry S. Dennison Papers, 1900-1971, Box 6, Harvard Busi­ness School Archives, Baker Library.

Auf der Hinter­bühne dieser Insze­nie­rung bildete sich jedoch früh eine andere Praxis heraus. Schon wenige Jahre nach der Etablie­rung des Harvard Index of General Busi­ness Condi­tions begannen die Mitglieder des Harvard Commit­tees, ihre offi­zi­elle, statis­ti­sche Progno­se­praxis durch eine inof­fi­zi­elle zweite Praxis zu ergänzen und zu ersetzen. Ange­sichts wieder­holter Progno­se­fehler setzten die Harvard Ökonomen seit 1922 vermehrt auf den Austausch mit poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Entschei­dungs­trä­gern. Sie infor­mierten sich im Vorfeld ihrer Prognosen über die Erwar­tungen und Absichten promi­nenter Vertreter von ameri­ka­ni­schen und inter­na­tio­nalen Banken, Zentral­banken und Unter­nehmen und ließen dieses Wissen in ihre Vorher­sagen einfließen. Dieser Metho­den­wandel war auch Ausdruck eines verän­derten Wirt­schafts­ver­ständ­nisses. So setzte sich seit Anfang der 1920er Jahre zuneh­mend die Ansicht durch, dass der Konjunk­tur­zy­klus nicht von zeit­losen Gesetz­mä­ßig­keiten, sondern von den Erwar­tungen und Hand­lungen der Marktteilnehmer:innen bestimmt werde.

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Mit der Entwick­lung von Konsu­men­ten­um­fragen avan­cierte diese vormals inof­fi­zi­elle Praxis in den 1930er Jahren zu einem aner­kannten Progno­se­tool, das seit den späten 1940er Jahren bzw. den frühen 1950er Jahren auch in Konjunk­tur­for­schungs­in­sti­tuten in Deutsch­land und der Schweiz Anwen­dung findet. Die Praxis des „Fore­talk“ spielt aber auch darüber hinaus eine wich­tige Rolle in der Konjunk­tur­for­schung und -prognose. Das offen­bart ein Hinweis, der sich im Vorwort jeder Gemein­schafts­dia­gnose findet: „Im Vorfeld der Gemein­schafts­dia­gnose haben wir Gespräche mit Vertre­te­rinnen und Vertre­tern verschie­dener Insti­tu­tionen geführt“, heißt es dort. Und weiter: Die „Gesprächs­part­ne­rinnen und -partner in den Bundes­mi­nis­te­rien, bei der Deut­schen Bundes­bank bei der Euro­päi­schen Zentral­bank, dem Statis­ti­schen Bundesamt und dem Sach­ver­stän­di­genrat zur Beur­tei­lung der Gesamt­wirt­schaft­li­chen Entwick­lung“ hätten „erneut sehr zum Gelingen der Gemein­schafts­dia­gnose beigetragen.“ Tatsäch­lich scheint dieses inter­ak­tive Moment seit langem einen zentralen Stel­len­wert in der Herstel­lung von Konjunk­tur­pro­gnosen zu besitzen: Hier einigen sich Ökonom:innen sowie wirt­schaft­liche und poli­ti­sche Entscheidungsträger:innen auf einen gemein­samen Erwar­tungs­ho­ri­zont. Der gemein­same Erwar­tungs­ho­ri­zont ermög­licht es Marktteilnehmer:innen wiederum, trotz einer unsi­cheren Zukunft zu handeln. Denn, wie der Nobel­preis­träger Kenneth Arrow erklärt hat: “What I do depends on my fore­casts, and what other people do depends on their fore­casts. In order to fore­cast, ther­e­fore, I should fore­cast what other people are forecasting.”

Stra­te­gien der Kontingenzbewältigung

Noch immer wird der Stel­len­wert dieser Praxis herun­ter­ge­spielt. So werden Prognosen meist ausschließ­lich mit Berech­nungen auf der Grund­lage von Modellen und anderen Konjunk­tur­in­stru­menten begründet. Verweise auf im Vorfeld geführte Gespräche finden sich dementspre­chend nur im Vorwort – wenn über­haupt. Ihre weit­ge­hende Ausblen­dung mag einer­seits auf den Wunsch zurück­ge­führt werden, Glaub­wür­dig­keit und wissen­schaft­liche Auto­rität zu vermit­teln, kann ande­rer­seits aber auch als Versuch gedeutet werden, Stabi­lität und Erwar­tungs­si­cher­heit zu trans­por­tieren. Denn dafür sind das Postulat einer grund­sätz­li­chen Konti­nuität zwischen Vergan­gen­heit und Zukunft, die durch „exogene Schocks“ nur kurz­zeitig aufge­bro­chen werde, und seine Unter­maue­rung durch die Verwen­dung von Progno­se­instru­menten, die auf vergan­genen Daten und den darin ausge­machten Zusam­men­hängen beruhen, zentral. Diese „inven­tion of tradi­tion“ (Eric Hobs­bawm) schafft Orien­tie­rung – und macht Handeln damit auch ange­sichts einer als unsi­cher erlebten Gegen­wart möglich.

In dieser „affek­tiven Struk­tu­rie­rung der Ökonomie“ (Urs Stäheli) besteht die zentrale und konsti­tu­tive Bedeu­tung der Konjunk­tur­pro­gnostik – die zugleich erklärt, warum sich der Glauben an die grund­sätz­liche Möglich­keit der Konjunk­tur­pro­gnose bislang trotz aller Enttäu­schungen gehalten hat. Denn Prognosen müssen nicht korrekt sein, um der Kontin­genz­be­wäl­ti­gung zu dienen. Allein das Verspre­chen der Erwar­tungs­si­cher­heit kann bereits eine stabi­li­sie­rende Wirkung haben.