2020 war kein gutes Jahr für die Konjunkturprognostik. Im Dezember 2019 hatten Konjunkturforscher:innen noch prosperierende Zeiten vorausgesagt: Die deutsche Wirtschaft werde spürbar wachsen, die Arbeitslosigkeit weiter sinken. Vier Monate später prognostizierten sie einen historischen Konjunktureinbruch. Das Bruttoinlandsprodukt werde 2020 um 4,2% schrumpfen, die Arbeitslosenquote auf 5,9% hochschnellen, so die Prognose führender Wirtschaftsforschungsinstitute im April 2020.

Quelle: statista.com
Die Corona-Pandemie und die Maßnahmen, die zu ihrer Eindämmung getroffen wurden, hatten nicht nur die Prognosen aus dem Vorjahr entwertet, sondern führten auch in den kommenden Monaten zu verstärkter Unsicherheit unter Konjunkturprognostiker:innen. Einerseits gingen die Prognosen der Expert:innen weiter auseinander als üblich, andererseits sahen sich Ökonom:innen immer wieder zu Korrekturen gezwungen. Im Juni korrigierten Ökonom:innen ihre Erwartungen vom Frühjahr nach unten, im September nach oben, im Oktober wieder nach unten.
Manche Prognostiker:innen sprechen angesichts dieser Erfahrungen von einem Novum. In diesem Sinn erklärte beispielsweise Timo Wollmershäuser vom Münchner ifo Institut im Frühjahr 2020: „Wir erleben gerade das Gegenteil von Konjunktur. Es gibt kein Auf und Ab und keinen sich fortpflanzenden Trend, sondern einen Absturz in Rekordgeschwindigkeit und mit ungewissem Ausgang.“ Eine vergleichbare Situation, so Wollmershäuser, habe er noch nie erlebt.
Das „Gegenteil von Konjunktur“?
Der überraschende Konjunktureinbruch mit ungewissem Ausgang als „Gegenteil von Konjunktur“? Der Blick zurück lässt Zweifel an diesem Bild aufkommen. Zwar sind die Herausforderungen und Folgen der Corona-Pandemie tatsächlich einzigartig. Unsicherheit prägte das Feld der Konjunkturprognostik allerdings auch in der Vergangenheit. Von „besonderen Herausforderungen“, die eine Prognose riskanter machen als üblich, war auch 2008 zu lesen. Und 2001. Und 1993. Und 1990 – um nur eine Auswahl zu nennen. Auch Irrtümer und Revisionen gehören zum Alltag der Konjunkturprognostik, wie beispielsweise ein Blick in die Gemeinschaftsdiagnosen von Frühjahr und Herbst 2019 zeigt. Das war in der Vergangenheit so und gilt bis heute. Tatsächlich offenbart der Vergleich der Trefferquote vergangener Konjunkturprognosen, dass die Qualität der Vorhersagen wirtschaftlicher Abschwünge trotz aller methodischen Neuerungen in den letzten Jahrzehnten nicht zugenommen hat. Ein ernüchternder Befund. Überraschender als die aktuelle Konjunkturentwicklung erscheint demnach die Tatsache, dass sich der Glaube an die grundsätzliche Möglichkeit der Konjunkturprognose trotz aller Enttäuschungen gehalten hat.
Versicherungen wie die von Timo Wollmershäuser haben daran einen entscheidenden Anteil. Sie suggerieren die Existenz einer Normalität, in der Auf- und Abschwünge einander mit der Regelmäßigkeit und Notwendigkeit eines Herzschlags folgen – ein Bild, das der Ökonom Joseph Schumpeter 1939 und in der Folge der Institutionalisierung der Konjunkturforschung und -prognostik seit den frühen 1920er Jahren prägte. Die Ausrufung des Ausnahmezustands dient dabei sowohl der Beschwörung dieser Normalität als auch der Affirmation der eigenen wissenschaftlichen Autorität: Indem der Sprecher den unerwarteten Abschwung und die eigene Unsicherheit als Ausnahme von der Regel beschreibt, postuliert er eine grundsätzliche Erwartungssicherheit. „Konjunktur“ bezeichnet in diesem Bild eine von externen Schocks unberührte Dynamik: jene „Gezeiten der Wirtschaft“, wie Konjunkturschwankungen in den 1920er Jahren genannt wurden, die übrig bleiben, wenn man von den Effekten von Pandemien, Handelskonflikten oder auch Finanz- und Geldpolitik absieht. Dabei muss sich dieser Normalzustand nicht unbedingt zeigen, denn die Beschwörung seiner Existenz hat bereits systemstabilisierende Wirkung. Hier wird der gegenwärtige Abschwung zu einer temporären Störung, die nur kurzzeitig eine wie auch immer geartete Normalität unterbricht.
Konjunkturforschung und -prognostik in der Geschichte
Zu dieser „gezielten Normalisierung“ (Jürgen Link) trugen die Konjunkturforschung und -prognose seit ihren Anfängen bei. Forschungsinstitute wie das 1917 gegründete Harvard Committee on Economic Research oder das 1920 etablierte National Bureau of Economic Research (NBER), die in den USA zu den Pionieren der Konjunkturforschung und -prognose zählten, popularisierten die Vorstellung eines regelmäßigen Auf und Ab, in dem Krisen nicht den irreversiblen Absturz, sondern nur die notwendige Vorstufe zum nächsten Aufschwung darstellten. Die Konjunkturforschungsinstitute, die in den 1920er Jahren und 1930er Jahren nach deren Vorbild in Europa, Australien und Südamerika gegründet wurden, taten es ihnen gleich. Zum Teil stellte die Normalisierung dabei eine explizite Forschungsmotivation dar. So ging die Gründung des NBER beispielsweise auf die Initiative einer Reihe prominenter Unternehmer zurück, darunter J. P. Morgan und John D. Rockefeller Jr., die hofften, den in Krisenzeiten grassierenden Streiks und sozialistischen Bestrebungen durch eine wirtschaftliche „Erziehung“ der Menschen Einhalt gebieten zu können. Als das NBER die Konjunkturforschung zu Beginn der 1920er Jahre zu seinem Schwerpunkt machte, ging das wiederum maßgeblich auf die Initiative des damaligen Handelsministers Herbert Hoover zurück, der hoffte, dass die Konjunkturforschung die in Krisenzeiten lauter werdenden Rufe nach staatlichen Interventionen zum Verstummen bringen könne.
Ein wichtiges Mittel dieser „Erziehung“ stellten von Anfang an die eingängigen Visualisierungen des Konjunkturzyklus dar, die seit den 1920er Jahren in zahlreichen Ländern Verbreitung fanden. Die historische Rückschau versicherte die Betrachterin nicht nur der Tatsache, dass bislang jedem Abschwung der Aufschwung gefolgt war, sondern versprach auch gegenwärtige Orientierung. So schien der Leser die Muster der Vergangenheit im Geist nur weiterzeichnen zu müssen, um Aufschluss über künftige Entwicklungen zu gewinnen. In diesem Sinn wurde die Methode des Chart-Zeichnens im Vorwort zu einem 1925 erschienenen amerikanischen Handbuch auch als Methode des „mental traveling“ bezeichnet, die es der Statistikerin ermögliche, einen „Ausflug in die Zukunft“ zu unternehmen.

Quelle: Harvard Economic Service, „Desk Chart for Executives“, Supplement to Weekly Letter No. 9, 25. Februar 1922
Von zentraler Bedeutung in diesen Normalisierungsbestrebungen waren aber vor allem die Prognose-Instrumente selbst. Prognose-Instrumente wie der vom Harvard Committee entwickelte Index of General Business Conditions oder die am National Bureau of Economic Research (NBER) erarbeiteten Leading Indicators beruhten auf der Annahme einer grundsätzlichen Kongruenz zwischen Vergangenheit und Zukunft. Sie suggerierten, dass bestimmte statistische Relationen nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in Zukunft Bestand haben würden – eine Behauptung, die immer auch Fortschrittsversprechen war: Wer von zeitlosen Mustern oder gar Gesetzmäßigkeiten sprach, weckte Hoffnungen, dass künftige Krisen vorhergesagt und damit abgeschwächt oder gar verhindert werden könnten. Trotz aller Rückschläge angesichts nicht vorhergesagter Krisen brachte das der Ökonomie einen erheblichen Reputationsgewinn ein. Mit der Etablierung der Konjunkturforschung und -prognose als anerkanntem wissenschaftlichen Feld erschlossen sich Ökonom:innen nicht nur eine vormals Naturwissenschaftler:innen vorbehaltene Praxis – die Prognose – sondern demonstrierten auch ihre gesellschaftliche Relevanz.
Die Praxis des „Foretalk“

E. F. DuBrul, „The Cycle“; Quelle: Henry S. Dennison Papers, 1900-1971, Box 6, Harvard Business School Archives, Baker Library.
Auf der Hinterbühne dieser Inszenierung bildete sich jedoch früh eine andere Praxis heraus. Schon wenige Jahre nach der Etablierung des Harvard Index of General Business Conditions begannen die Mitglieder des Harvard Committees, ihre offizielle, statistische Prognosepraxis durch eine inoffizielle zweite Praxis zu ergänzen und zu ersetzen. Angesichts wiederholter Prognosefehler setzten die Harvard Ökonomen seit 1922 vermehrt auf den Austausch mit politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern. Sie informierten sich im Vorfeld ihrer Prognosen über die Erwartungen und Absichten prominenter Vertreter von amerikanischen und internationalen Banken, Zentralbanken und Unternehmen und ließen dieses Wissen in ihre Vorhersagen einfließen. Dieser Methodenwandel war auch Ausdruck eines veränderten Wirtschaftsverständnisses. So setzte sich seit Anfang der 1920er Jahre zunehmend die Ansicht durch, dass der Konjunkturzyklus nicht von zeitlosen Gesetzmäßigkeiten, sondern von den Erwartungen und Handlungen der Marktteilnehmer:innen bestimmt werde.
Mit der Entwicklung von Konsumentenumfragen avancierte diese vormals inoffizielle Praxis in den 1930er Jahren zu einem anerkannten Prognosetool, das seit den späten 1940er Jahren bzw. den frühen 1950er Jahren auch in Konjunkturforschungsinstituten in Deutschland und der Schweiz Anwendung findet. Die Praxis des „Foretalk“ spielt aber auch darüber hinaus eine wichtige Rolle in der Konjunkturforschung und -prognose. Das offenbart ein Hinweis, der sich im Vorwort jeder Gemeinschaftsdiagnose findet: „Im Vorfeld der Gemeinschaftsdiagnose haben wir Gespräche mit Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Institutionen geführt“, heißt es dort. Und weiter: Die „Gesprächspartnerinnen und -partner in den Bundesministerien, bei der Deutschen Bundesbank bei der Europäischen Zentralbank, dem Statistischen Bundesamt und dem Sachverständigenrat zur Beurteilung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ hätten „erneut sehr zum Gelingen der Gemeinschaftsdiagnose beigetragen.“ Tatsächlich scheint dieses interaktive Moment seit langem einen zentralen Stellenwert in der Herstellung von Konjunkturprognosen zu besitzen: Hier einigen sich Ökonom:innen sowie wirtschaftliche und politische Entscheidungsträger:innen auf einen gemeinsamen Erwartungshorizont. Der gemeinsame Erwartungshorizont ermöglicht es Marktteilnehmer:innen wiederum, trotz einer unsicheren Zukunft zu handeln. Denn, wie der Nobelpreisträger Kenneth Arrow erklärt hat: “What I do depends on my forecasts, and what other people do depends on their forecasts. In order to forecast, therefore, I should forecast what other people are forecasting.”
Strategien der Kontingenzbewältigung
Noch immer wird der Stellenwert dieser Praxis heruntergespielt. So werden Prognosen meist ausschließlich mit Berechnungen auf der Grundlage von Modellen und anderen Konjunkturinstrumenten begründet. Verweise auf im Vorfeld geführte Gespräche finden sich dementsprechend nur im Vorwort – wenn überhaupt. Ihre weitgehende Ausblendung mag einerseits auf den Wunsch zurückgeführt werden, Glaubwürdigkeit und wissenschaftliche Autorität zu vermitteln, kann andererseits aber auch als Versuch gedeutet werden, Stabilität und Erwartungssicherheit zu transportieren. Denn dafür sind das Postulat einer grundsätzlichen Kontinuität zwischen Vergangenheit und Zukunft, die durch „exogene Schocks“ nur kurzzeitig aufgebrochen werde, und seine Untermauerung durch die Verwendung von Prognoseinstrumenten, die auf vergangenen Daten und den darin ausgemachten Zusammenhängen beruhen, zentral. Diese „invention of tradition“ (Eric Hobsbawm) schafft Orientierung – und macht Handeln damit auch angesichts einer als unsicher erlebten Gegenwart möglich.
In dieser „affektiven Strukturierung der Ökonomie“ (Urs Stäheli) besteht die zentrale und konstitutive Bedeutung der Konjunkturprognostik – die zugleich erklärt, warum sich der Glauben an die grundsätzliche Möglichkeit der Konjunkturprognose bislang trotz aller Enttäuschungen gehalten hat. Denn Prognosen müssen nicht korrekt sein, um der Kontingenzbewältigung zu dienen. Allein das Versprechen der Erwartungssicherheit kann bereits eine stabilisierende Wirkung haben.