Die gegenwärtige globale Bewegung von Menschen, von denen sich immer mehr im Prozess der „erzwungenen Migration“ befinden, hat weitreichende Konsequenzen: Sie fügt zu einem bereits komplexen Geflecht aus sozialen und sexuellen Identitäten neue ethnische, religiöse und ideologische Nuancen sowie eine Vielzahl von intersektionalen Subjektpositionen hinzu. Damit wird das Projekt, kollektive Identitäten als eine Art Bollwerk gegen den Aufstieg des ethnozentrischen Populismus zu organisieren, immer schwieriger. Denn wie lässt sich ein solches Netzwerk von Identitäten im Hinblick auf ein fortschrittliches politisches Handeln koordinieren? Wie könnte es möglich sein, den Rufen nach einem „linken Populismus“, vorgebracht von prominenten Wortführern wie Chantal Mouffe oder Bernie Sanders, zu folgen, ohne die verschiedenen Anliegen einzelner Gruppen bis zur Unkenntlichkeit zu homogenisieren? Kann eine Gemeinschaft von „kollektiven Identitäten“, um Carolin Emckes Formulierung zu verwenden, dem Druck miteinander konkurrierender Loyalitäten standhalten? Können Spaltungen innerhalb vermeintlich homogener Gemeinschaften oder „Kulturen“ – Frauen, LGBTQI+, Flüchtlinge – in diesem Sinne politisch produktiv überwunden werden? Müssen sie überhaupt überwunden werden? Und wie können solche „Minderheiten“-Gemeinschaften die Verletzungen und die Ausgrenzung, die sie von einer dominierenden Klasse erlitten haben, aufnehmen, umwerten und nutzen – von einer Klasse, die bereit war, Putsche zu inszenieren, Armeen zu entsenden, um zivile Proteste niederzuschlagen, und Wahlergebnisse auszusetzen, indem sie den Ausnahmezustand erklärt…?
Beleidigungen und Urteile
Der Soziologe Didier Eribon hat in massgebenden Arbeiten der Selbstanalyse und in seinem politischen Aktivismus die Entstehung und Bedeutung marginalisierter Identitäten innerhalb von Herrschaftssystemen untersucht. Er hat gezeigt, dass Beleidigungen von „Minderheiten“ und Urteile über „abweichende“ Identitäten als Zuweisungen von Menschen in bestimmte Kategorien und Klassen eine autoritäre, herrschaftssichernde Funktion haben. Beleidigungen und Urteile dieser Art führen nach Ansicht von Eribons Kollege Edouard Louis zu einer „negativen Identität“, indem sie die gesellschaftliche Handlungsfähigkeit minoritärer Akteure einschränken, was wiederum, im Fall von ethnischen Identitäten, zur „Ghettoisierung“ und im Fall von sexuellen Identitäten zur Selbstverleugnung führt.

Filmstill aus „Baghdad In My Shadow“, Quelle: dschointventschr.ch
Dies sind die Zwänge, mit denen die einzelnen Träger kollektiver Identitäten konfrontiert sind, sowohl in ihren Beziehungen zur Mehrheitskultur als auch innerhalb ihrer jeweiligen „Subkulturen“, wenn sie sich um Mobilisierung und Widerstand bemühen. Und es sind die Kräfte, die in Baghdad In My Shadow, dem neuesten Film von Samir, thematisiert werden. Der Regisseur verkompliziert die Ausgangslage noch weiter, indem er seine Darstellung von Identitätspolitik im „multikulturellen“ Westen und hier fast ausschließlich innerhalb einer irakischen Exilgemeinschaft in London ansiedelt. Das vermeintlich homogene „fremde“ Element erweist sich dabei als durch interne Konflikte und Paradoxien zerrissen. Und getreu der Behauptung von Yuval Harari, dass sich Kulturen in Momenten des Selbstwiderspruchs am besten verstehen lassen, zeichnet Samir das Porträt einer bestimmten Erfahrung von Einwanderern, das gleichzeitig zutiefst einzigartig und doch auch sinnbildlich ist für die internen Kämpfe, mit denen auch andere Kollektive in einer aufstrebenden postnationalen Welt konfrontiert sind.
Taufiq, der Dichter
Die Geschichte des Films folgt Taufiq, einem irakischen Dissidenten unter Saddam Hussein, der seit den 1990er-Jahren im Exil lebt und heute als Nachtwächter im Britischen Museum arbeitet. Dort begegnen wir ihm zum ersten Mal zwischen den Überresten Mesopotamiens, welche die Bühne für das zweite große Thema des Films, die asymmetrische Beziehung zwischen den Kulturen des „Abendlandes“ und denen des „Orients“, bilden. Denn während das erste didaktische Ziel des Regisseurs dieses Spielfilms darin besteht, drei zentrale Tabus der islamischen Welt zu erforschen und zu sprengen – Abtrünnigkeit (die Abkehr vom muslimischen Glauben), Ehebruch (die erotische Freiheit der Frau) und Homosexualität (hier hauptsächlich die männliche) –, ist seine Geschichte auch ein Versuch über die ungleiche Vertrautheit mit dem kulturellen Erbe des jeweils „Anderen“.
Taufiq ist angestellt, um die Schätze seiner eigenen alten Vergangenheit zu bewachen, zur Aufbewahrung weggesperrt in einem Denkmal des britischen Kolonialprojekts, und obwohl der Öffentlichkeit nominell zugänglich, weitgehend unbekannt. So unbekannt wie auch Taufiqs eigene kulturelle Produktion: Sein Ziel ist es, die Gedichte, die er während seiner Nachtschichten im Museum schreibt, in einem angesehenen Londoner Verlag zu veröffentlichen, dessen Leiterin er umworben hat. Seine Bemühungen waren bislang vergeblich, offensichtlich behindert durch den Mangel an britischer Leserschaft für arabische Verse. Und tatsächlich, obwohl sie ihre Bewunderung für die mesopotamische Kultur und Geschichte bekundet, symbolisiert Maud, die nicht-arabische Verlagsleiterin, ihre Unkenntnis der arabischen Kultur, indem sie selbst über wichtigste Namen stolpert. Taufiq dagegen kennt seine englischen romantischen Dichter auswendig.

Filmstill aus „Baghdad In My Shadow“, Quelle: dschointventschr.ch
Taufiqs Poesie wird im Abu Nawas Café, einem Treffpunkt der irakischen Gemeinschaft in einem Londoner Stadtteil und dem Fluchtpunkt der Filmhandlung, deutlich wärmer aufgenommen. Benannt nach einem klassischen arabischen Dichter, der einem Stammgast zufolge „ein alkoholkranker Homosexueller“ war, wird das Café von Zeki geführt, einem irakischen Kurden und Kommunisten. Ihm hilft Amal, eine christliche Irakerin, die in Großbritannien Zuflucht gesucht hat und auf die Papiere wartet, die es ihr ermöglichen, von ihrem in Bagdad erlangten Architekturdiplom Gebrauch zu machen. Wenn Taufiq im Café eine Lesung seiner Gedichte veranstaltet, sitzen auch weitere Persönlichkeiten aus der Gemeinde im begeisterten Publikum: Seine verwitwete Schwägerin Maha, eine schiitische Irakerin, und ihr Sohn Nasseer, der die Vormundschaft seines atheistischen Onkels gegen die Verlockungen eines charismatischen fundamentalistischen Imams eintauscht; Samira, eine kämpferische kommunistische Irakerin und ironische Beobachterin des unverbesserlichen Machismo ihrer Kameraden; Ahmed Kamal, ein irakischer, zu Besuch anwesender Kulturattaché mit einer finsteren baathistischen Vergangenheit; und Mohanad, ein junger irakischer Flüchtling, dessen Homosexualität sein Leben in Bagdad gefährdet hat und der in London mit einem deutschen Geliebten sein Glück gefunden hat, den er jedoch nicht bereit ist, seinen vermeintlich homophoben irakischen Freunden vorzustellen.
Ebenen der Zugehörigkeit
Eingewoben in den ganzen Film ist die irakische Populär- und TV-Kultur, die die Freunde in der alten Heimat zurücklassen haben und die auf den Fernsehbildschirmen im Café und zu Hause gezeigt wird; sie bildet die Folie für die hochgesinnte literarische Produktion von Taufiq und seinem berühmten Vorfahren Abu Nawas. Amal, die den Irak verließ, um in Freiheit von den Zwängen einer traditionellen Ehe zu leben, wechselt bei einer emanzipatorischen arabischsprachigen Talkshow über weibliche Lust den Sender, um sich einem sentimentalen Lied über Herzschmerz und das Frauenlos hinzugeben, während Zeki und Samira, die fortschrittlichen Internationalistinnen, Amal’s britischen (d.h. nicht arabischen) Freund mit einer chauvinistischen Interpretation eines schmalzigen Lobgesangs über die Qualen der romantischen Liebe vertreiben.
Diese arabische Popmusik ist zusammen mit dem arabischen Tagesfernsehen, das Maha konsumiert, gleichzeitig ein Symbol für das gemeinsame Erbe der ungleichen Auswanderer und ein Symbol für die Widersprüche, die sie voneinander trennen und die auch quer durch ihre Identitäten verlaufen: Die erzählerischen Figuren von Stammesdenkens, Folter und Terror, die in irakischen Balladen, Seifenopern und Sitcoms eingesetzt werden, sind trivialisierte Zerrbilder jener Geschichten, die diese Menschen im Café tatsächlich erlitten haben, sowohl zuhause im Irak als auch draußen in der Diaspora. Es sind Geschichten, die sie untereinander und mit sich selbst in Konflikt gebracht haben, und die das Urteil der dominanten Kultur über sie als einem einheitlichen Block von „Arabern“, „Muslimen“ oder sogar „Irakern“ Lügen strafen.

Filmstill aus „Baghdad In My Shadow“, Quelle: dschointventschr.ch
Diese verschiedenen Spannungen erfordern eine erzählerische Lösung, die hier in Form eines gewaltsamen Showdown zwischen den Kräften eines bestimmten provinziellen, ethnozentrischen, rechten Radikalismus und dem eklektischen, posttribalen, ästhetisch verfeinerten Sozialdemokratie des Cafés erfolgt. Samir kennt natürlich, wie Taufiq, seine „westliche“ Kultur, in diesem Fall die anglo-amerikanische Filmgeschichte – und es gibt in der Gestaltung und Lösung der Krise Anspielungen auf so junge Klassiker des alternativen gesellschaftspolitischen Films wie Spike Lees Do The Right Thing (1989) mit seinem Gleichnis von Streitigkeiten in Gemeinden und der Teilung von Minderheiten, und Stephen Frears‘ My Beautiful Launderette (1985), einer Geschichte aus der Thatcher-Ära über immigrantisches Unternehmertum und „inter-ethnische“ sexuelle Befreiung. Aber während Lee eine Minderheitengruppe gegen eine andere antreten lässt – Afroamerikaner gegen Italiener – und Frears einen Konflikt zwischen „weißen“ britischen Rassisten und ihren ehemaligen „farbigen“ Kolonialsubjekten zeigt, kommt die Bedrohung des Friedens in Bagdad In My Shadow aus der arabischen Gemeinschaft selbst – und zwar in Form eines Angriffs auf die irakischen Abtrünnigen, Ehebrecherinnen, Kommunisten und Homosexuellen, der von muslimischen Hardlinern der lokalen Moschee verübt wird.
Konflikt und Widerstand
Die Mobilisierung der Widerstandskräfte kommt von unerwarteter Seite. Muhanad, der junge irakische Flüchtling, dessen Arbeit in der Moschee der Auslöser für die reaktionäre Gewalt ist, ermahnt seine Freunde zum Handeln in Worten, die ihre eigenen grinsenden Bemerkungen über seine Sexualität widerspiegeln: „Are you cocks or chickens?“ Das ist die Beleidigung, mit der der Film beginnt, ein Film voller Beleidigungen – „Kommunist“, „Ungläubiger“, „Schwuchtel“, „Versager“, „Ehebrecher“, ja sogar „Kurde“ und „Engländer“, die alle als Urteile und Zuweisungen einer sozialen Kategorie fungieren.
Als Taufiq und Zeki Muhanad und seinen Geliebten Sven vor dem Café beobachten, fragen sie sich ironisch, welcher der Männer „aktiv“ ist – der „Hahn“ – und welcher passiv – das „Huhn“. Sie werden von Samira für ihren einfachen Essentialismus getadelt, der sie daran erinnert, dass auch sie in ihren sexuellen Beziehungen zu Frauen jede der Rollen spielen können. Nun, da Muhanad diese Kategorien selbst aufgreift, um seine Freunde aufzufordern, den islamistischen Fanatikern in Nasseers Moschee Widerstand zu leisten, besteht er auf einer nicht essentiellen Interpretation sozialer Handlungsfähigkeit und erinnert seine Freunde daran, dass Herrschaftsverhältnisse in der Politik wie in der Sexualität willkürlich, nicht festgelegt sind, sondern eine Frage der „Performance“ und des Spiels.
Im einem Handgemenge, das aus diesen Streitereien unter Freunden entsteht, wird Taufiq gezwungen, die gemeinsamen Rahmen der Café-Gemeinschaft aufzugeben. Getrieben vom Willen, seine Verwandten zu schützen und die Schuld abzubüßen, die er fühlt, weil er seine Familie im Exil verlassen hat, lässt er sich auf ein verhängnisvolles Treffen ein. Er wird sich in Gefahr begeben und zum aktiven Teilnehmer eines privaten Rachedramas werden, das ebenfalls Teil der Story ist, da er sich von Blutbanden und gerade nicht von der performativen Zugehörigkeit zu einer kollektiven sozialen Gruppe leiten lässt. Und er wird seine Freiheit für die seines Neffen opfern. In den Worten des Gedichts, das er verfasst, wenn wir ihn zum ersten Mal im British Museum treffen, und das er später im Café rezitieren wird, ist es Bagdad, das ihn mit seinem „Schatten“, in seiner Erinnerung, begleitet, das ihn beansprucht und das eine Gefängnis durch ein anderes ersetzt.
„Poesie lässt nichts geschehen“
Wer würde einen Dichter oder einfach nur eine lyrische Seele zum Protagonisten eines Unterhaltungsfilms machen? Es ist eine exklusive Gruppe, zu der Ian MacEwan, Jim Jarmusch, Donna Leon – und natürlich Homer – und jetzt Samir gehören. Aber warum tut sie es? Im Falle von Baghdad In My Shadow kann es hilfreich sein, sich an die oft zitierte Zeile in Audens Eloge für Yeats zu erinnern: „Poetry makes nothing happen“ – „Poesie lässt nichts geschehen“. Dieser einfache Satz, der in der Hommage eines Dichters an einen anderen überraschen mag, lässt zwei unterschiedliche Interpretationen zu. Eine, die „neoliberale“, beurteilt die Poesie als unproduktiv, unfruchtbar, als teuren Schmuck, auf den im Namen der Austerität verzichtet werden sollte. Die andere, die „utopische“, ist eine stärkere Lesart: Poesie macht möglich und bringt hervor, was gerade noch ein Nichts war. Sie ist eine Erinnerung an eine vergangene Zeit oder einen vergangenen Ort – das paradiesische Bagdad aus Amal’s Jugend mit seinen Gärten und liebenswerten Streitigkeiten, das intakte Bagdad von Taufiq’s Unschuld vor dem Fehltritt – die fortbestehen, wie der Schatten, der untrennbar mit dem erinnernden Subjekt verbunden ist, und der die individuelle Präsenz dieses Subjekts zum Zeichen des Widerstands und als ein Hindernis für die Markierungen der Macht prägt. Sie ist eine Erinnerung, die als Grundlage einer Zukunft dient, in der, um mit Amal’s Worten zu sprechen, „nobody will judge us for who we are“. Eine Zukunft ohne Beleidigung, soziale Verurteilung und erzwungene kollektive Identität.

Filmstill aus „Baghdad In My Shadow“, Quelle: dschointventschr.ch
Die ultimative Geste des Dichters Taufiq, sein aktives Eindringen in die Erzählung, erfolgt im Geiste von E.M. Forster, der bekanntermaßen hoffte, dass er den Mut haben würde, sein Land zu verraten und nicht seinen Freund. Taufiqs Opfer, mit dem er seine Schuld sühnt, festigt auf einer sub-nationalen, privaten Ebene und in der symbolischen Vaterschaft für den Neffen die Verbundenheit mit der Familie. Es lässt den Riss offen, der durch seine kollektive Identität als ehemaliger Bürger des „Irak“ verläuft – eine imaginäre Gemeinschaft, die das geschichtliche Produkt eines Imperiums, des Kolonialismus und der Beziehungen von Klassen- und ethnischer Herrschaft ist. Eine Nation, die in der Tat eine fast ebenso grosse Fiktion ist wie das „Vereinigte Königreich“.
Übersetzung: Sabrina Habel und Philipp Sarasin
Autorenporträt: Nina Mann