Millionen von UkrainerInnen haben seit diesem Jahr eine neue Adresse – ohne, dass sie umgezogen wären. Der Grund ist die Dekommunisierungskampagne der ukrainischen Regierung, in deren Rahmen das Parlament per Dekret bereits über 900 Städte und Dörfer umbenannt hat. Leninka, Karl-Marks, Karl-Libknecht, Komuna, Industrial’ne, Internazional’ne, Oktjabrs’ke, Pravda, Proletar – all diese Namen und Tausende mehr stehen nicht mehr auf der offiziellen Karte der Ukraine. Auch kommunistische Strassennamen, Statuen, Reliefs an Hausfassaden müssen weichen – ersetzt werden sie meist durch nationale Symbolik sowie Namen und Figuren aus dem ukrainisch-nationalen Heldenpantheon.

Plakat der Dekommunisierungskampagne, Quelle: nslovo.com
Die Grundlage für die Kampagne ist das Gesetz „über die Verurteilung der kommunistischen und nationalsozialistischen totalitären Regimes und über das Verbot der Propaganda ihrer Symbolik“, das Präsident Petro Poroschenko im Mai 2015 unterzeichnete. Das Gesetz verbietet neben den Symbolen der NSDAP auch die „Verwendung und Propaganda“ der Symbole der KPdSU, der sowjetischen Hymne, kommunistischer Denkmäler und Parolen, sowie der Flaggen aller ehemaligen Ostblockstaaten. Und eben auch die Benennung von „Regionen, Distrikten, Siedlungen, Plätzen, Boulvards, Strassen, Gassen […], Uferpromenaden, Brücken“ nach kommunistischen Aktivisten, Organistionen oder Ereignissen. Von dem Gesetz ausgenommen sind Symbole und Namen, die sich auf den Sieg im Zweiten Weltkrieg beziehen.
What’s in a Name?
Zwar ist es verständlich, dass ein postkommunistischer Staat nach Wegen sucht, mit seiner totalitären Vergangenheit umzugehen. Und tatsächlich sind viele ukrainische Strassen und Siedlungen nach kommunistischen Gewalttätern benannt, die eine solche Ehrung nicht verdienen. Doch das Gesetz ist vage formuliert – ist es wirklich „kommunistische Propaganda“, wenn eine Strasse Karl Marx’ Namen trägt? – und erlaubt es der Regierung, der Bevölkerung ihre eigene Version der Geschichte aufzuzwingen, in der ein Grossteil des 20. Jahrhunderts einfach ausgeblendet bzw. dämonisiert wird. Und gerade darin zeigt sich eine eindeutige Kontinuität von der sowjet-ukrainischen zur ukrainisch-nationalen Geschichtspolitik. Gerade die erzwungene Veränderung von Toponymen ist eine ganz und gar sowjetische Methode der Vergangenheits-„Bewältigung“. Wie die Bevölkerung ihre Wohnorte nennen möchte, interessiert die Regierung dabei kaum – heute genau so wenig wie in den Zwanzigerjahren.
Als Beispiel seien hier die beiden wohl bekanntesten der kürzlich umbenannten Städte genannt. Eine davon, die viertgrösste Stadt der Ukraine, wurde im 18. Jahrhundert als Jekaterinoslav – „Ruhm Katharinas“ – gegründet. 1926 ersetzte die bolschewistische Regierung diesen monarchistischen Namen durch Dnjepropetrovsk, nach dem Fluss Dnjepr (ukr. Dnipro) und dem damaligen ZK-Mitglied Grigorij Petrovskij. Seit Mai heisst die Stadt nun offiziell Dnipro – was wenigstens kaum jemanden stören dürfte, da diese Kurzform in der Umgangssprache ohnehin schon lange verwendet wird.
Ähnlich, aber noch komplizierter ist die Namensgeschichte der Stadt, die bis vor kurzem als Kirovohrad bekannt war. Als Elisavetgrad („Elisabethstadt“) zunächst nach einer Zarin benannt, wurde sie 1924 nach dem berühmten Kommunisten in Sinovjevsk umbenannt. Zehn Jahre später wurde Sinovjev aber unter dem Vorwand einer angeblichen Beteiligung an der Ermordung des Parteifunktionärs Sergej Kirov verhaftet. Innert weniger Tage erhielt die Stadt den neuen Namen Kirovo und hiess ab 1939 schliesslich Kirovograd (ukr. Kirovohrad). Seit Neustem muss sich die Bevölkerung nun daran gewöhnen, in Kropyvnyz’kyj zu wohnen: Die Stadt trägt nun nämlich den Namen eines ukrainischen Dramatikers, der 1840 in der Nähe geboren wurde (in einem Dorf, das heute ebenfalls Kropyvnyz’ke heisst). Dass bei einem (etwas fragwürdigen) Referendum vor einem Jahr über drei Viertel für eine Rückbenennung in Elisavetgrad stimmte, spielte für das Parlament keine Rolle. Zu imperial, zu wenig ukrainisch fanden die Verantwortlichen wohl den Namen aus dem 19. Jahrhundert.
Kontraproduktiv und spalterisch
Die historische Ironie ist offensichtlich: Die ukrainische Regierung versucht eine Dekommunisierung mit beinahe schon bolschewistischen Methoden. Doch das ist nicht das einzige Problem. So befürchtet der ukrainische Historiker Georgij Kas’janov, viele Leute würden etwa die plötzliche Entfernung von Lenin-Statuen als Aggression empfinden – selbst wenn sie diese Statuen seit Jahrzehnten ignoriert hätten. So könnte die „Dekommunisierung“ sowjetische Loyalitäten eines Teils der Bevölkerung sogar stärken.

Das bereits entfernte Denkmal für die Oktoberrevolution im Kiever Mariinskij-Park, Foto: Fabian Baumann
Das spalterische Potenzial dieser symbolischen Hauruck-Politik zeigt sich besonders klar am Fall einer Strasse in der ukrainischen Hauptstadt. Im Juli hat das Kiever Stadtparlament beschlossen, ausgerechnet den Moskauer Prospekt in Stepan-Bandera-Prospekt umzubenennen. Ganz unabhängig von der umstrittenen historischen Figur des gewalttätigen Nationalisten Stepan Bandera ist dessen Name längst zum Symbol für einen ethnisch und sprachlich exklusiven ukrainischen Nationalismus geworden. Und so ist Bandera als Identifikationsfigur für Russischsprachige genauso ungeeignet wie für die liberale Intelligenzia und die Angehörigen der jüdischen, tatarischen und anderen Minderheiten in der Ukraine.
Zu Recht schreibt der Historiker Andrij Portnov, dass es für die ukrainische Gesellschaft wohl nützlicher wäre, sich kritisch mit Figuren wie Bandera auseinanderzusetzen, als sie zum Zentrum eines nationalistischen Heldenkults zu erheben. Nur eine offene Debatte könnte die Konflikte zwischen den konkurrierenden Erinnerungen verschiedener Landes- und Bevölkerungsteile überwinden. Stattdessen, beklagt auch die Historikerin Olesja Chromejtschuk, haben wechselnde ukrainische Regierungen seit 1991 immer wieder versucht, der Gesellschaft ihre jeweiligen einseitigen Interpretationen der Geschichte aufzuzwängen.
Ideologie statt Pragmatismus
Leider wird die ukrainische Geschichtspolitik nicht von kritischen AkademikerInnen wie Kas’janov, Portnov oder Chromejtschuk geprägt. Der wichtigste Kopf hinter der „Dekommunisierung“, Volodymyr Vjatrovytsch, ist zwar ebenfalls ein Historiker. Doch der Präsident des „Instituts der nationalen Erinnerung“ – ein Posten, den Vjatrovytsch 2014 wohl als Zugeständnis an die rechtsnationalen Parteien bekam – verfolgt ganz andere Zwecke als seine liberaleren KollegInnen. Vjatrovytschs geschichtspolitisches Hauptziel ist die Rehabilitierung von Banderas Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) sowie der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA), die im Zweiten Weltkrieg sowohl die Nazis als auch die Sowjets bekämpften, aber zeitweise auch mit den Deutschen kollaborierten und sich des Massenmords an der jüdischen und polnischen Bevölkerung der Westukraine schuldig machten.
Obwohl er durchaus Verdienste um die Öffnung von Archiven hat, wird Vjatrovytsch von ausländischen und auch ukrainischen KollegInnen hart kritisiert: Er soll bewusst Beweise für Gewalttaten der OUN und UPA im Zweiten Weltkrieg ignorieren; einige KritikerInnen werfen ihm sogar Zensur und Fälschung von Archivdokumenten vor. In Interviews gibt sich Vjatrovytsch uneinsichtig: Bandera ist für ihn ein „Symbol des Unabhängigkeitskampfes“, die Kritik an ihm nennt er „Vorurteile aus der sowjetischen Propaganda“, den Strassennamen „Moskauer Prospekt“ findet er in Zeiten des Krieges mit Russland unangebracht.

Plakat des „Instituts der nationalen Erinnerung“ zum „Gesetz über die Verurteilung der kommunistischen und nationalsozialistischen totalitären Regime in der Ukraine und das Verbot der Propaganda mit deren Symbolen“, Quelle: memory.gov.ua
Vjatrovytsch versucht eindeutig, ein rein nationales Narrativ der ukrainischen Geschichte zu etablieren, laut dem alle Bestrebungen nach staatlicher Unabhängigkeit lobenswert sind, die siebzigjährige Zeit des Kommunismus dagegen als fremde Besetzung zu gelten hat. In einem solchen Narrativ bleibt wenig Platz für die vielen Widersprüchlichkeiten der an Gewalt und Konflikten reichen ukrainischen Geschichte. Vjatrovytschs Streben nach historischer Eindeutigkeit zeigt, dass er von genau derjenigen sowjetischen Mentalität geprägt ist, die er zu bekämpfen vorgibt.
So hält Vjatrovytsch fest an einer stark ideologisierten Geschichtspolitik – und schadet damit dem Ansehen seines Landes. Nachrichten wie die Umbenennung des Moskauer Prospekts sind ein gefundenes Fressen für die Kreml-nahe russische Presse, die auch regelmässig über die Dekommunisierungskampagne berichtet, um ihre unhaltbare These zu bestätigen, in Kiev habe eine faschistische Junta die Macht übernommen. Doch auch in westlichen Staaten sorgen solche Aktionen für Irritation, nicht zuletzt in Polen, dem wohl wichtigsten Verbündeten der Ukraine, wo das rechtsnationale Parlament – aus ebenso zweifelhaften Motiven – die Tätigkeit der OUN in Wolhynien jüngst als Genozid klassifiziert hat.
Durch und durch postsowjetisch
Gleichzeitig verzerrt diese Symbolpolitik den Blick auf die Realität in einem Land, in der ein Grossteil der Leute völlig unverkrampft mit der vielschichtigen und widersprüchlichen Vergangenheit und Gegenwart umgeht. Auf den Strassen Kievs ist nach wie vor mehr Russisch als Ukrainisch zu hören, häufig auch beide Sprachen in einer Unterhaltung. Und während Putin und die russische Politik scharf kritisiert werden, ist von Hass auf Russland und die russische Kultur kaum etwas zu spüren. Schliesslich dürfte es praktisch allen UkrainerInnen klar sein, dass die Zukunft ihres Landes nicht davon abhängt, ob auf irgendeinem Platz in irgendeiner Provinzstadt eine Lenin-Statue oder eine Bandera-Büste steht.

Fall einer Leninstatue im Kulturpark von Chmelnyzkyj, Quelle: commons.wikimedia.org
Doch genau da liegt der Kern der Dekommunisierungskampagne. Sie versucht, die totalitäre Vergangenheit unsichtbar zu machen, anstatt die Strukturen zu entfernen, die sie hinterlassen hat. Denn diejenige „Dekommunisierung“, welche die Ukraine wirklich nötig hätte, ist deutlich schwieriger umzusetzen als die rein symbolische Version der gegenwärtigen Regierung. Tiefgreifende Strukturreformen sind überfällig, wenn sich die Lebensqualität im Land verbessern soll. Um Gesellschaft und Wirtschaft tatsächlich aus dem Postkommunismus in Demokratie und Wohlstand zu führen, müsste man die Überreste der intransparenten sowjetischen Bürokratie beseitigen, die allgegenwärtige Korruption bekämpfen, die zum grossen Teil marode Industrie erneuern, das enorme Potenzial der Landwirtschaft nachhaltig entwickeln.
Indessen zeigt die Kampagne vor allem eines: Die ukrainische Regierung ist keine faschistische Junta, sie ist im Gegenteil durch und durch postsowjetisch. Die Mischung aus Korruption, sowjetischer Mentalität und nationalistischer Symbolpolitik ist eine ganz ähnliche wie in Russland. Der grösste Unterschied zwischen den beiden Ländern – und für die UkrainerInnen ein Grund zur Zuversicht – ist wohl der, dass in der Ukraine die Regierung weniger mächtig und die Zivilgesellschaft stärker ausgeprägt ist. Die ukrainische Regierung dürfte weniger lang im Amt bleiben als Putin. Es ist zu hoffen, dass ihre Nachfolgerin einen neutraleren Umgang mit der ukrainischen Geschichte findet und die Debatten darüber den HistorikerInnen überlässt.