Die Medien und auch alle Social-Media-Feeds werden zurzeit von einer Frage dominiert: Ist die Meinungsfreiheit bedroht? Wir fragen uns: Ist das nicht eine Scheindebatte?

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Die Medien und auch alle Social-Media-Feeds werden zurzeit von einer Frage domi­niert: Ist die Meinungs­frei­heit bedroht? Einige Ereig­nisse scheinen da zusam­men­zu­passen: Der Ex-Breitbart-Kolumnist und Rechtsaussen-Provokateur Milo Yiann­o­poulos wird in Berkeley von linken Akti­visten vom Campus verjagt, wo er eine Rede halten soll; das Thea­ter­haus Gess­ne­r­allee in Zürich sagt eine Podi­ums­dis­kus­sion mit dem AfD-Vordenker Marc Jongen aus „Sicher­heits­gründen“ ab, und die hollän­di­sche Regie­rung hindert das Flug­zeug des türki­schen Aussen­mi­nis­ters, der vor Exil-Türken eine Rede halten will, an der Landung. Kurz darauf fängt die Stadt­re­gie­rung von Rotterdam gar den Wagen der türki­schen Sozi­al­mi­nis­terin, die von Deutsch­land kommend ins türki­sche Konsulat fahren will, mit einem grossen Poli­zei­auf­gebot ab und eskor­tiert sie zurück an die deut­sche Grenze. Die Reak­tionen auf diese Ereig­nisse sind heftig: Die Rechte aller Schat­tie­rungen und auch viele Libe­rale sehen die Meinungs­frei­heit durch eine Mischung von angeb­li­chem Political-Correctness-Terror und linkem „Tota­li­ta­rismus“ in Gefahr, während die türki­sche Regie­rung die Holländer – wie zuvor schon die Deut­schen – umstandslos als „Faschisten“ oder „Nazis“ bezeichnet.

Proteste gegen „MILO“ in Berkeley, 2.2.2017; Quelle: nbcnews.com

Philipp Sarasin: Die Schnitt­fläche dieser Vorwürfe scheint klar zu sein: die Linken – pauschal, versteht sich – seien die eigent­lich Illi­be­ralen (hinter vorge­hal­tener Hand: „Libe­ral­fa­schisten“), seien dieje­nigen, die angeb­lich nur die Meinungen ihrer eigenen „Filter­blase“ zulassen etc. Nun, das Problem sind zuerst sicher einmal die Pauscha­li­sie­rungen, denn die Fälle sind ja nur schwer vergleichbar: In Berkeley war es so etwas wie der „schwarze Block“, also anar­chis­ti­sche Gruppen, die Milo Yiann­o­poulos vertrieben hatten, während andere linke Gruppen fried­lich demons­trierten gegen einen nun sogar von Breit­bart verbannten noto­ri­schen Hetzer. Im Fall der türki­schen Minister geht es um die Frage, ob auslän­di­sche Minister in Deutsch­land oder in Holland Wahl­kampf machen dürfen – und im Zürcher Fall ist gar nicht klar, wer denn genau so viel angeb­li­chen Druck aufge­baut hat, dass die Veran­stal­tung abge­sagt werden musste. Die blosse Kritik am Auftritt muss ja wohl möglich sein, nicht? Ich sehe jeden­falls in keinem der Fälle, dass Linke oder Libe­rale die Meinungs­frei­heit bedrohen. Die Rechten haben ja auch alle Kanäle offen; die Behaup­tung, sie könnten nicht gehört werden, ist komplett absurd.

Sylvia Sasse: So klar ist die Schnitt­fläche aber nicht. Während in der öffent­li­chen Debatte um die Gess­ne­r­allee rechts­kon­ser­va­tive und libe­rale Stimmen versuchten, die Kritik und den Protest als Zensur umzu­deuten, gab es doch eben­falls Stimmen von links, die forderten, „den Kampf anzu­nehmen, wo man ihn findet“, wie Milo Rau sagte.  Und auch die Frage, ob in einer Demo­kratie von auslän­di­schen Poli­ti­kern hetze­ri­sche Werbung für Diktatur gemacht werden dürfe, wird höchst unter­schied­lich beant­wortet. Da sind es ja gerade rechts­kon­ser­va­tive und libe­rale Poli­tiker, die den Wahl­kampf türki­scher AKP-Mitglieder nicht gestatten wollen. Die Schweizer SVP forderte z.B. in einem Commu­niqué die Behörden auf, den öffent­li­chen Auftritt türki­scher Poli­tiker zu verhin­dern, in Öster­reich hat sich der FPÖ-Parteichef „strikt gegen Auftritte türki­scher Poli­tiker zum Zwecke eines Wahl­kampfes in Öster­reich“ gewandt. In Deutsch­land hat der FDP-Chef Chris­tian Lindner sich gegen „syste­ma­ti­sche türki­sche Staats­pro­pa­ganda auf deut­schem Boden“ ausge­spro­chen. Insge­samt scheint es kein Wider­spruch zu sein, den Auftritt von Marc Jongen oder auch von Milo Yiann­o­poulos – im Sinne der Tole­ranz – zu vertei­digen und zugleich gegen die Auftritte türki­scher Poli­tiker zu sein.

Sandro Zanetti: Umge­kehrt gibt es aus verschie­denen Lagern Stimmen, die dafür argu­men­tieren, dass ein Auftritts­verbot für türki­sche Poli­tiker unde­mo­kra­tisch und reak­tionär sei. Mir scheint aber, dass „Staats­pro­pa­ganda“ in einem anderen als dem eigenen Land tatsäch­lich etwas anderes ist als die Wahr­neh­mung der eigenen „Meinungs­frei­heit“. Meinungs­frei­heit ist ein Recht, dass jedes Indi­vi­duum in jedem Land wahr­nehmen können soll. Doch geht es bei der jetzigen Diskus­sion wirk­lich um Meinungs­frei­heit, gar um indi­vi­du­elle Meinungs­frei­heit? Infrage gestellt wird doch in Deutsch­land, Holland oder der Schweiz nicht die Meinungs­frei­heit türki­scher Poli­tiker, die Frage ist einzig, ob ein Staat oder eine Gesell­schaft dazu verpflichtet werden sollte, einem anderen Staat oder einer Partei darin – also nicht einfach Indi­vi­duen, sondern Funk­ti­ons­trä­gern – Propa­ganda zu ermög­li­chen. Die Frage ist umso wich­tiger, wenn es sich um Staaten handelt, die das Prinzip der Meinungs­frei­heit selbst miss­achten. Bei der Diskus­sion rund um die Gess­ne­r­allee ist die Frage noch­mals anders. Auch hier geht es aller­dings nicht um eine Infra­ge­stel­lung der Meinungs­frei­heit. Niemand wollte Marc Jongen seine Meinung verbieten. Es gab Protest, also andere Meinungen, und das ist doch völlig legitim. Es ging dabei um die Frage, welchen Stimmen das Theater eine Bühne geben will, was es sich von einer Diskus­sion genau erhofft etc. – darüber kann man geteilter Meinung sein… Leider gab es auch (falls das stimmt) Bedro­hungen, und auf all dies wiederum hat die Gess­ne­r­allee reagiert. Sie ist zum Schluss gekommen, die geplante Diskus­sion unter diesen Umständen nicht machen zu wollen. Auch das muss man akzeptieren.

Gesine Krüger: Die Unter­schei­dung zwischen indi­vi­du­eller Meinungs­frei­heit und der Propa­ganda von Funk­ti­ons­trä­gern ist aller­dings auf einer abstrakten Ebene nicht ohne Probleme. Ab wann wird eine Meinungs­äus­se­rung zur Propa­ganda und ab wann spricht ein Indi­vi­duum nicht mehr für sich selbst, sondern für eine Gruppe, ein Kollektiv? Bzw. kann die Meinungs­frei­heit von Funk­ti­ons­trä­gern einge­schränkt werden?

The national monu­ment of freedom of speech, New York 2005; Quelle: nytimes.com

Philipp Sarasin: Auf Englisch sagt man bekannt­lich präziser „freedom of speech“ bzw. „freedom of expres­sion“, das heisst, es geht sowieso immer um den perfor­ma­tiven Akt der öffent­li­chen Äusse­rung (in Deutsch­land spricht man daher auch von der „Meinungs­äus­se­rungs­frei­heit“). Könnte man nicht sagen, solche Äusse­rungen sind dann Propa­ganda, wenn sie eben nicht die Äusse­rung einer indi­vi­du­ellen Meinung – die natür­lich auch poli­tisch ist – darstellt, sondern die macht­volle Verbrei­tung einer Botschaft einer Partei oder eines Staates? Jeden­falls, es ist schon sehr seltsam, dass in der aktu­ellen Debatte die Meinungs­frei­heit diverser mäch­tiger Spre­cher als bedroht ange­sehen wird.

Sylvia Sasse: In Deutsch­land hat das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt auf die Frage des Unter­schieds zwischen indi­vi­du­eller Meinungs­frei­heit und der Propa­ganda von Funk­ti­ons­trä­gern geant­wortet. Sie lehnen eine Verfas­sungs­be­schwerde mit der Begrün­dung ab: Poli­tiker, die „in amtli­cher Eigen­schaft und unter Inan­spruch­nahme ihrer Amts­au­torität“ auftreten wollen, können sich nicht auf Grund­rechte berufen. Und weiter: Ein Auftritts­verbot sei eine außen­po­li­ti­sche Entschei­dung im Verhältnis zweier souve­räner Staaten, keine Einschrän­kung von Meinungs­frei­heit. Viel­leicht wäre es inter­es­sant, sich anzu­schauen, wie Meinungs­frei­heit in den genannten Fällen poli­tisch instru­men­ta­li­siert wird? Worum geht es, wenn z.B. meist schein­li­beral gefragt wird „Wo bleibt die Tole­ranz?“ (NZZ).

Philipp Sarasin: Ich finde die Frage der „Tole­ranz“ – in Anfüh­rungs­zei­chen, weil ich die NZZ zitiere – inter­es­sant. Grund­sätz­lich liesse sich wohl niemand finden, der von sich sagt, er oder sie sei bewusst „gegen“ Tole­ranz, und diese scheint gleichsam die mora­li­sche Haltung zu sein, die man einzu­nehmen hat, wenn man „für“ Meinungs­frei­heit ist. Abge­sehen davon, dass man auch heute nicht jeder „Meinung“ gegen­über tole­rant sein kann – zum Beispiel ist das Leugnen des Holo­caust aus guten Gründen schlicht verboten –, täuscht diese schein­li­be­rale Forde­rung nach Tole­ranz ein wenig darüber hinweg, dass unsere Gesell­schaft nicht einfach „schon immer“ tole­rant gewesen ist. Die äusserst into­le­ranten wech­sel­sei­tigen Haltungen von Katho­liken und Protes­tanten sind zwar meist schon länger her (auch wenn es sie noch am Ende des 20. Jahr­hun­derts gab); anti­se­mi­ti­sche Into­le­ranz – man sprach dabei meist vom „jüdi­schen Bolsche­wismus“ – jedoch gehörte in der Schweiz bis in die Mitte des 20. Jahr­hun­derts zum impli­ziten Selbst­ver­ständnis weiter Teile der konser­va­tiven Eliten und zumin­dest bis 1944 de facto auch zur Haltung der Bundes­be­hörden, und im frühen Kalten Krieg war schliess­lich die Meinungs­frei­heit von Kommu­nisten in keiner Weise gesi­chert. Die anti­kom­mu­nis­ti­sche Mehr­heit war da ausge­spro­chen into­le­rant. Ich sage früher Kalter Krieg, weil sich genau das seit den späten 60er Jahren geän­dert hat. Ein breites Verständnis von Meinungs­frei­heit war, mit anderen Worten, etwas, was nicht zuletzt die Neue Linke damals erkämpft hatte. Dabei muss man nicht verschweigen, dass klei­nere Teile dieser Linken zuweilen selbst „into­le­rant“ waren und z.B. öffent­liche Reden von Poli­ti­kern gestört hatten. Im Ganzen aber nun ausge­rechnet der Linken pauschal den Vorwurf der Into­le­ranz anzu­hängen, ist nicht nur aus histo­ri­scher Perspek­tive falsch, sondern auch aus heutiger Sicht einfach unplau­sibel: Die Linke (ich pauscha­li­siere jetzt auch) ist doch dieje­nige poli­ti­sche Kraft, die sich für eine offene und tole­rante Gesell­schaft einsetzt. Die Rechte wirft ihr das ja auch konstant vor… Man muss daher wohl die Frage umdrehen: Gibt es in einer offenen, libe­ralen Gesell­schaft das Recht oder viel­leicht auch einfach gute Gründe, jemandem das öffent­liche Wort zu verbieten oder sein öffent­li­ches Spre­chen zumin­dest zu kritisieren?

Sylvia Sasse: Aus recht­li­cher Perspek­tive ist Meinungs­äus­se­rungs­frei­heit ein Grund­recht, muss aber stets gegen die anderen Grund­rechte abge­wogen werden und unter­liegt selbst Schranken (Belei­di­gung, Volks­ver­het­zung, Aufrufen zur Straftat). Inso­fern ist es natür­lich völlig legitim zu sagen, da und da hört die Meinungs­frei­heit auf. Oder anders gesagt: Into­le­ranz gegen­über Rassismus wird vom Grund­ge­setz gera­dezu verlangt. Und privat würde ich hinzu­fügen, ja, ich bin into­le­rant nicht nur gegen­über Rassismus, sondern gegen­über Miso­gynie, gegen­über Fake-News, etc. Bei der Diskus­sion um Tole­ranz können wir doch nicht so tun, als mache es keinen Unter­schied, into­le­rant gegen­über Auslän­dern oder into­le­rant gegen­über Rassismus zu sein.

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Keeping Freedom of Speech Alive in India; Quelle: isha.sadhguru.org

Gesine Krüger: Zunächst noch folgender Gedanke. In der letzten Zeit wird inter­es­san­ter­weise die Verlet­zung der Meinungs­frei­heit bzw. ein angeb­li­ches Verbot des öffent­li­chen Spre­chens gerade von höchst mäch­tigen Personen beklagt, die jede Gele­gen­heit haben, sich zu äussern und die unter keinerlei Einschrän­kung dieser erkämpften Tole­ranz, diesem breiten Verständnis von Meinungs­frei­heit, zu leiden haben. Und die, das ist auch nicht unwichtig, über alle ökono­mi­schen Mittel verfügen, ihren Ansichten Gehör zu verschaffen. Denken wir an Thilo Sarrazin, dessen Buch über den „neuen Tugend­terror“ 2014 mit einer Start­auf­lage von 100.000 Exem­plaren, einem Vorab­druck in der Bild-Zeitung, einer Vorstel­lung im Gebäude der Bundes­pres­se­zen­trale in Berlin, Werbung in allen grossen Zeitungen von der FAZ bis zur ZEIT und Welt sowie flan­kiert von Auftritten zahl­rei­chen Talk-Shows erschienen ist. Es trägt den Unter­titel Über die Grenzen der Meinungs­frei­heit in Deutsch­land. Deniz Yücel sitzt unter anderem wegen eines Witzes über Kurden mit 150 anderen Jour­na­listen in der Türkei in Haft. So sieht eine Einschrän­kung der Meinungs-, Rede-, und Pres­se­frei­heit aus. Sarra­zins selbst­ver­liebte Klagen – in der Zeit­schrift Cicero rangiert er übri­gens unter den 500 einfluss­reichsten deutsch­spra­chigen Meinungs­ma­chern, gewichtet nach öffent­li­chen Auftritten, Publi­ka­tionen und Zita­tionen –, sind dagegen obszön.

Philipp Sarasin: …und in der Schweiz beherr­schen die wich­tigsten Reprä­sen­tanten der SVP seit über zwanzig Jahren die wich­tigsten Talk-Shows und die Interview-Formate der elek­tro­ni­schen wie der Print­me­dien, ohne im Geringsten von ihrem Vorwurf zu lassen, die „Mainstream-Medien“ würden sie nicht zu Wort kommen lassen. Wenn Mäch­tige nach „Meinungs­frei­heit“ rufen, hat man allen Grund, mehr als skep­tisch zu sein. Die Figur der „Meinungs­frei­heit“ kann sich in ihr ideo­lo­gi­sches Gegen­teil verkehren.

Help us step up our efforts to defend freedom of expres­sion; Quelle: voiceproject.org

Gesine Krüger: Wird Meinungs­frei­heit als Prinzip, als Menschen­recht vertei­digt, dann muss, bevor wir uns um das Für und Wider des Rede­rechts von Propa­gan­disten kümmern, die Rede­frei­heit derje­nigen vertei­digt werden, die von ihnen einge­sperrt werden. Es geht ja schliess­lich nicht gegen „die Türken“ und auch nicht gegen „die Türkei“, sondern darum, einem Diktator keine Platt­form zu bieten, der seiner­seits mit eiserner Hand regime­kri­ti­sche Meinungs­äus­se­rungen unter­bindet. Daher stellt sich die Frage, ob Can Dündar Recht hat, wenn er in der ZEIT schreibt: „Deutsch­land verliert seinen ‚Krieg‘ gegen Erdoğan womög­lich, denn mit den jüngsten Auftritts­ver­boten für türki­sche Poli­tiker fängt es an, ihm zu ähneln.“ Deutsch­land sei in eine Falle getappt, weil der türki­sche Präsi­dent sich seine Feinde gleich­mache – aber stimmt das? Die AKP-Anhänger würden radi­ka­li­siert und die Oppo­si­tion ins Lager Erdoğan gedrängt, so Dündar weiter. Hier findet doch eine selt­same Umkeh­rung in der Argu­men­ta­tion statt. Wenn Deutsch­land türki­sche Poli­tiker mit offenen Armen aufnehmen würde, die Propa­ganda für das Refe­rendum, und das heisst für die Stär­kung einer Diktatur machen wollen: Würde das die AKP Anhänger entra­di­ka­li­sieren und die Oppo­si­tion in der Türkei und in Deutsch­land bzw. der deut­schen Diaspora stärken? Auch wenn Dündars Argu­ment richtig ist: „Sollte Erdoğan, der das Recht miss­achtet, morgen vor Gericht kommen, wird es an uns sein, dafür einzu­treten, dass er nach rechts­staat­li­chen Prin­zi­pien behan­delt wird. Diese Konse­quenz ist es, die uns von ihm unter­scheidet“ – so sollte doch unsre Sorge und Kraft im Moment denje­nigen gelten, die bereits von diesem Regime verfolgt werden. Denje­nigen, die konkreten Beistand und Rechte benö­tigen. Es ist auch nicht zynisch, die deut­sche Staats­bür­ger­schaft von Yücel zu erwähnen, sondern diese Tatsache zeigt, wie weit Erdoğan geht: Er wirft Deutsch­land Nazi-Methoden vor und steckt deut­sche Jour­na­listen, die sein Regime kriti­sieren, ins Gefängnis.

Sandro Zanetti: Mit Shake­speare gespro­chen: „Ist es Wahn­sinn, so hat es doch Methode.“

Gesine Krüger: Die Behaup­tung, die AfD, Erdoğan usw. wollten doch nur reden und würden daran gehin­dert von einem linken Tugend­terror, der, gedeckt von „den Medien“, ein blei­ernes Denk­verbot verhänge, klingt so glaub­haft wie die Versi­che­rung eines grin­senden Hooli­gans, sein zähne­flet­schender Kampf­hund „will ja nur spielen…“ Zu einer freien Debatte gehört ein Austausch von Argu­menten und die prin­zi­pi­elle Bereit­schaft, seine Ansicht zu revi­dieren, einzu­lenken und sich über­zeugen zu lassen. Zur Debatte gehören auch Ironie, Spott und Witze. All dies wurde auf Seite der angeb­lich Verfolgten schon lange nicht mehr gesichtet.

Diskus­sion „Die Grenzen der Tole­ranz: Belei­di­gung oder freie Meinungs­äu­ße­rung?“ Joachim Bernauer, Matthias Lili­en­thal, Hito Steyerl und Okwui Enwezor, Haus der Kunst, 12.02.15; Quelle: hausderkunst.de

Sylvia Sasse: Dündars These ist ja, dass nicht die Regie­rungen die Auftritte hätten verbieten sollen (weil man dann nicht besser sei als der Diktator selbst), sondern dass es Proteste aus dem Volk heraus hätte geben müssen. Inter­es­sant ist, dass – im Fall der Gess­ne­r­allee – die Proteste „aus dem Volk“ kamen und dennoch als Zensur inter­pre­tiert werden. Dündar schreibt, dass man mit dem Verbieten in die Falle tappe. Ich finde aller­dings, wir tappen in die Falle, wenn wir uns eine Toleranz- oder Meinungs­frei­heits­de­batte aufzwingen lassen, obwohl es hier um die Frage geht, wie man auf Dikta­toren oder auf Popu­listen reagiert – als Privat­person, als Staat, als Wirt­schaft. Oder anders gefragt: Welcher Protest ist wirksam? Das ist ja auch die Frage rund um die Gess­ne­r­allee. Milo Rau schreibt, wir müssen „jede Gele­gen­heit nutzen, um die Narra­tive des Rechts­po­pu­lismus zu dekon­stru­ieren“. Also Debat­tieren als Protes­tieren und nicht Protes­tieren gegen Debatten. Andere sagen: Nein, man muss das Spiel nicht mitma­chen, man muss sich Ideo­logen verwei­gern. Dazu hat der fran­zö­si­sche Schrift­steller Édouard Louis in einem anderen Zusam­men­hang gesagt, es sei ein Miss­ver­ständnis anzu­nehmen, dass diese Art Zurück­wei­sung Zensur sei: „Ich trete mit vielen auf, deren Meinungen ich nicht teile, ich schätze die Diffe­renz. Aber ich verwei­gere mich den rechten Ideo­logen. Ich möchte nicht über Nation, Zerfall, Souve­rä­nität disku­tieren. Sondern über Ausbeu­tung, Gewalt und Unter­drü­ckung.“ Ich finde, dass beide Recht haben, und dass es nicht darum geht, hier ein Entweder/Oder zu fordern, sondern beide Posi­tionen als Mögliche zuzulassen.

Gesine Krüger: Ich finde die Vermi­schung von Privat­per­sonen und Insti­tu­tionen bzw. Funk­ti­ons­trä­gern span­nend. Wie kann einem Schrift­steller, der sich ein bestimmtes Gespräch nicht aufzwingen lassen möchte, Zensur vorge­worfen werden, und wieso wird eine türki­sche Minis­terin als Privat­person wahr­ge­nommen, der das Rede­recht entzogen wird…?

Philipp Sarasin: Im Fall der Gess­ne­r­allee, um noch­mals darauf zurück­zu­kommen, hat sich die Frage­stel­lung ja komplett verdreht. Die eigent­liche Frage ist doch, warum die schwei­ze­ri­sche „opera­tion libero“ die Einla­dung zu einem Gespräch mit dem deut­schen AfD-Vordenker Jongen akzep­tierte? Warum sollte sie? Was verspricht sie sich dabei? Nun, was auch immer – jeden­falls gibt es keinen von der Verfas­sung bzw. dem Grund­recht auf Meinungs­frei­heit gedeckten Anspruch darauf, auf ein Podium einge­laden zu werden. Es gibt auch keinen Anspruch darauf, dass jemand mit einem disku­tiert. Hier werden scheinbar grund­sätz­liche Fragen – „Tole­ranz!“, „Meinungs­frei­heit!“ – mit ganz anderen vermischt, die rein takti­scher Natur sind, nämlich: Verspre­chen wir uns einen poli­ti­schen Effekt in ‚unsere Rich­tung‘, wenn wir mit Jongen (oder wem auch immer) disku­tieren? Gibt es eine uns gemeinsam betref­fende Sach­frage, über die wir streiten müssen? Oder: Können wir uns profi­lieren, indem wir den Gegner auf dem Podium vorführen? etc. Das wäre selbst­ver­ständ­lich alles legitim und taktisch viel­leicht auch OK – aber man soll doch dann, wenn Kritik an diesem takti­schen Dispo­sitiv geäus­sert wird, nicht auf die Meinungs­frei­heits­trä­nen­drüse drücken…! Der Verdacht, dass es nicht um die Meinungs­frei­heit gehe, sondern um das Begehren, diesen Leuten eine Bühne zu geben (die sie eh schon haben), liegt zu nahe.

Sandro Zanetti: Ja, das ist ein wich­tiger Punkt. ‚Schein­hei­lig­keit‘ könnte man diese Art der ‚Vertei­di­gung‘ von Meinungs­frei­heit auch nennen. Vergli­chen mit der tatsäch­li­chen Unter­drü­ckung von Meinungs­frei­heit hat man es bei den jetzt von uns disku­tierten Fällen einer letzt­lich mora­lisch aufge­la­denen (d.h. sich belei­digt fühlenden) und dabei doch zugleich ganz stra­te­gisch opera­tio­na­li­sierten Reak­tion auf Kritik (!) mit einem verhält­nis­mässig harm­losen Sturm im Wasser­glas zu tun.

Nach­trag: in einer früheren Fassung des Gesprächs wurde behauptet, die Opera­tion Libero habe Herrn Jongen einge­laden. Das stimmt nicht, die Einla­dung ging vom Thea­ter­haus Gess­ne­r­allee aus. Wir haben den Fehler korrigiert.

Kembrew McLeod, Wissen­schaftler, Künstler und gele­gent­lich Musik­kri­tiker, sicherte sich 1998 als Seiten­hieb auf Priva­ti­sie­rung der Alltags­kultur durch Urheber- und Marken­rechte die Rechte am Ausdruck „Freedom of Expres­sion“. Quelle: heise.de