Jedes Jahr zur Weihnachtszeit häufen sich die Fälle häuslicher Gewalt. Doch weil es zu wenig Plätze gibt, müssen Frauenhäuser Schutzsuchende abweisen. Dass diese Häuser überhaupt existieren, verdanken wir der Neuen Frauenbewegung der siebziger und achtziger Jahre.
„1974“, erinnerte sich sehr viel später die Schweizer Feministin und Regisseurin Cristina Perincioli, „gab es in Deutsch noch keinen Begriff für häusliche Gewalt … und außer den Betroffenen – die ja schwiegen – hatte niemand eine Vorstellung davon, was es konkret bedeutet.“

Aufruf Frankfurt am Main, 1977; Quelle: frauenmediaturm.de
Gegen ein Phänomen, das in seiner Rohheit und Brutalität Sprachlosigkeit voraussetzte und erzwang, setzten autonome Feministinnen im deutschsprachigen Raum ab der Mitte der 1970er-Jahre ein ganzes Bündel an Begriffen, Institutionen und Strategien, die den gesellschaftlichen und staatlichen Umgang mit dem, was wir heute selbstverständlich „häusliche Gewalt“ nennen, grundlegend transformierten. In bewusster Abgrenzung zu etablierten Parteien, Gewerkschaften und kirchlichen und sozialen Körperschaften, die aufgrund ihrer hierarchischen Form und Nähe zum Staat kein Ort feministischer Kritik und weiblicher Selbstbestimmung sein konnten, etablierten autonome Frauengruppen Frauenhäuser: geschützte Räume also, zu denen Männer keinen Zutritt hatten und in denen eine gänzlich neue, frauenzentrierte und solidarische Form des gemeinsamen Lebens und Handelns praktiziert werden sollte.
Ausländische Vorbilder
Der ursprüngliche Impuls war aus dem Ausland gekommen. Die amerikanische Feministin und Autorin Susan Brownmiller hatte 1967 ein sogenanntes speak-out über Vergewaltigung organisiert. Vier Jahre später war im Londoner Stadtteil Chiswick von der Britin Erin Pizzey das „Women’s Shelter“ eröffnet worden – die erste Institution, die sich explizit an Frauen wandte, die von ihren Männern geschlagen wurden, und ihnen Zuflucht bot. Es war die Begegnung mit den dort lebenden Frauen, erinnert sich Perincioli, die ihr die Augen öffnete mit ihren Erzählungen „unfassbarer Grausamkeiten“. Als sie in Berlin, wo sie lebte, im Plenum des Frauenzentrums fragte, ob jemand Frauen kenne, die von häuslicher Gewalt betroffen waren, meldeten sich zu ihrem grossen Erstaunen Anwesende – „Frauen, die ich zu kennen glaubte, mit denen ich zusammenarbeitete! Nicht ‚die anderen‘ hatten dieses Problem – nein, es war mitten unter uns!“

„Frauendemonstration in Zürich, 12. März 1977. Quelle: Schweizerisches Sozialarchiv, F 5041-Fc-003
Im März 1976 trafen sich in Brüssel Frauen aus zahlreichen Ländern zu einem „internationalen Tribunal“, um über Gewalt gegen Frauen zu sprechen und Strategien für politischen Aktivismus zu entwickeln. Wenig später, im selben Jahr, eröffnete im West-Berliner Stadtteil Grunewald das erste autonome „Frauenhaus“. In der Schweiz gründete sich 1977 in Zürich der „Verein zum Schutz misshandelter Frauen“; zwei Jahre später konnten die Zürcherinnen die schweizweit erste Notunterkunft für Opfer häuslicher Gewalt eröffnen. Das Haus war selbstverwaltet, Männern der Zutritt verboten. Nicht der Gegensatz zwischen jenen, die Zuflucht suchten, und jenen, die sie gewährten, sollte im Vordergrund stehen, sondern das, was sie verband – oder verbinden sollte: nämlich die gemeinsame Betroffenheit, die Existenz als Frau in einer patriarchalisch strukturierten Gesellschaft. „Auch wenn wir Mitarbeiterinnen im Frauenhaus uns nicht unmittelbar von körperlicher Gewalt bedroht sehen,“ hiess es in einer Publikation des Frauenhauses Köln, „so leben wir doch alle in der gleichen Gesellschaft. Wir finden zunächst keine anderen Lebensbedingungen vor, wie die Frauen im Frauenhaus, die so offensichtlich zeigen, wie weit männliche Gewalt gehen kann.“
Öffentlichkeit und Provokation
Zu dem politischen Anspruch der Aktivistinnen gehörte, neben der Arbeit im Frauenhaus, das öffentliche Sprechen über Gewalt. Wenn sie, wie die Schweizer autonome Gruppe „Aktion Gewalt gegen Frauen“ auf dem Berner Bärenplatz im Dezember 1980 und Januar 1981 Spruchbänder mit Beschriftungen wie „die Geduld der Frau ist die Macht der Männer“ und „die alltägliche Gewalt an Frauen“ aufspannten oder „herausfordernde Plakate“ aufstellten, die zeigten, „wann, wo und wie wir Frauen der Gewalt ausgesetzt sind“, so produzierte dies „viele Diskussionen“ mit den Passantinnen und Passanten, wie die Aktivistinnen mit Genugtuung in der feministischen Zeitschrift „Die Emanzipation“ vermerkten. Die Zürcherinnen, die auf der Demonstration zum internationalen Tag der Frau am 12. März 1977 den Block „Gewalt gegen Frauen“ bildeten, waren ganz in schwarz gekleidet, ihre Gesichter weiss bemalt und ihre Augen dick mit schwarzer Farbe umrandet. Mit ihrem ernsten, anklagenden Gesichtsausdruck und den übergehängten Plakaten, so schreiben es Judith Bucher und Barbara Schmucki in ihrer „Fotogeschichte der Frauenbefreiungsbewegung in Zürich“, wirkten sie bedrohlich und prägten das Erscheinungsbild des ganzen Protestzuges.

Aufruf zur Demo am 17. April 1982; Quelle: frauenmediaturm.de
Lange war häusliche Gewalt gegen Frauen vor allem dann öffentlich thematisiert worden, wenn sie mit ihrem Tod endete. Die milde Rechtsprechung und das Verständnis, das die Täter nicht selten erfuhren, begannen Feministinnen nun zu dokumentieren. So findet sich in einer Sammlung von Zeitungsausschnitten des Berliner Frauenzentrums der Fall eines Tierarztes, der, des Mordes angeklagt, im Dezember 1972 freigesprochen wurde. „Während des Prozesses hatte der Gutachter, Professor Witter, erklärt, die Tat sei eine ‚Primitivreaktion‘ gewesen, an der das Opfer mitschuldig gewesen sei“, hiess es im Bericht des Tagesspiegel. So lange sie lebten, konnten Opfer aus Scham und Furcht nicht sprechen; wurden sie getötet, waren es ihre Misshandler, die für sie sprachen und bei Polizei und Gerichten nicht selten ein verständnisvolles Ohr fanden.
Sprechen über Gewalt und die Sprachlosigkeit des Schmerzes
In den umfangreichen Dokumentationen, wissenschaftlichen Abhandlungen, Ausstellungen sowie Rundfunk-, Film und Fernsehbeiträgen, die Feministinnen erstellten, konnten Frauen, die häusliche Gewalt erfahren hatten, erstmals „ich“ sagen. „[E]r schlug nur, wenn er betrunken war. Aber dann schlug er fest“, erzählte die Ostschweizerin Maya K. in einem 1977 erschienenen Band.
Nicht nur einfach Ohrfeigen, sondern Faustschläge, Fusstritte in den Leib. Er würgte mich auch; drohte, er bringe mich um, schilderte, wie er mich umbringen werde. Er zerschlug zum Beispiel einen Teller, ging mit der Tellerspitze auf mich los und erzählte mir dabei, wie er mich in Stücke schneiden werde. … [I]ch hatte Angst, dass er mich zum Krüppel schlägt.
Frauenhaus-Forderung, Berlin 1976; Quelle: frauenmediaturm.de
Die Darstellungen der Frauen waren so lakonisch wie erbarmungslos. „Als ich mich wehrte, eine Abtreibung zu machen“, so schilderte eine Bewohnerin des Berliner Frauenhauses ihre Misshandlung dem Team um die Soziologin Carol Hagemann-White, „fing er an, mich täglich zu schlagen. Als ich im 5. Monat schwanger war, schlug er mich so stark, daß ich drei Wochen bewußtlos im Krankenhaus lag. … Überhaupt hatte ich kaum noch einen Knochen im Körper, der nicht schon gebrochen [war]: Alle Finger, beide große Zehen, zahlreiche Rippen, Nasenbein, Schlüsselbein, beide Arme, Beckenknochen.“
Die Lakonie der Schilderungen offenbarte freilich auch, dass Sprechen über Gewalt und Sprechen über Schmerzen zwei verschiedene Dinge waren. Denn so nüchtern die Frauen die Brutalität, die sie erfahren hatten, beschrieben, so schwer fiel es ihnen offenbar, ihre eigene Subjektivität, ihre Empfindungen, den erfahrenen Schmerz zu beschreiben. „Physical pain does not simply resist language but actively destroys it, bringing about an immediate reversion to a state anterior to language, to the sounds and cries a human being makes before language is learned“, schrieb die Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Elaine Scarry wenige Jahre später in ihrer Studie The Body in Pain. The Making and Unmaking of the World. Die Subjektivität der Frauen, die ihre Geschichte erzählten, war zu gebrochen, als dass sie diese Sprachlosigkeit des Schmerzes hätten überwinden könnten. Und doch war der politische Anspruch, der dem Sprechen über Gewalt innewohnte, aus dem öffentlichen Diskurs bald nicht mehr wegzudenken.
Konflikte und Asymmetrien
Aktivistinnen sahen in der körperlichen Misshandlung von Frauen durch Männer lediglich den brutalsten Teil einer „strukturellen Gewalt“, eines patriarchalischen Machtsystems, das die ganze Gesellschaft bestimmte, Frauen unterdrückte und gefügig machte. Daher konnte ein Sprechen über Gewalt nicht voraussetzungslos sein, sondern erforderte ein permanentes Reflektieren des eigenen Denkens und Handelns. Um bestehende Formen und Konventionen des Sprechens und Forschens über gesellschaftliche Phänomene nicht zu reproduzieren, experimentierten Feministinnen mit neuen Formen, Medien und wissenschaftlichen Methoden.
Die Methode der Aktionsforschung, durch die Soziologin Maria Mies für die Frauenbewegung adaptiert, setzte an die Stelle herkömmlicher empirischer Sozialforschung mit ihren vermeintlich repräsentativ erhobenen Daten Gespräche mit betroffenen Frauen, Rollenspiele und Zeichnungen. So wollte man gemeinsam „dem Begreifen der Wirklichkeit ein Stück näher“ kommen. Die künstliche Trennung zwischen Forscherinnen und Beforschten sollte aufgehoben werden, misshandelte Frauen eine Stimme erhalten. Sie sollten über das, was sie erfahren hatten, sprechen können, ohne sich erneut einer Herrschaftssituation ausgesetzt zu sehen. Und doch blieb eine Distanz, ein Gefälle. Denn so eng die Frauenhaus-Frauen auch in den Forschungsprozess mit einbezogen wurden – am Ende waren es die Forscherinnen, unter deren Namen die Publikation erschienen. Die Namen der befragten Frauen wurden (aus verständlichen Gründen) verändert oder abgekürzt, ihre Erzählungen nicht selten sprachlich geglättet, manchmal auch gekürzt, um die Leserinnen nicht mit „Horrorberichten“ zu konfrontieren. Die Frauen beantworteten Fragen, ohne ihrerseits welche zu stellen. „Ich bin nicht so schlau wie eine Vereinsfrau“, sagte Gisela, eine ehemalige Bewohnerin des Frauenhauses Köln. „Ihr studiert ja alle und habt was geschafft.“

Im Garten des 1976 eröffneten Frauenhauses in Berlin-Grunewald, Quelle: tagesspiegel.de
Dieses bleibende Gefälle war den Forscherinnen, die sich in dauernder Reflexion und Selbstkritik übten, bewusst; überwinden konnten sie es nicht. Gegenüber nichtdeutschen Bewohnerinnen wurde dies besonders deutlich. So sollte die Geschichte von „Fatima“ (ein Pseudonym) in einem Forschungsbericht über das Berliner Frauenhaus „exemplarisch“ die besondere Benachteiligung von Türkinnen gegenüber ihren Männern „durch Sitten, Gebräuche und Religion“ veranschaulichen, ohne dass deutlich wurde, worin diese genau bestanden, denn Fatimas Ehemann unterschied sich kaum von deutschen Misshandlern. Anders als die Berichte der deutschen Frauen wurde ihre Geschichte in der dritten Person erzählt. Aktivistinnen und Forscherinnen thematisierten und kritisierten zwar die vielfältigen Benachteiligungen, denen Ausländerinnen durch Staat und Gesellschaft ausgesetzt waren (so drohte ihnen bei der Flucht ins Frauenhaus in der Regel der Verlust des Aufenthaltstitels). Gelegentlich enthielten ihre Schriften auch Beobachtungen zur Xenophobie der deutschen Bewohnerinnen. Breit diskutiert wurde dies aber erst, als die Politikwissenschaftlerin und langjährige Frauenhausmitarbeiterin Gülşen Aktaş 1990 einen Vortrag hielt, in dem sie nicht nur Anfeindungen durch Bewohnerinnen, sondern auch deren stillschweigende Duldung durch Frauenhausmitarbeiterinnen thematisierte.
Die Asymmetrien und Konflikte, die die Bewegung gegen Gewalt gegen Frauen von Beginn an kennzeichneten, sind auch heute nicht überwunden. Gleichzeitig ist ihre Bilanz beeindruckend: Gegenwärtig gibt es rund 350 Frauenhäuser in Deutschland und 18 in der Schweiz. Grundsätze, die damals als radikal galten und besonders in konservativen Kreisen auf Kritik stiessen, wie das Zugangsverbot für Männer, sind heute weithin akzeptiert. Vergewaltigung in der Ehe ist – vor fünfzig Jahren noch kaum denkbar – ein Straftatbestand. Es lohnt sich gelegentlich daran zu erinnern, dass das, was heute selbstverständlich erscheint, erstmals von Frauen formuliert wurde, die grundsätzliche Gesellschaftskritik übten und nicht im Namen eines abstrakten Universalismus argumentierten, sondern ganz bewusst eben als: Frauen.