Der polnische Künstler Artur Żmijewski hat 2005 auf der Biennale in Venedig das berühmte Stanford-Prison-Experiment des amerikanischen Psychologen Philip Zimbardo reenactet. Ihn interessierte damals, ob sich die Probanden von ihrer vordefinierten Rolle lossagen können, um eigene Entscheidungen zu treffen. Deshalb wollte er das ursprüngliche Experiment nicht einfach wiederholen, sondern als Experiment in der Kunst unter anderen Bedingungen noch einmal „überprüfen“.

Artur Żmijewski, Repetition, 2005, video, 75 min., video still, collection Van Abbemuseum, Eindhoven (photo: Foksal Gallery Foundation, Warsaw)
Um es vorwegzunehmen: Żmijewski kam zu einem anderen Ergebnis als Zimbardo. Und die Unterschiede zeigten sich nicht nur beim erwartbaren Widerstand von unten, sondern auch beim Widerstand von oben: im Ausstieg aus der Position der Unterdrückung. Das ist ein Blick auf Macht, den wir gerade gut gebrauchen können, haben wir es doch weltweit mit einem massiven Konformismusproblem zu tun und mit der Frage, wann wer bereit ist, die Reißleine zu ziehen.
Zimbardos Experiment
Kurz zurück zu Zimbardos berühmtem Experiment: 1971 wollten die US-amerikanischen Psychologen Philip Zimbardo, Craig Haney und Curtis Banks an der Stanford University testen, wie sich menschliches Verhalten unter den Bedingungen von Gefangenschaft äußert. Vierundzwanzig ganz „normale“ Studenten aus der Mittelschicht schlüpften für 25 Dollar pro Tag in die Rolle von Wärtern und Gefangenen und wurden – in einer Dynamik von Aufstand und dessen Niederschlagung, u.a. durch die Einführung von Privilegiensystemen zur Zerschlagung von Solidarität unter den Gefangenen – binnen weniger Tage zu grausamen Tyrannen und konformen Untertanen. Zimbardo nannte dies den „lucifer effect“. Dieser besagt, dass alle Menschen unter bestimmten Umständen dazu gebracht werden können, die ihnen übertragene Autorität zu missbrauchen und Gewalt auszuüben. Die gewonnene Einsicht, die in der Öffentlichkeit hängengeblieben ist, lautet, dass jeder zu einem Täter werden kann – das Böse steckt in uns allen.
Auch die Filme bzw. Verfilmungen, die auf dem Experiment basierten und es zu einem Phänomen der Popkultur machten, u.a. The Stanford Prison Experiment unter der Regie von Kyle Patrick Alvarez (2015), haben sich an dieser These abgearbeitet; in einigen Filmen wird der Sadismus der Wärter noch verstärkt, so in Das Experiment (2001) unter der Regie von Oliver Hirschbiegel.
Żmijewskis Veränderung
Żmijewski veränderte in seinem Reenactment von vornherein die Versuchsanordnung an zwei entscheidenden Stellen: Im Unterschied zu Zimbardo schloß Żmijewski mit den Teilnehmer*innen zuvor eine Art Vertrag ab, so konnten sie bei Nennung eines vereinbarten Codes jederzeit aus dem Experiment aussteigen. Und er reflektierte, anders als Zimbardo, auch seine Rolle als Künstler bzw. Experimentator, indem er die Beziehung zwischen den Wärtern und ihm selbst als Teil des Experiments wertete. Auf diese Weise wurde es ihm möglich, die Gewalt der Wärter ebenfalls als Konformismus – nun gegenüber den Anweisungen des Künstlers – zu interpretieren. Diese Art von Konformismus war bei Zimbardo ein blinder Fleck. Stephen Reicher und S. Alexander Haslam, zwei andere Psychologen, die Zimbardos Experiment wiederholten, deuteten schon vor Żmijewski das Verhalten der gewalttätigen Wärter nicht einfach als Ausbruch von Gewalt, sondern als eine Art Überidentifikation mit der Macht, ja sogar als Enthusiasmus gegenüber demjenigen, der das Experiment schuf.

Artur Żmijewski, Repetition, 2005, video, 75 min., video still, collection Van Abbemuseum, Eindhoven (photo: Foksal Gallery Foundation, Warsaw)
Żmijewski lag es fern, diese Überidentifikation mit der Macht noch einmal zu provozieren. Seine Wiederholung verlief auch anders als die der Psychologen, die Zimbardo kritisierten. Entsprechend gelangte er mit seiner Versuchsanordnung auch zu anderen Schlußfolgerungen. In seinem Reenactment rebellieren am Schluss – ebenfalls nach vielfältigen Erfahrungen von Erniedrigung – nicht nur die Häftlinge (was bei Zimbardo auch passierte, von ihm jedoch in der Auswertung unterschlagen wurde), sondern es rebellieren auch die Wärter. Diese widersetzen sich den Anweisungen des Künstlers bzw. dem vorhersehbaren Ausgang in der Geschichte des Experiments. Żmijewski schreibt: „Und plötzlich verändert sich die Situation. Einer der Wärter, der zum Gefängnisdirektor ernannt wurde, beginnt, die Folgen seines unterdrückerischen Handelns zu erkennen. Er schlägt den Häftlingen ein gemeinsames Gespräch vor und überredet sie dazu, das Experiment zu beenden.“
Żmijewski liest genau diesen Akt als Rückgewinnung von Autonomie: Sie, die Wärter, handeln nicht länger so, wie man es von ihnen erwartet, sie erfüllen ihre Rolle als Wärter nicht. Dieser Widerstand wäre im Grunde bei den Gefangenen naheliegend gewesen und dem Widerstand in einem autoritären System analog. Bei den Wärtern besteht jedoch die Rückgewinnung von Autonomie gerade darin, sich den Anweisungen und Anforderungen an ihre Rolle, also der Identifikation mit der gewaltausübenden Autorität, zu widersetzen.
Kein Bartleby
Ich habe Żmijewskis Experiment deshalb so ausführlich wiedergegeben, weil es zwei Ausgangssituationen von Widerstand verdeutlicht, von denen eine oft aus dem Blick gerät. Da ist zum einen die Situation des protestierenden Tuns von unten, zum anderen die des aktiven Unterlassens von oben. Während sich also der Widerstand der Häftlinge in Protest zeigt, geht es bei den Wärtern eher um ein politisches „I would prefer not to“. Aber anders als bei Herman Melvilles berühmter Erzählung Bartleby, der Schreiber — eine Geschichte aus der Wall Street und entgegen ihrer politischen Interpretationsgeschichte, die Bartleby wie jüngst bei der Occupy-Bewegung als Figur des passiven, sabotierenden Widerstands von unten stilisierte, wäre es hier – in der Logik von Żmijewskis Experiment – nicht nur Bartleby, der das Tun verweigert. Es wäre auch sein Chef, der damit aufhören müsste, ihm entsprechende Aufgaben zu geben. Oder bezogen auf die Occupy-Bewegung: Erst wenn der CEO einer Bank vor die Tür tritt und sagt: „Ihr habt Recht, was wir machen ist verantwortungslos, ich mache da nicht mehr mit“ — würde das passieren, was sich bei Żmijewski in der Wiederholung des Experiments von Zimbardo ereignete.

Artur Żmijewski, Repetition, 2005, video, 75 min., video still, collection Van Abbemuseum, Eindhoven (photo: Foksal Gallery Foundation, Warsaw)
Historisch ist ein solcher „Ausstieg von oben“ selten, aber wirksam. Auch die (kurzfristig) vielleicht erfolgreichsten Revolutionen des 20. Jahrhunderts, die russische Februarrevolution 1917 und die portugiesische Nelkenrevolution, wurden durch ein solches „I would prefer not to“ seitens der „Wärter“ ermöglicht: Als die Kosaken in Petersburg sich weigerten, die Protestierenden auseinanderzujagen, und als die Soldaten Nelken in ihre Gewehrläufe steckten, um zu zeigen, dass sie nicht schießen würden.
Der Lee-Effekt
Zuletzt war es der Tory-Abgeordnete Phillip Lee, der im britischen Unterhaus während der Rede Boris Johnsons in der Dringlichkeitssitzung zum Brexit die Seite wechselte und sich demonstrativ zu den pro-europäischen Liberaldemokraten setzte. Auch das war ein solches seltenes Beispiel für ein „I would not prefer to“ aus der Position eines Vertreters einer Regierungspartei, das den Konformismus dem „Regisseur“ bzw. Premierminister gegenüber aufkündigte. In einem öffentlichen Brief an Boris Johnson schrieb Lee:
„Nach reiflicher Überlegung bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es nicht mehr möglich ist, als konservatives Mitglied des Parlaments den Interessen meiner Wähler und des Landes zu dienen.“ (“After a great deal of thought, I have reached the conclusion that it is no longer possible to serve my constituents’ and country’s best interests as a Conservative Member of Parliament.”)
Er schrieb weiter, dass ihn die konservative Partei einst interessiert habe, weil in ihr „unterschiedliche Ansichten zu verschiedenen Themen“ möglich waren, die allesamt durch konservative Prinzipien von „sorgfältiger Governance“, „verantwortungsvoller Reformen“ etc. geleitet waren. Lee stieg aus einer Politik aus, die Konformität und Identifikation und ein fehlgeleitetes Verständnis von Loyalität verlangt.
Gefährliche Konformität
Żmijewski schreibt nach seinem Experiment resümierend: „Möglicherweise ist es attraktiver und nützlicher für jede Art von Macht, die Überzeugung zu reproduzieren, dass eine Bestie in jedem von uns wohnt.“ Demokratisiert man jedoch die Spielregeln, so wie Żmijewski dies tut, sieht man, dass Menschen bestrebt sind, Lösungen aus Konflikten zu finden und ihr gewalttätiges Handeln durchaus zu reflektieren. „Sogar diejenige Macht, die sich in eskalierenden Schikanen vergisst“, so Żmijewski, „tendiert zumindest zu einer Reflexion über das eigene Handeln“. So erkennen die „Wärter“ auch, dass ihre Bestialität nicht – wie ihnen das gesellschaftliche bzw. experimentelle Setting es vormacht, ein Akt der Autonomie ist, sondern eine gefährliche, das System stützende Konformität. Es ist dieser Konformismus, der die Parteidikaturen des 20. Jahrhunderts kennzeichnete und der die gegenwärtigen illiberalen Demokratien, die mafiösen Clanwirtschaften, die Formen von Parteiraison, von religiösem, esoterischem, politischem Fundamentalismus und Extremismus ermöglicht.

Artur Żmijewski, Repetition, 2005, video, 75 min., video still, collection Van Abbemuseum, Eindhoven (photo: Foksal Gallery Foundation, Warsaw)
Liest man vor einem solchen Hintergrund beispielsweise Max Czolleks Buch Desintegriert euch!, das eigentlich eine Kritik an einem nationalen Wir, an Leitkulter und Integrationsdebatten ist, dann sollte man den Aufruf auch als eine noch umfassendere Kritik an verlangter Anpassung und an gefordertem Konformismus verstehen. Denn Integration in eine Demokratie bedeutet nicht, möglichst angepasst zu sein bzw. zu werden, sondern möglichst verhandlungsbereit. Oder anders formuliert: Wenn man einen religiösen und politischen Fundamentalismus in der Demokratie nicht akzeptieren will, dann nützt es nichts, einfach das Bezugssystem der Anpassung zu ändern, eine bloße Anpassungsbereitschaft muss vielmehr (auch) als Problem reflektiert werden.
Desintegration
Vor Czolleks Aufruf zur mehr Desintegration hatte bereits der US-amerikanische Performancetheoretiker José Muñoz 1999 das Konzept der Desidentifikation als eine andere Form von Kritik ins Spiel gebracht. Auch ihm ging es darum, den vermeintlich gesetzmäßigen Binarismus von Gewalt auf der einen und Widerstand auf der anderen Seite aufzubrechen. Er nahm ausgehend von der Theorie des französischen Linguisten und Philosophen Michel Pêcheux an, dass Individuen in einem autoritären Staatsapparat die Entscheidung treffen, sich entweder mit der dominanten Ideologie zu identifizieren oder gegen sie zu opponieren, sich also mit der Seite des Widerstands zu identifizieren. Die meisten Menschen in solchen Regimen machen aber weder das eine noch das andere. Sie widersetzen sich eher dem Denken, das strikt zwischen Feind und Freund, Für oder Dagegen unterscheidet, weil dieses Denken selbst schon eine Setzung des Staates ist. Muñoz führte alternativ dazu eine Art dritten Modus ein, die Desidentifikation, „die sich weder in einer solchen Struktur assimiliert noch strikt dagegen opponiert.“ Desidentifikation ist eine Art pragmatische, manchmal auch subversive Gleichzeitigkeit von mit und gegen, die erkennen lässt, dass Prozesse der Assimilation und Opposition erkannt und reflektiert werden. So werden Anpassungsprozesse weder verdammt, denn sie sind oft gar nicht vermeidbar und mitunter überlebenswichtig, noch werden sie verschwiegen oder umgewertet. Vielmehr hinterfragt Desidentifikation Konformismus als stabilisierenden Faktor jeder Machtstruktur. Mit Żmijewskis künstlerischem Experiment im Hinterkopf könnte man sogar sagen, dass die Reflexion von Gewalt, Unterdrückung, Erniedrigung, aber auch von blinder Loyalität als Konformismus eine Voraussetzung dafür ist, die Reißleine noch zum richtigen Zeitpunkt zu ziehen.