„Als ich einmal durch den Tokenhouse Yard in Lothbury [in der City von London] ging, wurde plötzlich direkt über mir ein Fenster heftig aufgerissen, und eine Frau stieß dreimal einen schrecklichen Schrei aus und rief dann mit unnachahmlicher Stimme: ‚O Tod, Tod, Tod!’, was mir ungeheuren Schrecken einjagte und das Blut in den Adern gefrieren ließ. In der ganzen Straße war niemand zu sehen, noch öffnete sich sonst ein Fenster, denn nichts mehr konnte die Neugier der Leute erregen, auch konnte keiner mehr einem andern helfen, so ging ich weiter in die Bell Alley.“
Diese Passage findet sich in einem Buch aus dem Jahr 1722 mit dem umständlichen Titel A Journal of the Plague Year: Being Observations or Memorials, Of the Most Remarkable Occurrences, As well Publick as Private, Which happened in London During the last Great Visitation in 1665. Written by a Citizen who continued all the while in London. Never made publick before. Es handelt sich bei diesem Journal um den vermeintlich authentischen autobiographischen Bericht über die letzte große Pest in London im Jahr 1665; der nicht genannte Autor ist Daniel Defoe, der berühmte Verfasser des Robinson Crusoe.
Defoe, der im Pestjahr 1665 fünf Jahre alt war, konstruiert für das Journal die Perspektive des erwachsenen Ich-Erzählers „H. F.“, der als Beobachter und Augenzeuge jung, wahrscheinlich unverheiratet, kritisch abwägend, sowohl religiös als auch rational denkend ist. Vor allem aber ist er neugierig, was ihn immer wieder aus dem Haus treibt. Er spaziert in Gegenden Londons, „in denen ich eigentlich nichts zu tun hatte.“ Und auch im August, kurz vor dem Höhepunkt der Epidemie, nachdem er sich mit Mehl und Malz versehen hatte, um in seinem Haus selber Brot zu backen und Bier zu brauen, konnte er seiner „nimmersatten Neugier doch nicht soweit gebieten“, dass er selber stets im Hause blieb.
Die Pest in London

„Lord, Have Mercy On London”: Zeitgenössischer Holzschnitt
London war, folgt man dem Journal von Defoe, in den Sommermonaten 1665 bis zur Unkenntlichkeit verändert. Die Straßen, die gewöhnlich so belebt waren, lagen wie ausgestorben da. Selbst auf großen Straßen mitten in der City, ja sogar vor der Börse, wuchs Gras zwischen den Pflastersteinen. Theater waren geschlossen, ebenso Spielbanken, öffentliche Tanzhallen und Vergnügungsstätten. Und schließlich wurden viele Wohnhäuser durch die Behörde geschlossen, sobald diese erfuhr, dass sich darin ein von der Pest Befallener befand. Dass die Häuser fortan weder betreten noch verlassen wurden, dafür sorgten Wachleute rund um die Uhr.
Die betroffenen Menschen wiederum, die diese Maßnahme als „sehr grausam und unchristlich“ empfanden, versuchten ihrerseits, die Behörde und Wachleute auszutricksen. In zahlreichen Geschichten berichtet H. F. über die geglückten und gescheiterten Versuche, Wachleute zu bestechen, sie betrunken zu machen, heimlich eine Kopie des Schlüssels anfertigen zu lassen oder im Vorderhaus für die Wachleute ein „Theater der Normalität“ aufzuführen, während man insgeheim durch die aufgebrochene Hintertür entwich. Ob sich damit die Seuche eindämmen ließe, darüber kommt H. F. zu keiner endgültigen Antwort. Zwar rechtfertige das Gemeinwohl das private Missgeschick, doch führten die drohenden Maßnahmen auch dazu, dass man der Behörde nach Möglichkeit verheimliche, wenn jemand im Haus an der Pest erkrankte.
Ein statistischer Blick auf den Tod
H. F. beobachtet die Bewegung der Pest im Raum London, indem er die Zahlen der Toten der einzelnen Pfarrsprengel, wie sie in den Bills of Mortality wöchentlich publiziert wurden, vergleicht. Der Pestzug begann am westlichen Ende der Stadt und bewegte sich nur sehr langsam auf das Zentrum zu. Und noch im Monat Juli stellt H. F. fest: „Wie wir bemerkten, hielt sich die Infektion vorerst mehr in den Außenbezirken; da diese sehr bevölkert waren, besonders von Armen, fand das Übel dort eher seine Opfer als in der City, […].“ Die Unterschicht, die Dienstmädchen, Mägde, Hausdiener usw. waren auch deshalb am gefährdetsten, weil sie für die Herrschaften das Haus verlassen mussten, um einzukaufen. Die Ärmsten und die durch die um sich greifende große Arbeitslosigkeit verarmten Arbeiter, Bedienstete und Handwerker seien immer auf der Straße gewesen, da sie sich keine Vorräte anlegen konnten. Und aus Hunger hätten sie jede, auch die gefährlichste, Arbeit angenommen.

Bills of Mortality, Dezember 1664; Quelle: christies.com
In den nun wöchentlich erscheinenden Bills of Mortality wurden die in den Kirchengemeinden des Stadtgebietes Londons und einer Anzahl angrenzender Kirchgemeinden gesammelten Zahlen der an der Pest Verstorbenen in geordneten und verdichteten Datensätzen präsentierten. Sie erforderten eine neue Wahrnehmung. Im Fundamental Law der 1660 geründeten britischen Gelehrtengesellschaft Royal Society heißt es, bisher habe es den Wissenschaften nicht an der Menge der Beobachtungen und am Scharfsinn ihrer Verwertung gefehlt, sondern daran, die Beobachtungen, aus denen Schlüsse gezogen werden können, so zu erheben, zu kodieren und zu speichern, dass sie akkumuliert und verglichen werden können.
Dies leisteten nun die Bills of Mortality, die H. F. vielfach in das Journal einfügte. Er reflektiert wiederholt die Grenze der Zuverlässigkeit der Zahlen, ohne ihren Wert grundsätzlich in Frage zu stellen. Als im September die Seuche „mit all ihrer Wucht über uns kam, nahm sie uns jede Übersicht.“ Die Menschen starben ungezählt und zahllos: „Man mochte zwar eine wöchentliche Liste aufstellen und sieben- und achttausend oder was einem einfiel draufschreiben; sicher ist nur, dass sie haufenweise starben und haufenweise, und das heißt: ungezählt, begraben wurden.“ H. F. aber hält sich an die offiziellen Angaben, die niedrigere Zahlen ausweisen, als die kolportierten, weshalb er guten Gewissens sagen könne, alles ohne Übertreibung und eher zu mild als zu grell dargestellt zu haben.
Gerüchte, Geschichten
Das Jahr 1665 fiel, mediengeschichtlich gesprochen, in eine Übergangs- und Krisenzeit, die sich durch ein gesteigertes Nachrichtenbedürfnis der Bevölkerung einerseits und ein noch sehr limitiertes Nachrichtenangebot andererseits auszeichnete: Als Wochenblättchen mit lediglich 2 Seiten Umfang erschienen in London The Newes und The Intelligencer; dazu kam, sogar zweimal wöchentlich, The London Gazette, jeweils ein Blatt, das vorne und hinten bedruckt war. Kein Wunder, dass bei diesem überaus beschränkten Zugang zu gedruckten Informationen mündlich zirkulierende Gerüchte und Geschichten auf fruchtbaren Boden fielen.

Die Beerdigung von Pesttoten in einem Massengrab, London 1665, Holzschnitt von 1834; Quelle: welt.de
Der Chronist H. F. liefert eindrückliche Beispiele, so die Geschichte vom Dudelsackpfeifer, die in aller Leute Munde war. Dieser hilflose alte Mann, der sonst des Nachts in den Schenken pfeifend das Mitleid der Gäste erregte, die ihm manchmal auch ein paar Pfennige gaben, hatte während der Pest eine sehr schlechte Zeit. Fast verhungert schlief er eines Abends an einem Toreingang ein, an dem man für gewöhnlich die Leichen aus den Häusern hinlegte, damit sie von den Totengräbern mitgenommen würden. Diese luden ihn tatsächlich auf den Totenkarren; erst kurz bevor man den Karren mit seinem Inhalt in die Grube kippte, erwachte er. „Aber ich bin doch wohl nicht tot, oder?“ sagte der Dudelsackpfeifer, was die Totengräber ein wenig zum Lachen brachte. Sie halfen ihm herunter vom Wagen und der arme Kerl ging seines Weges.
Dieser Geschichte vom karnevalesken Widerstreit zwischen Tod und Leben eignet hier die utopische Gewissheit, man werde die Pest überleben. Es ist das Gelächter wider das große Sterben. Gleich einer Wandersage zirkulierte die Geschichte deshalb auch in Wien im Pestjahr 1679. Es ist der schwer betrunkene Sackpfeifer namens Augustin, der, von den „Ziehknechten“ für tot gehalten, in die Grube geworfen wird, bis ihm die Totengräber im letzten Moment heraus halfen, wie Johann Constantin Feige die Geschichte in seinem 1693 erschienenen Werk Wunderbahrer Adlers-Schwung erzählt. Diesem Augustin wurde auch das berühmte Lied „O, du lieber Augustin“ zugeschrieben, in dem es heißt: „O, du lieber Augustin, / ’s Geld is’ hin, ’s Mensch [das Mädchen] is’ hin,/ o, du lieber Augustin, Alles ist hin!“ Und: „Wär’ schon des Lebens quitt,/ Hätt’ ich nit noch Kredit“. Und weiter: „Jeden Tag war sonst ein Fest,/ Jetzt aber hab’n wir die Pest!“ Und die fünfte und letzte Strophe beginnt mit: „O, du lieber Augustin,/ Leg’ nur ins Grab Dich hin, […].“
Urban legends und fake news
Im Journal kommt H. F. auch auf ein besonderes Thema zu sprechen: „Man erzählte sich damals viele schreckliche Geschichten von Pflegerinnen und Wachleuten, die nach den Sterbenden sahen; ich meine damit angestellte Pflegerinnen [nurses], welche die Angesteckten zu versorgen hatten; nämlich, dass sie diese rücksichtslos behandelten, sie verhungern oder ersticken ließen oder auf andere Weise ihr Ende beschleunigten, mit andern Worten, sie umbrachten“. Der skeptische Ich-Erzähler hält es für möglich, dass solche Dinge vorgekommen seien, jedoch nicht so häufig, wie die umlaufenden Geschichten dies suggerierten. Denn es gab zu viele solcher Geschichten. Man erzählte H. F. von einer Pflegerin in einem bestimmten Haus, die auf das Gesicht eines Sterbenden, den sie versorgte, ein nasses Tuch gelegt und ihn auf diese Weise umgebracht habe.
H. F. hatte seine Zweifel an dieser Geschichte, die er vielfach hörte, aber „als bloße Geschichten betrachte[te], mit denen sich die Leute immerfort gegenseitig ängstigten“. Denn „zum ersten, wo immer wir sie hörten, waren sie am andern Ende der Stadt passiert, entgegengesetzt oder möglichst weit weg von der Stelle, wo man sie hörte. Hörte man sie in Whitechapel, war es in St. Giles oder Westminster oder Holborn oder sonstwo in jener Gegend der Stadt geschehen. Hörte man aber an jenem Ende der Stadt davon, dann war es wieder in Whitechapel, der Minories oder in der Gemeinde Cripplegate geschehen. Hörte man’s in der Altstadt, nun, dann war’s in Southwark passiert; und erfuhr man’s in Southwark, dann in der Altstadt – und so weiter.“
Zum zweiten fiel ihm auf, dass die Einzelheiten solcher Geschichte sich glichen, wo immer ihr Schauplatz auch gewesen sein sollte. Immer wurde ein nasser gefalteter Lappen auf das Gesicht eines Sterbenden gepresst oder eine junge Dame erstickt; daraus ergebe sich eindeutig, mindestens seiner Meinung nach, dass es sich bei all dem mehr um Märchen als um Tatsachen handelte. Es war, mit anderen Worten, eine der ersten urban legends, die man als Früh- und Keimform der fake news bezeichnen könnte. Die Diskussion über Wahrheit oder Lüge sind bei den urban legends Teil der Erzählung, und das trifft auch bei Defoes Journal zu, auch wenn ihm dafür nur das Wort „Tale“ („Erzählung“) zur Verfügung steht. Der Literaturwissenschaftler Watson Nicholson, der die zahlreichen historischen Quellen von Defoes Journal zusammenstellte, konnte auch die Quelle der „wicked nurses“ nachweisen. Sie findet sich in der von Nathaniel Hodges verfassten Schrift Loimologia, or, an Historical Account of the Plague in London in 1665, die 1672 zuerst in Latein und 1720, zwei Jahre vor Defoes Journal, in englischer Sprache erschienen war. Nach Nicholson ist die Tötungsart sogar schon im Alten Testament, im 2. Buch der Könige, Kapitel 8, Vers 15 belegt – „Des andern Tages aber nahm er die Bettdecke und tauchte sie in Wasser und breitete sie über sein Angesicht; da starb er, und Hasael ward König an seiner Statt“ – und harrte also nur der Aktualisierung im London der Pest.
Diese urban legend jedenfalls handelt von der Figur der Krankenwärterin als der Feindin im Hause. Die „nurse“ wird gemeinhin assoziiert mit mütterlichen Eigenschaften; ihrer Hilfe und Pflege wird der hilflose Kranke anvertraut. Diese Situation des Vertrauens kippt hier aber in eine des Misstrauens. In Zeiten der Pest löste die soziale Vermischung zwischen den „nurses“ aus der Unterschicht, die die kranke „Herrschaft“ aus dem Mittelstand und der Oberschichte pflegten, offenbar extreme Ängste aus – und produzierte gefährliche Gerüchte.
Und danach?
Daniel Defoe alias H.F. stellte am Schluss des Romans fest, dass der Umgang mit dem nahen Tod die Londoner, die damals in unzählige religiöse Gruppen, Glaubensrichtungen und Sekten gespalten waren, toleranter gemacht habe. Als die Pest immer weniger Tote forderte, fielen sich auch Leute, die sich nicht kannten, auf der Straße gar in die Arme. Der Chronist wünschte, er könnte sagen, „dass so wie sich das Angesicht der Stadt erneuert hatte, auch die Lebensart der Leute eine Auffrischung erfuhr“ – doch er musste enttäuscht feststellen: Nach der Pest verhielten sich die Londoner im allgemeinen ebenso wie vorher – eine Veränderung war kaum festzustellen.