Was verraten Vintage-Design, Shabby Chic und Mid Century Style über unsere Zeit? In einer zunehmend heterogenen Gesellschaft scheinen die Möbel aus der Mitte des 20. Jahrhunderts – Versatzstücke einer gemäßigten Moderne – die letzten Trostspender im Privaten zu sein.

  • Markus Caspers

    Markus Caspers ist Design­wissen­schaftler und Gestalter. Er ist Pro­fessor für Gestaltungs­praxis und -theorie an der Hoch­schule Neu-Ulm und lehrt Design­soziologie an der Folkwang Universität der Künste in Essen.

Vom Einrichtungs- und Lifestyle-Magazin bis zur Bild­strecke in der Wochen­zei­tung begegnet man einem Typus von zeit­ge­mäßem Wohnen, der mit ‚Vintage‘ umschrieben wird und auf ‚antiken‘ Möbeln basiert. Scheint sich zunächst eine große Viel­falt an ausge­wählten Objekten und ihrer Kombi­na­tion auf den Fotos auszu­breiten, erschließt sich nach einiger Zeit der Code des „BoHo-Rockabilly-Mid Century-Bauhaus“ (wie ein MegaTag bei einem Web-Auktionshaus es so schön nennt). – Um welchen Fundus dreht sich der Hype?

Mid Century Moder­nism, 1955; Quelle: midcenturyhomestyle.com

Ameri­ka­ni­sches Sperr­holz, skan­di­na­vi­sche Side­boards, fran­zö­si­sches Press­blech – die Entwürfe einer heroi­schen Moderne, eines abge­schwächten Funk­tio­na­lismus, des soge­nannten Inter­na­tional Style, stellen einen Groß­teil des Inven­tars dieser Einrich­tungs­kultur. Aber was geschieht hier eigent­lich? Ober­fläch­lich betrachtet handelt es sich bei Vintage – Shabby Chic – Mid Century Style um eine Mode, ein vergäng­li­ches Set von Wohn­in­ventar, das auf eine beson­dere Art und Weise arran­giert und insze­niert wird. Je nach Milieu und Kauf­kraft schwankt das Pendel von shabby zu chic, von einem aufge­räumten Arran­ge­ment zu einem kunst­voll arran­gierten Chaos. Rück­be­züge auf vergan­gene Epochen hat es im Wohn­be­reich seit den 1920er-Jahren gegeben; neben dem jeweils zeit­glei­chen, zeit­ge­nös­si­schen Stil wurden histo­ri­sche Möbel inte­griert oder neue Möbel in histo­ri­schen Formen produ­ziert. Inter­es­sant ist jedoch der Blick auf die Formen und die mit ihnen verbun­denen Epochen: Es ist eben nicht Louis XIV, nicht Chip­pendale; es sind nicht die 1970er-Jahre, die uns heute begegnen. Es ist ein beson­derer Mix aus den Jahren 1935 bis 1965, mit Schwer­punkt auf den 1950ern.

Nun könnte man argu­men­tieren, dass den meisten Usern und Besit­zern solcher Gegen­stände die Entstehungs-, Aneignungs- und Wirkungs­ge­schichte der jewei­ligen Dinge unbe­kannt und ziem­lich schnurz sein dürfte, ja, dass der Kauf nach den Regeln einer Ästhetik erfolgte, die seit einigen Jahren in rele­vanten Medien in Wort und Bild formu­liert wird. Selbst wenn dem so ist, bleibt die Frage, warum es eben dieses Set von Objekten ist und nicht ein anderes. Der Fundus ist ja uner­mess­lich: Vom Jugend­stil über Art Deco, Stream­line bis hin zum Space-Design der späten Sech­ziger Jahre stehen unzäh­lige Objekte und Arran­ge­ments zur Verfü­gung, von vorin­dus­tri­ellen Epochen ganz zu schweigen.

Kommu­ni­ka­tion mittels Form

Nimmt man den Begriff Design ernst, dann bezeichnet er die indus­tri­elle Form­ge­bung von Gegen­ständen und Dienst­leis­tungen bei gleich­zeitig inten­dierter Kommu­ni­ka­tion mittels der Form. Die Form der Dinge – ganz gleich aus welcher Epoche – spricht zu uns; sie erzählt über die Motive, die Ideen, die Träume einer Gesell­schaft, einer Gruppe, einer Schicht. Viele dieser Ideen waren projektiv auf eine Zukunft gerichtet, die entweder indi­vi­duell oder kollektiv ein besseres Leben versprach; das konnten soziales Pres­tige, mate­ri­eller Wohl­stand, Zeit­gleich­heit in einer Epoche sein. Ob Jugend­stil oder Space Age, Art Déco oder Inter­na­tional Style: Sowohl die Zeit­ge­nossen als auch die Nach­welt wussten, was mit den Formen gemeint war. Die Utopie einer egali­tären und soli­da­ri­schen Gesell­schaft spie­gelte sich ansatz­weise in den Kunst­stof­f­ob­jekten der 1960er-Jahre: Ein Werk­stoff, der keine Wertig­keit sugge­rierte, dessen Produk­tion große Stück­zahlen erfor­derte und alle auf ein Level hob: Du bist modern, wir sind modern, auf in die Zukunft!

Mid Century Moder­nism. Die Möbel sind in den 1950er entworfen, aber neu produ­ziert; Quelle: utilitydesign.co.uk

Der aktu­elle Vintage-Style geht über das post­mo­derne Spiel mit Zitaten und Verweisen hinaus. Design hat hier nichts mehr mit einer Formung von aktu­ellen Lebens- und Arbeits­welten zu tun, sondern wird zu einer stillen Währung. Die Insze­nie­rung von Wohn­welten, die manchmal den Arran­ge­ments in Arbeits- oder Lebens­welt­mu­seen gleicht, ist das Simu­lakrum eines geglückten Lebens, das im Jetzt nicht mehr möglich scheint: Job, Geld, Bezie­hung – alles ist unsi­cher, volatil. Wie schön, wenn dann daheim der Eames-Schaukelstuhl aus Kunst­stoff, Stahl und Holz wartet, in dem das ökolo­gisch einwand­freie Schaf­fell nach dem 12-Stunden-Tag in einem befris­teten Arbeits­ver­hältnis ohne Zeit­er­fas­sung und Über­stun­den­aus­gleich zum Entspannen lockt. Die Indus­trie­ge­sell­schaft ist passé: Will­kommen im Fabrik­loft mit der Werk­bank als Esstisch und den Sitz­bänken aus gemufftem Stahl­rohr! Der neue Histo­rismus zieht mit seinem eklek­ti­schen Ansatz dem einzelnen Objekt das histo­ri­sche Mark aus dem Gestell und verwan­delt histo­ri­sche Massen­ware in ausge­suchte Preziosen, deren postu­lierte Beson­der­heit eine ästhe­ti­sche Rendite abwirft: die Nobi­li­tie­rung des Gegen­stands als Klas­siker und ihrer Besitzer als Menschen mit Geschmack.

Die Designs aus den Jahren 1945 bis 1965 erin­nern aber auch daran, dass es offen­sicht­lich einmal Zeiten gab, in denen die Gegen­stände eine positiv konno­tierte Zukunft verspra­chen, oder, um es etwas pathe­tisch im Duktus der Frank­furter Schule zu formu­lieren: in denen die Objekte eine Vorschau der Utopie spei­cherten. Diese Utopie war hete­rogen: Sie konnte einfach nur mate­ri­ellen Zuge­winn bedeuten, ausge­drückt in einer luxu­rie­renden Ober­flä­chen­be­ar­bei­tung; sie konnte tech­no­lo­gi­schen Fort­schritt im Sinne des Raum­zeit­al­ters evozieren, ausge­drückt durch Mate­ria­lien und Bear­bei­tungs­tech­niken, die neu und uner­hört waren; sie konnte auch eine soziale und kultu­relle Utopie trans­por­tieren, die besagte, dass gute Dinge nun für alle da und erschwing­lich seien, ausge­drückt durch die indus­tri­ellen und nicht mehr kunst­hand­werk­lich herge­stellten Objekte.

Schlei­fen­be­we­gungen

Würde Roland Barthes noch leben, er hätte seine Freude an den Alltags­my­then des „Danish Mid-Century“ und der Eames’schen Möbel gehabt. Denn es ist eine Schlei­fen­be­we­gung, die die Objekte des aktu­ellen Vintage-Trends mitein­ander verbindet: Ihnen ist gemein, dass sie zum größten Teil in einer Umbruch­phase entworfen wurden, als neue Mate­ria­lien und neue Methoden indus­tri­eller Ferti­gung zunächst in hand­werk­li­cher Manier auspro­biert wurden. Für ihre ersten Schicht­holz­möbel bauten die Eames eine eigene, aben­teu­er­liche Appa­ratur; die gebo­genen Sperr­holz­platten, aus denen sie in den 1940er Jahren medi­zi­ni­sche Schienen und Stützen für die U.S. Army produ­ziert hatten, lieferten den Beweis, dass ein einfa­ches, leichtes und güns­tiges Mate­rial sehr divers einzu­setzen war. Gedacht waren die Entwürfe – ob Möbel oder ganze Häuser – immer als Proto­typen für eine dereinst statt­fin­dende indus­tri­elle Massen­pro­duk­tion, die die Objekte so günstig machen würde, dass sie sich jeder leisten kann (einer der ersten Wett­be­werbe, bei denen Charles und Ray Eames ausge­zeichnet wurden, hieß „Inter­na­tional Compe­ti­tion in Low-cost Furni­ture Design“, 1948).

Vintage Style 2017: Däni­sches Side­board, Acapulco Chair; Quelle: deavita.com

Die zurück­ge­nom­menen Formen des däni­schen Möbel­de­signs der Nach­kriegs­jahre spei­chern eine verhal­tene Moder­nität, die nicht so rechtwinklig-nüchtern wie die voran­ge­gan­genen Stahl­rohr­kom­moden des Bauhaus’ daher­kommt, sondern durch schräge, schlanke Bein­chen und dunkle, warme Holz­töne einen Mix erzeugt, der heute eine nost­al­gi­sche Moderne evoziert. Auch wenn die däni­schen Möbel und die Stühle der Eames nicht in den Stück­zahlen von Billy-Regalen produ­ziert wurden, sie waren weit verbreitet und nicht elitär. Die Eames-Sitzschale aus GFK (Fiber­glas­matte) möblierte Audi­to­rien und Behör­den­stuben. Die däni­schen Side­boards waren Bestand­teil des Mobi­liars in unge­zählten Mittelschicht-Wohnungen zwischen 1958 und 1970. Dann kamen neue Trends, neue Werk­stoffe – vor allem Kunst- und Verbund­stoffe – und die Mid-Century Moderne wurde unzeit­gemäß. Auf die massen­hafte Verbrei­tung folgten massen­hafte Entsor­gung, Austausch und zwangs­läu­fige Verknap­pung bei gleich­zeitig einher­ge­hender Wieder­ent­de­ckung und Wert­schät­zung durch neue Gene­ra­tionen. Die Schlei­fen­be­we­gung kehrte fast an ihren Ausgangs­punkt zurück: aus den progressiv-modernistisch aufge­la­denen Proto­typen der frühen 1950er Jahre sind nost­al­gisch aufge­la­dene Retro­typen der späten 2010er Jahre geworden.

Epochenmix

Vintage Style 2017; Quelle: arteyecandy.com

Eine durch­gän­gige Stilistik des Wohnens und Lebens, wie noch bis in die 70er-Jahre gängige Praxis, ist heute passé. Erstens, weil die Lebens­kon­zepte nicht mehr von einer Stunde Null ausgehen, in der eine neue Wohnung oder ein Haus bezogen werden, die zeit­gleich und zeit­ge­nös­sisch in einem Guss ausge­stattet werden müssen. Zwei­tens, weil eine durch­gän­gige Ästhetik oder Stilistik, wie die Schleif­lack­ober­flä­chen der 70er oder Land­hauspa­neele der 90er Jahre, heute als spießig, klein­bür­ger­lich, miefig gelten. Ein Material- und Epochenmix sugge­riert Erha­ben­heit über Zeit­läufte, Konti­nente, Kulturen, er vermit­telt Zeitgenossen- und Kenner­schaft durch Über­blick. Zudem würde man sich stilis­tisch fest­legen, und damit auch ideo­lo­gisch, wenn man das Habitat durch­gängig wie in voran­ge­gan­genen Jahr­zehnten gestaltete.

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So erklären sich die nur scheinbar zufällig entstan­denen Kurio­si­tä­ten­ka­bi­nette, in denen sorgsam zusam­men­ge­tra­gene Einzel­stücke im Ensemble so tun, als könnte hier eine große Erzäh­lung statt­finden. Statt exoti­scher Maske oder Gift­pfeil wie in groß­bür­ger­li­chen Wohnungen der ersten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts sollen heute Sinn­sprüche für Ordnung in einem unor­dent­li­chen, weil durch die Kapriolen des Kapi­tals nicht mehr durch­schau­baren Leben sorgen. Es ist eine Jagd nach gelie­henen Iden­ti­täten: In einer zuneh­mend hete­ro­genen Gesell­schaft scheinen die tradierten Formen einer als gemä­ßigt utopisch wahr­ge­nom­menen Moderne die letzten Trost­spender im Privaten zu sein. Wo der Abstieg droht, verspre­chen die Gegen­stände aus den heilen Welten der Aufbau- und Wirt­schafts­wun­der­jahre eine Stabi­lität, die man bei der Eltern­ge­nera­tion spießig gefunden hätte, die aber heute akzep­tiert ist, weil sie an Zeiten erin­nert, in denen die Welt und die Wirt­schaft noch klar und bere­chenbar schienen.