Vom Einrichtungs- und Lifestyle-Magazin bis zur Bildstrecke in der Wochenzeitung begegnet man einem Typus von zeitgemäßem Wohnen, der mit ‚Vintage‘ umschrieben wird und auf ‚antiken‘ Möbeln basiert. Scheint sich zunächst eine große Vielfalt an ausgewählten Objekten und ihrer Kombination auf den Fotos auszubreiten, erschließt sich nach einiger Zeit der Code des „BoHo-Rockabilly-Mid Century-Bauhaus“ (wie ein MegaTag bei einem Web-Auktionshaus es so schön nennt). – Um welchen Fundus dreht sich der Hype?

Mid Century Modernism, 1955; Quelle: midcenturyhomestyle.com
Amerikanisches Sperrholz, skandinavische Sideboards, französisches Pressblech – die Entwürfe einer heroischen Moderne, eines abgeschwächten Funktionalismus, des sogenannten International Style, stellen einen Großteil des Inventars dieser Einrichtungskultur. Aber was geschieht hier eigentlich? Oberflächlich betrachtet handelt es sich bei Vintage – Shabby Chic – Mid Century Style um eine Mode, ein vergängliches Set von Wohninventar, das auf eine besondere Art und Weise arrangiert und inszeniert wird. Je nach Milieu und Kaufkraft schwankt das Pendel von shabby zu chic, von einem aufgeräumten Arrangement zu einem kunstvoll arrangierten Chaos. Rückbezüge auf vergangene Epochen hat es im Wohnbereich seit den 1920er-Jahren gegeben; neben dem jeweils zeitgleichen, zeitgenössischen Stil wurden historische Möbel integriert oder neue Möbel in historischen Formen produziert. Interessant ist jedoch der Blick auf die Formen und die mit ihnen verbundenen Epochen: Es ist eben nicht Louis XIV, nicht Chippendale; es sind nicht die 1970er-Jahre, die uns heute begegnen. Es ist ein besonderer Mix aus den Jahren 1935 bis 1965, mit Schwerpunkt auf den 1950ern.
Nun könnte man argumentieren, dass den meisten Usern und Besitzern solcher Gegenstände die Entstehungs-, Aneignungs- und Wirkungsgeschichte der jeweiligen Dinge unbekannt und ziemlich schnurz sein dürfte, ja, dass der Kauf nach den Regeln einer Ästhetik erfolgte, die seit einigen Jahren in relevanten Medien in Wort und Bild formuliert wird. Selbst wenn dem so ist, bleibt die Frage, warum es eben dieses Set von Objekten ist und nicht ein anderes. Der Fundus ist ja unermesslich: Vom Jugendstil über Art Deco, Streamline bis hin zum Space-Design der späten Sechziger Jahre stehen unzählige Objekte und Arrangements zur Verfügung, von vorindustriellen Epochen ganz zu schweigen.
Kommunikation mittels Form
Nimmt man den Begriff Design ernst, dann bezeichnet er die industrielle Formgebung von Gegenständen und Dienstleistungen bei gleichzeitig intendierter Kommunikation mittels der Form. Die Form der Dinge – ganz gleich aus welcher Epoche – spricht zu uns; sie erzählt über die Motive, die Ideen, die Träume einer Gesellschaft, einer Gruppe, einer Schicht. Viele dieser Ideen waren projektiv auf eine Zukunft gerichtet, die entweder individuell oder kollektiv ein besseres Leben versprach; das konnten soziales Prestige, materieller Wohlstand, Zeitgleichheit in einer Epoche sein. Ob Jugendstil oder Space Age, Art Déco oder International Style: Sowohl die Zeitgenossen als auch die Nachwelt wussten, was mit den Formen gemeint war. Die Utopie einer egalitären und solidarischen Gesellschaft spiegelte sich ansatzweise in den Kunststoffobjekten der 1960er-Jahre: Ein Werkstoff, der keine Wertigkeit suggerierte, dessen Produktion große Stückzahlen erforderte und alle auf ein Level hob: Du bist modern, wir sind modern, auf in die Zukunft!

Mid Century Modernism. Die Möbel sind in den 1950er entworfen, aber neu produziert; Quelle: utilitydesign.co.uk
Der aktuelle Vintage-Style geht über das postmoderne Spiel mit Zitaten und Verweisen hinaus. Design hat hier nichts mehr mit einer Formung von aktuellen Lebens- und Arbeitswelten zu tun, sondern wird zu einer stillen Währung. Die Inszenierung von Wohnwelten, die manchmal den Arrangements in Arbeits- oder Lebensweltmuseen gleicht, ist das Simulakrum eines geglückten Lebens, das im Jetzt nicht mehr möglich scheint: Job, Geld, Beziehung – alles ist unsicher, volatil. Wie schön, wenn dann daheim der Eames-Schaukelstuhl aus Kunststoff, Stahl und Holz wartet, in dem das ökologisch einwandfreie Schaffell nach dem 12-Stunden-Tag in einem befristeten Arbeitsverhältnis ohne Zeiterfassung und Überstundenausgleich zum Entspannen lockt. Die Industriegesellschaft ist passé: Willkommen im Fabrikloft mit der Werkbank als Esstisch und den Sitzbänken aus gemufftem Stahlrohr! Der neue Historismus zieht mit seinem eklektischen Ansatz dem einzelnen Objekt das historische Mark aus dem Gestell und verwandelt historische Massenware in ausgesuchte Preziosen, deren postulierte Besonderheit eine ästhetische Rendite abwirft: die Nobilitierung des Gegenstands als Klassiker und ihrer Besitzer als Menschen mit Geschmack.
Die Designs aus den Jahren 1945 bis 1965 erinnern aber auch daran, dass es offensichtlich einmal Zeiten gab, in denen die Gegenstände eine positiv konnotierte Zukunft versprachen, oder, um es etwas pathetisch im Duktus der Frankfurter Schule zu formulieren: in denen die Objekte eine Vorschau der Utopie speicherten. Diese Utopie war heterogen: Sie konnte einfach nur materiellen Zugewinn bedeuten, ausgedrückt in einer luxurierenden Oberflächenbearbeitung; sie konnte technologischen Fortschritt im Sinne des Raumzeitalters evozieren, ausgedrückt durch Materialien und Bearbeitungstechniken, die neu und unerhört waren; sie konnte auch eine soziale und kulturelle Utopie transportieren, die besagte, dass gute Dinge nun für alle da und erschwinglich seien, ausgedrückt durch die industriellen und nicht mehr kunsthandwerklich hergestellten Objekte.
Schleifenbewegungen
Würde Roland Barthes noch leben, er hätte seine Freude an den Alltagsmythen des „Danish Mid-Century“ und der Eames’schen Möbel gehabt. Denn es ist eine Schleifenbewegung, die die Objekte des aktuellen Vintage-Trends miteinander verbindet: Ihnen ist gemein, dass sie zum größten Teil in einer Umbruchphase entworfen wurden, als neue Materialien und neue Methoden industrieller Fertigung zunächst in handwerklicher Manier ausprobiert wurden. Für ihre ersten Schichtholzmöbel bauten die Eames eine eigene, abenteuerliche Apparatur; die gebogenen Sperrholzplatten, aus denen sie in den 1940er Jahren medizinische Schienen und Stützen für die U.S. Army produziert hatten, lieferten den Beweis, dass ein einfaches, leichtes und günstiges Material sehr divers einzusetzen war. Gedacht waren die Entwürfe – ob Möbel oder ganze Häuser – immer als Prototypen für eine dereinst stattfindende industrielle Massenproduktion, die die Objekte so günstig machen würde, dass sie sich jeder leisten kann (einer der ersten Wettbewerbe, bei denen Charles und Ray Eames ausgezeichnet wurden, hieß „International Competition in Low-cost Furniture Design“, 1948).

Vintage Style 2017: Dänisches Sideboard, Acapulco Chair; Quelle: deavita.com
Die zurückgenommenen Formen des dänischen Möbeldesigns der Nachkriegsjahre speichern eine verhaltene Modernität, die nicht so rechtwinklig-nüchtern wie die vorangegangenen Stahlrohrkommoden des Bauhaus’ daherkommt, sondern durch schräge, schlanke Beinchen und dunkle, warme Holztöne einen Mix erzeugt, der heute eine nostalgische Moderne evoziert. Auch wenn die dänischen Möbel und die Stühle der Eames nicht in den Stückzahlen von Billy-Regalen produziert wurden, sie waren weit verbreitet und nicht elitär. Die Eames-Sitzschale aus GFK (Fiberglasmatte) möblierte Auditorien und Behördenstuben. Die dänischen Sideboards waren Bestandteil des Mobiliars in ungezählten Mittelschicht-Wohnungen zwischen 1958 und 1970. Dann kamen neue Trends, neue Werkstoffe – vor allem Kunst- und Verbundstoffe – und die Mid-Century Moderne wurde unzeitgemäß. Auf die massenhafte Verbreitung folgten massenhafte Entsorgung, Austausch und zwangsläufige Verknappung bei gleichzeitig einhergehender Wiederentdeckung und Wertschätzung durch neue Generationen. Die Schleifenbewegung kehrte fast an ihren Ausgangspunkt zurück: aus den progressiv-modernistisch aufgeladenen Prototypen der frühen 1950er Jahre sind nostalgisch aufgeladene Retrotypen der späten 2010er Jahre geworden.
Epochenmix

Vintage Style 2017; Quelle: arteyecandy.com
Eine durchgängige Stilistik des Wohnens und Lebens, wie noch bis in die 70er-Jahre gängige Praxis, ist heute passé. Erstens, weil die Lebenskonzepte nicht mehr von einer Stunde Null ausgehen, in der eine neue Wohnung oder ein Haus bezogen werden, die zeitgleich und zeitgenössisch in einem Guss ausgestattet werden müssen. Zweitens, weil eine durchgängige Ästhetik oder Stilistik, wie die Schleiflackoberflächen der 70er oder Landhauspaneele der 90er Jahre, heute als spießig, kleinbürgerlich, miefig gelten. Ein Material- und Epochenmix suggeriert Erhabenheit über Zeitläufte, Kontinente, Kulturen, er vermittelt Zeitgenossen- und Kennerschaft durch Überblick. Zudem würde man sich stilistisch festlegen, und damit auch ideologisch, wenn man das Habitat durchgängig wie in vorangegangenen Jahrzehnten gestaltete.
So erklären sich die nur scheinbar zufällig entstandenen Kuriositätenkabinette, in denen sorgsam zusammengetragene Einzelstücke im Ensemble so tun, als könnte hier eine große Erzählung stattfinden. Statt exotischer Maske oder Giftpfeil wie in großbürgerlichen Wohnungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollen heute Sinnsprüche für Ordnung in einem unordentlichen, weil durch die Kapriolen des Kapitals nicht mehr durchschaubaren Leben sorgen. Es ist eine Jagd nach geliehenen Identitäten: In einer zunehmend heterogenen Gesellschaft scheinen die tradierten Formen einer als gemäßigt utopisch wahrgenommenen Moderne die letzten Trostspender im Privaten zu sein. Wo der Abstieg droht, versprechen die Gegenstände aus den heilen Welten der Aufbau- und Wirtschaftswunderjahre eine Stabilität, die man bei der Elterngeneration spießig gefunden hätte, die aber heute akzeptiert ist, weil sie an Zeiten erinnert, in denen die Welt und die Wirtschaft noch klar und berechenbar schienen.