
Zu den zentralen Forderungen der nationalen und internationalen Gehörlosenbewegung gehört die Aufarbeitung der Geschichte gehörloser Menschen und die Entschuldigung für vergangenes Unrecht. In der Schweiz entschuldigten sich die Gehörlosenschulen und der Hörbehindertenverband Sonos jüngst für die Diskriminierung der Gebärdensprache und die gravierenden Folgen für gehörlose Menschen. Doch der Stellenwert der Gebärdensprache bleibt in der Schweiz umstritten: Nur wenige Tage nach dieser Entschuldigung publizierte der Bundesrat einen Bericht, in dem er sich zur rechtlichen Anerkennung der Gebärdensprache äusserte. Dazu war er in einem 2019 eingereichten Postulat von Parlamentarier:innen aufgefordert worden. In diesem Bericht erkennt der Bundesrat zwar das Unrecht an, das gehörlose Menschen in der Schweiz erfahren haben, und hält fest, dass zahlreiche zu den Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen gehören. Allerdings lehnt der Bundesrat eine rechtliche Anerkennung der Gebärdensprache ab und argumentiert, diese sei „kein Allheilmittel“ gegen die Benachteiligung von gehörlosen Menschen.

Artikulationsklasse, Taubstummenanstalt St. Gallen (um 1915)
in: Schweizerisches Sozialarchiv, F 5153-Fx-06-112.
Tatsächlich bilden eine Reihe von weiteren Massnahmen, die primär in Bereichen von Bildung, Arbeitsmarkt und Gesundheitsversorgung greifen müssen, eine wichtige Voraussetzung, um die Diskriminierung gegenüber gehörlosen Menschen abzubauen. Doch es geht eben auch, und das räumt der Bericht des Bundesrates selbst ein, um Symbolpolitik. Die rechtliche Anerkennung der Gebärendsprache bedeutet ein Zeichen der Wertschätzung der Identität und Kultur von gehörlosen Menschen. Sie ist auch ein Bekenntnis zu einer vielfältigen Schweiz. Die Geschichte zeigt, dass genau hier der Dreh- und Angelpunkt liegt, um fundamentale Rechte von Gehörlosen zukünftig besser zu achten. Denn es waren letztlich die engen und rigiden Vorstellungen darüber, wie Schweizer Bürger:innen zu sein und zu kommunizieren hatten, die die Zwangsmassnahmen gegenüber gehörlosen Menschen begründeten und ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert haben.
Unterrichtssprache für gehörlose Kinder
Besonders virulent wurde – und wird teilweise bis heute – die Auseinandersetzung geführt, in welcher Sprache gehörlose Kinder unterrichtet werden sollen. Als im frühen 19. Jahrhundert in der Schweiz, wie in zahlreichen anderen Ländern, die ersten „Taubstummenanstalten“ eröffnet wurden, war noch nicht entschieden, welche Sprache im Mittelpunkt des Unterrichts stehen sollte. Einige Anstaltsleiter setzten sich dafür ein, dass gehörlose Kinder in der jeweiligen Gebärdensprache unterrichtet werden. Andere vertraten die Ansicht, gehörlose Kinder müssten primär die gesprochene Sprache lernen. Aus Sicht der Oralist:innen – also den Befürworter:innen des Lippenlesens und der Lautsprache – war Gebärdensprache ein minderwertiges Kommunikationssystem. Diese Sicht wurde 1880 von „internationalen Taustummenlehrerkongress“ in Mailand bekräftigt, an dem kaum gehörlose Menschen beteiligt waren.

Seraphischer Kinderfreund: Zweimonatsschrift des Seraphischen Liebeswerkes, 53. Jg., 1950, Nr. 4, S. 60
Die Folgen des Mailänder-Beschlusses waren einschneidend: In der Schweiz, wie in zahlreichen anderen Ländern, wurde die Gebärdensprache aus den Gehörlosenschulen verbannt. Die gehörlosen Kinder hatten sich nun ausschliesslich im Lippenlesen und in der oralen Artikulation zu üben. Vielfach wandten Lehrende Unterrichtsmethoden an, die auf Zwang und physischer Gewalt beruhten. Die Kinder mussten ihre Hände hinter dem Rücken und in Kartonrohren verstecken, damit sie nicht gebärdeten. Dies war für zahlreiche Gehörlose eine traumatische Erfahrung, da sie sich ihrer Muttersprache beraubt fühlten. Im Mittelpunkt der Gehörlosenausbildung stand ein rigoroser Anpassungsdruck an die Mehrheitsgesellschaft. Dabei waren Vorstellungen wegleitend, wonach die Beherrschung einer gesprochenen Landessprache als Schlüssel zur Integration in den Schweizer Nationalstaat fungierte. Durchgesetzt wurde, wie Schweizer Bürger:innen zu sein hatten: nämlich lautsprachlich kommunizierend.
In der Zwischenkriegs- und Kriegszeit nahm der Anpassungsdruck auf Gehörlose weiter zu. Die Schweiz verschärfte Massnahmen, Menschen aus der Gesellschaft auszuschliessen, die Normvorstellungen von wünschenswerten Bürger:innen nicht entsprachen. Dies zeigt sich an der Ausweitung der fürsorgerischen Zwangsnahmen, wozu auch eugenische Interventionen zählten. In den 1930er Jahren zeigte sich die Gehörlosenfürsorge von verschiedenen Kantonen intensiv bestrebt, insbesondere gehörlose Frauen von Familiengründungen abzubringen. Ebenso sind Fälle von Zwangssterilisationen dokumentiert.
Kritische Interventionen: Die Gehörlosenbewegung
Diese Zwangsmassnahmen blieben allerdings nicht unwidersprochen. Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert hatte sich eine internationale Gehörlosenbewegung formiert, die die Mailänder-Beschlüsse kritisierte. Allerdings verlor diese bald an Einfluss. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg fand die Gehörlosen-Community wieder zu einer internationalen Vernetzung zurück. 1951 gründeten sie die World Federation of Deaf. Diese bildete ein wichtiges Gremium, um gehörlosen Menschen vermehrt als politische Subjekte sichtbar zu machen.

Hörunterricht, 1954
in: Gehörlosen-Zeitung, Nr. 17, 1984, 78. Jg., S. 122.
Eine nachhaltige Veränderung im Umgang mit gehörlosen Menschen erreichte aber erst die Gehörlosenbewegungen, die sich weltweit seit den 1970er Jahren formierte. Das Recht auf Gebärdensprache war dabei eine Kernforderung der Gehörlosenaktivist:innen. In verschiedenen Ländern lehnten sie sich den Protestformen Neuer Sozialen Bewegungen an und kämpften hartnäckig für den Abbau von rechtlichen Diskriminierungen. Die Gehörlosenaktivist:innen erzielten, so auch in der Schweiz, zahlreiche Erfolge, so beispielsweise einen Ausbau des Dolmetschungsangebotes, bessere Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten für Gehörlose und einen breiteren Zugang zu Medien und Kommunikationsmitteln.

SGB Nachrichten, 4. Jg., 1991, Nr. 24.
Im Kontext der Emanzipationsbewegung von Gehörlosen wurden schliesslich auch die Kategorisierungen von „Behinderung“ versus „Normalität“ in Frage gestellt. Zahlreiche Gehörlose begannen, die Bezeichnung als „behindert“ abzulehnen. Sie wiesen darauf hin, dass sie mit der Gebärdensprache über ein vollständig ausgebildetes Kommunikationssystem verfügen. Sind Gehörlose „behindert“? Oder sind sie Teil einer kulturellen Minderheit, die sich durch eine eigene Sprache charakterisiert? Diese Frage war und ist bis heute auch unter den gehörlosen Menschen umstritten. Sie weist aber darauf hin, dass „Behinderung“ keine feste Kategorie ist, sondern Ergebnis von komplexen gesellschaftspolitischen Aushandlungsprozessen.
Vielsprachigkeit neu denken
Die UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen bezeichnet die Gebärdensprache als eigenständige Sprache und verlangt ihre Anerkennung und Unterstützung. Die Mehrheit der europäischen Staaten anerkennt heute die Gebärdensprache auf Verfassungs- oder Gesetzesebene. Die Schweiz hat zwar die UNO-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, aber die rechtliche Anerkennung der Gebärdensprache auf nationaler Ebene bisher abgelehnt. Sie hält damit weiterhin an einem Paradigma fest, das sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte und von einem engen Nexus zwischen der Lautsprachenkompetenz und nationaler Zugehörigkeit ausgeht. Menschen, die dieser Norm nicht entsprechen, drohen zwangsläufig ausgeschlossen zu werden. Dieser Problematik trägt der jüngste Entscheid des Bundesrates zu wenig Rechnung.
Sich für vergangenes Unrecht gegenüber Gehörlosen zu entschuldigen, ist wichtig, aber nicht genug. Vielmehr müssen Strukturen geschaffen werden, um Menschenrechtsverletzungen zukünftig zu verhindern. Die rechtliche Anerkennung der Gebärdensprache ist ein unabdingbares Mittel auf dem Weg dazu. Und weshalb sollte die Schweiz die sprachliche Vielvielfalt nicht mit Stolz anerkennen? Sie hat vier gesprochene Landessprachen, mehrere gesprochene Minderheitensprachen und dazu noch drei verschiedene Gebärdensprachen mit unterschiedlichen Dialekten. Zweifelsohne gab diese kulturelle Vielfalt, zu der auch die Gehörlosenkultur gehört, der Schweizer Demokratie immer wieder wichtige Impulse. Diese historischen Leistungen gilt es in ein angemessenes Licht zu rücken und zu anerkennen.