Im Vorfeld der WM wurden Befürchtungen laut, dass der Kreml den Anlass politisch ausschlachten werde. Ein Blick in die Geschichte zeigt jedoch, dass Diktatoren wie Demokraten immer wieder den Glanz des WM-Ruhms suchten – davon aber kaum je profitiert haben.

  • Christian Koller

    Christian Koller ist Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs und Titularprofessor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. Er lehrt und forscht zur Geschichte von Rassismus und Nationalismus, sozialen Bewegungen, Gewaltgeschichte, Erinnerungskulturen, Historischer Semantik und Sportgeschichte.

Das Dogma der Tren­nung von Sport und Politik ist so alt wie der moderne Sport selbst. Und genau so lange wird dagegen verstossen. Der Fuss­ball als popu­lärste Sportart macht hier keine Ausnahme. Die begrün­dete Sorge vor poli­ti­scher Verein­nah­mung der WM in Russ­land durch dessen Macht­haber ist allge­gen­wärtig. Umge­kehrt drohte der briti­sche Aussen­mi­nister auf dem Höhe­punkt der Skripal-Affäre mit einem Boykott der WM und verschie­dene Medien, auch in der Schweiz, erhoben ähnliche Forde­rungen. Der World Cup 2018 steht damit frei­lich in einer langen Tradi­tion. Dass der wich­tigste Wett­be­werb im Welt­fuss­ball nicht von Vereinen, sondern Natio­nal­mann­schaften ausge­spielt wird, die als Reprä­sen­tanten ganzer Länder gelten, macht ihn für poli­ti­sche Instru­men­ta­li­sie­rungs­ver­suche beson­ders anfällig – seit den Anfängen sind die Ehren­tri­bünen mit poli­ti­scher Promi­nenz bestückt. Die von Niklas Luhmann dem Fuss­ball zuge­schrie­bene Dialektik von Leich­tig­keit und Schwere, sein Chan­gieren zwischen viel­fäl­tigen gesell­schaft­li­chen Bezügen und einer spezi­fi­schen Eigen­ge­setz­lich­keit, setzen der poli­ti­schen Instru­men­ta­li­sier­bar­keit der WM aller­dings Grenzen. Erfolge lassen sich im Fuss­ball weniger gut planen als in anderen Sport­arten. Und selbst wo dies gelungen ist, war der poli­ti­sche Ertrag häufig bescheiden.

Poli­ti­scher Auftakt in den Dreissigerjahren

„D“ wie Duce: Das WM-Stadion in Florenz 1934; Quelle: wikipedia.org

Schon die erste WM hatte 1930 eine poli­ti­sche Konno­ta­tion: Sie fand zum hundert­jäh­rigen Jubi­läum der Unab­hän­gig­keit Uruguays im „Estadio Centen­ario“ von Monte­video statt. Deut­li­cher wurde die Vermi­schung von Fuss­ball und Politik vier Jahre später: Das Turnier in Italien wurde zu einer Insze­nie­rung des Faschismus. Dessen ewiger Herr­schafts­an­spruch mani­fes­tierte sich auch in neuen Stadien, die nicht mehr aus Eisen und Holz, sondern aus Beton gebaut waren. Einige trugen faschis­ti­sche Namen. Die Arena in Florenz wies die Form des Buch­sta­bens „D“ auf – D für Duce. Am Turnier selbst gab es zahl­reiche Unre­gel­mäs­sig­keiten: Die Gast­geber setzten vier ehema­lige argen­ti­ni­sche Natio­nal­spieler ein, die nicht spiel­be­rech­tigt waren. Verschie­dene skan­da­löse Schieds­rich­ter­ent­scheide zugunsten Italiens gaben eben­falls zu reden. Wie aktu­elle Forschungen zeigen, wurden diese Mani­pu­la­tionen nicht direkt von Musso­lini ange­ordnet, sondern gingen auf eine Allianz von Funk­tio­nären und Schieds­rich­tern zurück. Beim Endspiel sollte der „Duce“ dann auf der Tribüne dem FIFA-Präsidenten Jules Rimet demons­trativ die Sicht verde­cken und sich als grosser Sieger aufführen. Eine kommu­nis­ti­sche Gegen-WM in Paris erlangte wenig Beach­tung. Sie wurde stan­des­ge­mäss von der Sowjet­union gewonnen, die in der Zwischen­kriegs­zeit den „bürger­li­chen“ Sport­dach­ver­bänden fern­blieb und mit der Roten Sport­in­ter­na­tio­nale eine proletarisch-revolutionäre Welt­sport­be­we­gung aufzu­bauen versuchte.

Schweizer Fans beju­beln den Sieg über die „gross­deut­sche“ Equipe des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutsch­land (1938); Quelle: Archiv Schwei­ze­ri­scher Fussballverband

Auch die WM 1938 verlief nicht ohne poli­ti­sche Neben­töne. Das quali­fi­zierte Öster­reich wurde wenige Wochen vor Turnier­be­ginn von Deutsch­land annek­tiert und fiel aus. Statt­dessen lief in Paris eine „gross­deut­sche“ Elf auf, die auf Anord­nung von oben aus Spie­lern aus dem „Altreich“ und der „Ostmark“ kombi­niert war, welche ganz unter­schied­liche Spiel­stile pflegten. Das Team unterlag bereits in der Vorrunde über­ra­schend der Schweiz, die vom fran­zö­si­schen Publikum laut­stark unter­stützt wurde. Der Sieg gegen den grossen Nach­barn rief in der Schweiz eine Euphorie hervor, die weit über sport­liche Begeis­te­rung hinaus­ging. Sie wider­spie­gelte die Hete­ro­ge­nität der Geis­tigen Landes­ver­tei­di­gung und reichte von linkem Anti­fa­schismus bis zur Beschwö­rung alteid­ge­nös­si­scher Mythen. Am Schluss ging die Coupe Jules Rimet indessen aber­mals nach Italien, dessen Team zum Vier­tel­fi­nale gegen Frank­reich demons­trativ im faschis­ti­schen Schwarz ange­treten war.

Neben­schau­plätze des Kalten Krieges

Die System­kon­fron­ta­tion zwischen Ost und West wurde auch auf Aschen­bahnen, Eisfel­dern und in Turn­hallen ausge­tragen. Ein enormer Ressour­cen­ein­satz für Talent­sich­tung, Trai­nings­pro­gramme und Doping­ent­wick­lung führte von den 1950er bis in die 80er Jahre zu olym­pi­schen Medaillen am Fliess­band für die beiden Super­mächte wie auch für das „Sport­wun­der­land“ DDR. Immer wieder kam es vor, dass das eine oder andere Lager sport­liche Gross­an­lässe wegen poli­ti­scher Ereig­nisse boykot­tierte, so bei den Eishockey-Weltmeisterschaften 1957 und 1962, den Fussball-Europapokalwettbewerben 1968/69 und den Olym­pi­schen Sommer­spielen 1980 und 1984.

Da die USA und die Sowjet­union im Fuss­ball keine Super­mächte waren, tangierte der Zentral­kon­flikt des Kalten Krieges die Fussball-Weltmeisterschaften eher peri­pher und unge­plant. Das „Wunder von Bern“, der sensa­tio­nelle Sieg des Teams der jungen Bundes­re­pu­blik gegen die hoch favo­ri­sierten Ungarn im WM-Final 1954 ist oft als mentale Geburts­stunde des west­deut­schen Staates betrachtet worden. Die neuere Forschung hat diese Vorstel­lung indessen stark rela­ti­viert. Weniger bekannt sind die Ausschrei­tungen in Buda­pest nach der über­ra­schenden Final­nie­der­lage, die als Vorboten des Volks­auf­standes von 1956 gesehen werden können.

Welt­weis­ter­schaft und Partei­po­litik: WM-Broschüre der SPD 1974; Quelle: Schwei­ze­ri­sches Sozialarchiv

20 Jahre später errang die Bundes­re­pu­blik im eigenen Land den zweiten WM-Titel. Auf dem Weg dahin kam es zum ersten und einzigen Aufein­an­der­treffen mit der DDR. Deren Presse versuchte das Spiel, für das man mit einer Nieder­lage rech­nete, im Vorfeld auf möglichst kleinem Feuer zu kochen. Auf bundes­deut­scher Seite gab es Diskus­sionen darüber, wie der Gegner in der Bericht­erstat­tung denn über­haupt zu bezeichnen sei. Die Anzei­ge­tafel im Hamburger Volks­park­sta­dion folgte der offi­zi­ellen Sprach­re­ge­lung der FIFA: „DDR – BR Deutsch­land“, was für erstere einen diplo­ma­ti­schen Erfolg darstellte. Die 60’000 Zuschaue­rinnen und Zuschauer, darunter 1’500 von der Stasi in lang­wie­rigen Verfahren hand­ver­le­sene Gäste aus dem Osten, sahen eine lang­wei­lige Partie, bis Jürgen Spar­wasser – der dann 1988 „Repu­blik­flucht“ begehen sollte – in der 78. Minute den Sieg­treffer für die DDR erzielte. Die Staats- und Partei­füh­rung hielt sich in der Folge mit Trium­pha­lismus zurück, zu uner­wartet war der Erfolg gekommen, der auch kaum wieder­holbar schien.

Putsch­ge­ne­räle als Weltmeister

Stärker als der Ost-West-Konflikt poli­ti­sierten in jenen Jahren die Mili­tär­dik­ta­turen Latein­ame­rikas die Fussball-Weltmeisterschaften. Im Vorfeld der WM 1970 kam es zum „Fuss­ball­krieg“ zwischen Honduras und El Salvador. Zwischen den beiden von Gene­rälen regierten Nach­barn hatten sich seit Längerem Span­nungen aufge­baut, vor allem wegen der Migra­tion salva­do­ria­ni­scher Klein­bauern auf brach­lie­genden Gross­grund­be­sitz in Honduras. Unmit­telbar nach dem Sieg El Salva­dors im Quali­fi­ka­ti­ons­spiel gegen Honduras liessen beide Regie­rungen Truppen aufmar­schieren. Der fünf­tä­gige Krieg forderte über 3’000 Mensch­leben. Zeit­gleich inves­tierte das Mili­tär­re­gime Brasi­liens, das 1964 an die Macht gekommen war, Unsummen in den Gewinn eines dritten WM-Titels. Mili­tär­fach­leute wurden für die Entwick­lung der Trai­nings­wis­sen­schaften und ihre Anwen­dung abkom­man­diert. Der Ausbau der Über­tra­gungs­technik ermög­lichte es schliess­lich 40% der Bevöl­ke­rung, die Spiele in Mexiko live zu verfolgen. General Emílio Garras­tazu Médici kostete dann den dritten Titel, der Brasi­lien zur erfolg­reichsten Fuss­ball­na­tion der Welt machte, als Sinn­bild für die angeb­lich goldene Zukunft ausgiebig aus.

Protest gegen die WM 1978 in Argen­ti­nien; Quelle: sozialarchiv.ch

Im Vorfeld der nächsten WM gab der Putsch in Chile zu reden. Erneut spielte der Fuss­ball eine trau­rige Rolle: Das „Estadio Nacional“ in Sant­iago, Schau­platz des WM-Finales 1962, wurde 1973 temporär zum Gefangenen-, Folter- und Exeku­ti­ons­lager mit bis zu 7’000 Insassen. Als ein Kreuz­ver­gleich zwischen Chile und der Sowjet­union um den letzten zu verge­benden WM-Platz mit dem Segen der FIFA just in diesem Stadion ausge­tragen werden sollte, weigerten sich die Sowjets, zur Partie anzu­treten. Daraufhin gab es eine propa­gan­dis­ti­sche Insze­nie­rung, bei der der chile­ni­sche Captain ins leere Tor schoss und auf der Anzei­ge­tafel ein 1 : 0-Sieg verkündet wurde. Während der Endrunde kam es dann bei den Partien Chiles verschie­dent­lich zu Protestaktionen.

1978 fand die WM in Argen­ti­nien statt, wo seit zwei Jahren eine Mili­tär­junta regierte und folterte. Diese wollte mit dem Turnier der Welt das Bild eines „sauberen“ Landes vermit­teln. Beraten von der PR-Agentur Burson-Marsteller entfal­tete die Junta eine welt­weite Inserate-Offensive mit posi­tiven Infor­ma­tionen über Argen­ti­nien. Zudem inves­tierte sie 700 Millionen Dollar – 10% des Staats­bud­gets und etwa dreimal soviel wie das Gast­ge­ber­land der folgenden WM – in Stadien, Verkehrs- und Kommu­ni­ka­ti­ons­in­fra­struktur. Das River-Plate-Stadion in Buenos Aires, das neun Partien, inklu­sive das Finale, beher­bergte, wurde auf ein Fassungs­ver­mögen von 76’000 Zuschauern erwei­tert. Es lag in unmit­tel­barer Nähe zur „Escuela de Mecá­nica de la Armada“, wo während der Diktatur etwa 5’000 Menschen gefol­tert und ermordet wurden. Eine von Frank­reich ausge­hende Boykott­kam­pagne fand Reso­nanz in den Nieder­landen, Däne­mark, Italien, der Bundes­re­pu­blik, der Schweiz, den USA, Schweden, Finn­land, Mexiko, Spanien und Israel, bewirkte aber nichts. Jedoch reisten statt der erwar­teten 50’000 nur rund 7’000 auslän­di­sche Fans an die WM, so dass diese mit einem grossen Defizit endete und die Auslands­ver­schul­dung vermehrte.

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Schwarze Bänder als Zeichen des Protestes: Das Tor im WM-Finale 1978 in Argen­ti­nien; Quelle: pinterest.at

Sport­lich lief das Turnier für die Gene­räle rund, in einem Fall war aber offenbar ihr Eingreifen nötig: Im letzten Spiel der Zwischen­runde benö­tigte Argen­ti­nien gegen Peru einen Sieg mit mindes­tens vier Toren Unter­schied, um ins Endspiel einzu­ziehen. Der 6 : 0-Erfolg heizte Speku­la­tionen über ein abge­kar­tetes Spiel an. Angeb­lich hatte die argen­ti­ni­sche Junta Getrei­de­lie­fe­rungen nach Lima in Aussicht gestellt und General Jorge Rafael Videla der perua­ni­schen Mann­schaft vor dem Spiel einen Besuch abge­stattet. Auch fiel auf, dass der Trainer Perus einige Schlüs­sel­spieler auf der Ersatz­bank liess. Nach dem argen­ti­ni­schen Final­sieg verwei­gerten die unter­le­genen Nieder­länder sowie gerüch­te­weise der linke argen­ti­ni­sche Trainer César Luis Menotti den Gene­rälen den Hand­schlag. Ein weiteres Zeichen des Protests waren schwarze Bänder am unteren Ende der Torstangen. Platz­warte hatten sie im Gedenken an die vielen „verschwun­denen“ Menschen ange­bracht. Die FIFA-Spitze feierte dagegen zusammen mit den Gene­rälen das in ihren Augen gelun­gene Hochamt des Weltfussballs.

Lohnt sich die poli­ti­sche Instru­men­ta­li­sie­rung der WM?

Die WM-Titel Brasi­liens 1970 und Argen­ti­niens 1978 gaben den beiden Mili­tär­re­gimen nur kurz­fristig Auftrieb, in beiden Fällen erodierte die nega­tive Wirt­schafts­ent­wick­lung bald die Basis der Junta, was sich im Falle Argen­ti­niens durch den miss­ra­tenen Befrei­ungs­schlag mit der Beset­zung der Falkland-Inseln noch beschleu­nigte. Auch der Sieg des Iran in einer poli­tisch hoch­bri­santen Partie gegen die USA an der WM 1998 führte zwar zu ausge­las­senen Feiern in Teheran und irani­schen Exil-Communities, kaum aber zu verstärkten Sympa­thien für die Mullahs.

Auch demo­kra­ti­sche Regie­rungen vermochten vom WM-Ruhm kaum je zu profi­tieren. Dies zeigen die Beispiele der euro­päi­schen Teams, die im eigenen Land den WM-Titel errangen: Premier Harold Wilson brachte den engli­schen Triumph von 1966 mit seiner Regie­rung in Zusam­men­hang, in der Folge verlor seine Labour Party aber in Lokal­wahlen massiv Mandate und 1970 auch die Mehr­heit im Unter­haus. Nach der WM 1974 erlitt die SPD in fast allen Land­tags­wahlen Verluste und in der Bundes­tags­wahl 1976 hielt sich die sozi­al­li­be­rale Koali­tion nur knapp. Und in Frank­reich schnitten die regie­renden Sozia­listen in den Wahlen, die aller­dings erst vier Jahre nach der WM 1998 statt­fanden, schlecht ab, während der Rechts­extre­mist Jean-Marie Le Pen, der die multi­kul­tu­relle „Equipe Trico­lore“ als unfran­zö­sisch beschimpft hatte, erst­mals in die zweite Runde der Präsi­dent­schafts­wahlen einzog.

Die Luhmann’sche Charak­te­ri­sie­rung des Fuss­balls als zugleich von Leich­tig­keit und Schwere geprägtes Kultur­phä­nomen mani­fes­tiert sich damit auch in den Bezie­hungen zur Politik: Mag ein WM-Turnier auch noch so grosse Emotionen und gar natio­nale Euphorie hervor­rufen, einen dauer­haften poli­ti­schen Fuss­ab­druck hinter­lässt es kaum.